Afrutopia

Ein unangenehmer kühler Wind wehte vom Archipel, den Île du Frioul herüber. Nein, kalt war er, wie alle Ostwinde, egal ob an Ost- oder Nordsee oder eben auch hier am Mittelmeer. Im Sommer mochte er Linderung bringen, aber jetzt im November war auch die Afrika und Europa oder andersherum verbindende Badewanne und damit deren landmassige Umgebung unangenehm heruntergekühlt. Die Außentemperaturen gingen früh am Morgen um einiges unter die Zehn-Grad-Grenze, vor allem dann, wenn der Wind nach Norden drehte oder besser: von der Rhône herunter nach Marseille hineinfegte. Der Mistral kühlte auch bei hochsommerlichen Temperaturen allenfalls Touristen ab. Den fluchenden Kellnern blies er gar gefüllte Wasserflaschen von den Tabletts, und dieser Blasprotz vermochte durchaus, Schöße zu befeuchten, was manchem dezent geschminkten, zum Vergnügen angereisten Mündchen nicht unbedingt ein Juchzen, sondern eher ein derbes Merde entfahren ließ.

Doch selbst im August säße um diese Uhrzeit niemand in einem der Cafés um den Alten Hafen, auch nicht um sich abzukühlen von den alltäglichen rund vierzig Grad plus. Daß er im November früh um fünf das kleine Boot bestieg, das er hinter den beiden Türmen festgemacht hatte, die die Ein- oder Ausfahrt zum View Port bildeten, der seit Jahrzehnten schon fast nur noch der Freizeit diente und in dem, bis auf ein paar Fische für die drei Tische am Quai des Belges, bis auf Touristen keine Waren mehr angelandet wurden, lag auch nicht daran, daß er eine äußere Linderung suchte. Es ging ihm um eine innere. Nach Afrika aufzubrechen war er gewillt. Die einen kommen, die anderen fahren dahin. Auf dem Weg dorthin erhoffte er, endlich ein Zuhause zu finden. Und sei es im Wasser.

Er hatte sich von seinem letzten Geld einen passablen Kompaß gekauft, der ihm garantieren sollte, auf jeden Fall nicht in Marokko anzulanden. Der Kurs mußte ihm also genau den Süden, eher Südwest anzeigen, der ihn am europäischen Appendix Nord-Afrikas vorbeiführen sollte. Andererseits bliebe für diesen unglücklichen Fall immerhin die Möglichkeit, man könnte ihn aufgrund seines Äußeren für einen flüchtigen Einheimischen halten, etwa für ein Überbleibsel der Pied noirs, jener im 19. Jahrhundert nach Afrika geflüchteten Menschen, die größtenteils aus Armutsgründen der alten Welt den Rücken gekehrt hatten; nach heutigem Sprachgebrauch wären sie Wirtschaftsflüchtlinge genannt worden. Dann würde ihn die Außengrenze bewachende europäische Fremdenpolizei mit Sitz in Nordwestafrika möglicherweise nach Algerien abschieben. Dort herrschte zwar mittlerweile der Islam, aber die alten, einst vom Vater geschenkten Schekel, von denen er allerdings nicht wußte, ob sie noch Gültigkeit hatten, könnten einen Hinweis dafür geben, daß er nach Israel weiterverfrachtet würde. Dort wollte er zwar auch nicht hin, nicht nur, weil er den einstigen Exodus wegen ihres Glaubens Vertriebener nicht nachvollziehen wollte, aber dort wurden seit einiger Zeit schließlich auch Menschen in Frieden gelassen, die keinerlei Religion anhingen.

Doch er hatte ohnehin nicht die Absicht, anzulanden. Denn das hatte ihn die Erfahrung gelehrt: Es gibt kein Ankommen. Er wollte nichts als wegkommen. Und vielleicht oder hoffentlich von einem dieser schwarzen Löcher auf- oder weggesogen werden, die auch das All der Meere beherrschen. Der Weg sei das Ziel, schreibt die äußerst freie Übersetzung, die sich auch als Allgemeinplatz bezeichnen ließe, Konfuzius zu. Doch der hatte wohl, wenn überhaupt, damit gemeint, er habe seinen Willen auf den Weg gerichtet. Dào legen die Sinologen, die nicht mehr wie früher Coca Cola oder Bier auf den Weg bringen zu müssen scheinen, ohnehin anders aus: Ich kenne seinen Namen nicht, darum nenne ich es ‹Dào›. Mein Weg ist also nicht nur kein Ziel, sondern er ist obendrein unbenennbar, hat schlicht keinen Namen. Sein Weg wäre demnach oder allenfalls der nach Utopia, dem Nichtort.

Oder auch das Nichts.


Es ist der Beginn einer Geschichte, von dem ich noch nicht weiß, ob sie sich weiterschreibt, ob sie ein Ende haben wird.
 
Do, 07.11.2013 |  link | (6829) | 0 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Unterwegs



 

Kaltblüters Identitätssuche


Wie kam er nur hierher, in diese grabenähnliche Wüstenei? Schlaftrunken versuchte er, sich zu erinnern. Hatte man ihn dort hineingeworfen? War er als Abfallprodukt der Gesellschaft weggekippt worden? Sans papier gleich Müll?

Er spürte, daß ihm nicht nur kalt war, sondern ihn auch die Glieder schmerzten. Mühsam setzte er sich auf und schaute nach rechts und links. Lediglich am Rand dieser modernden Erdbrache war von Tau überzogenes Gras zu sehen. Er hatte keinerlei Ahnung, wo er sich befinden könnte. Einen Bachlauf sah er dann und daneben ein paar tote Bäume, etwas verrottendes Laub und ein alter verrosteter Pflug oder irgendein anderes bäuerliches Gerät geriet dann in den Vordergrund des Blickfeldes. So gut es ging mit den kältesteifen Gliedern drehte er sich nach hinten um. Ein paar Meter weiter stand ein Haus, vermutlich aus Holz, so etwas ähnliches wie eine Jagdhütte. Wieder in der Ausgangslage zurück, versuchte er zunächst auf die Knie zu kommen.

Als er nach ein paar angedeuteten Kniebeugen seine eins siebzig in eine aufrechte Position bekommen hatte, sah er zur Rechten die aufgehende Sonne. Sie würde ihm hoffentlich ein wenig Wärme geben. Aus dem Erdloch gestiegen ging er auf dem Feldweg ein paar Schritte. Er bemühte sich, sich zu erinnern. Noch immer hatte er keine genaue Vorstellung davon, wie er in diese Situation gekommen war. Als er seinen schwarzen ledernen, im Lauf der Jahre der Wanderschaft recht verschlissenen Rucksack im Graben liegen sah, war ihm klar, daß er wohl kaum überfallen worden sein konnte, denn Räuber hätten ihm den kaum gelassen. Doch als er ihn geöffnet und darin nach seinen Ausweispapieren gesucht hatte, war er sich nicht mehr sicher. Denn er fand sie nicht, wohin er auch griff zwischen Hemden, Unterhosen und einem Paar Espadrilles.

Automatisch tastete er die rechte Gesäßtasche seiner leicht feuchten Jeans ab. Dort bewahrte er grundsätzlich sein Papiergeld auf. Portemonnaies waren ihm unangenehm. Von seiner Kindheit angefangen hatten ihm vor allem weibliche Personen immer wieder Geldbörsen geschenkt. Nie hatte er sie benutzt. Die Scheine gehörten hinten an die rechte Backe, für das Kleingeld war Platz im vorgesehenen Münztäschchen. Und wann auch immer er zu früheren Zeiten aus gesellschaftlich erforderlichen Gründen eine Flanellhose trug, so griff er garantiert in ein Loch, das die Münzen meist nach kurzer Zeit hineingebohrt hatten.

Das Papiergeld war vorhanden. Er spürte es bereits, indem er von außen an die Tasche faßte, es war eine nahezu mechanische, prüfende Bewegung. Dann griff er hinein. Nichts schien zu fehlen. Zwar wußte er nie, wieviel Geld genau er besaß, doch die knapp fünfhundert Euro kamen wohl hin. Näherte sich der Betrag unter die Grenze von zweihundert Euro, fühlte er sich nicht gewappnet für den Alltag, und so holte er frisches Geld, immer fünfhundert Euro, früher waren es tausend Mark oder zweitausend Francs. Soviel eben, wie die Geldautomaten pro Tag herausgaben. Auch die hundertachtzig Schekel waren noch da. Sie waren zwar so gut wie nichts mehr wert, doch die hatte ihm mal sein Vater gegeben, kurz vor dessen Tod. Mit ihnen habe man nach der Landung in Israel ausreichend Geld, meinte der damals, um ein Taxi und etwas zu essen zu bezahlen. Die Scheine hielten die Erinnerung an seinen guten Alten wach. Sie sollten ihm alle Zeit Glück bringen.

Glück. Erinnerung. Er kam ins Grübeln. Das Geld war da. Nur die Papiere und die Erinnerung waren weg. Was war nur geschehen? Nochmals grub er einem Archäologen gleich geradezu forschend in seinem Rucksack. Wiederum ohne Erfolg. Als er aufschaute, sah er zunächst ein paar schlicht geformte schwarze Schuhe und, nachdem er den Kopf etwas angehoben hatte, darüber dunkelblaue Hosenbeine. Sein Blick ging weiter nach oben, und der kam an einer ebenso gefärbten Jacke an, die unschwer als zu einer Uniform gehörend zu erkennen war. Noch weiter nach oben schauend, kam er bei einem zwar freundlichen, aber dennoch skeptisch dreinschauenden Gesicht an, das zu einem etwa Mittvierziger gehörte. Der fragte ihn, was er hier mache so früh am Morgen, ob er Kaltblüter sei, der versuche, sein Blut in Fluß zu bringen. Nein, das stocke bereits seit langem, da sei nichts mehr in Bewegung zu bringen, auf der Suche nach seiner Identität sei er. Nach dieser wollte er ihn gerade fragen, entgegnete der Uniformierte.

Da zog er die Decke über die Schulter, drehte sich auf die vernachlässigte andere Einschlafseite und schlief sofort wieder hinein in die Wirklichkeit.
 
Di, 29.10.2013 |  link | (6531) | 2 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Unterwegs



 

Partielle Verbotseinigkeit

Ulfur Grai macht Urlaub. Einer der letzten der aussterbenden Rasse der solistischen Reisenden durch die Welt, der Literatur und der Geschichte beziehungsweise der sich daraus ergebenden Verbindungen hat sich, welch' Wunder, sein Zuhause als Ziel ausgesucht. Man könnte meinen, das sei, nicht nur aufgrund geringerer Etats, schließlich das Normale schlechthin. Mir zieht dabei die Kaninchenstallarchitektur, wie der gute Schwätzer Bazon Brock sie von den Siebzigern an mehrfach beim Namen genannt hat, vor Augen, der Austausch der Heimat mit der von Lloret de Mar oder ähnlichen mediterranen Bunkeranlagen bis in andalusische Gestade, in denen man sich genauso bewegen kann wie zuhause auch. Man spricht deutsh, verständlich wie Currywurst, die Geborgenheit liegt nahe. Wobei nicht außeracht gelassen sein möchte, daß sich das umgebungstechnisch beispielsweise in Frankreich nicht anders verhält: Le Grau du Roi, La Grande Motte.

Der Beschreiber des Fahrtenbuchs hat sich für seine aktuellen Reisen die sogenannte zweite Heimat ausgesucht, hier die Niederlande; davon mal abgesehen, daß Heimat sich ohnehin immer dort befindet, wo man Freunde findet, wie Christian Morgenstern es einmal benannt hat (oder war's ein anderer?). Bei einer seiner Bummeleien durch die Botanik des Landes kam ihm aus: «O, süße Freiheit und Humor der neuen Welt dort unten! Ach, Europa-EU-Schengenraum-Holland, dir gehen sie ab. Damit allein nicht genug. In den Scheveninger Dünen jagt ein privater Sicherheitsdienst mit Colt im Halfter Spaziergänger, die es einmal wagen sollten, einen der Schlagbäume mit Verbotsschild zu umgehen.»

Mir fällt diese Entwicklung seit längerer Zeit auf, und mir scheint, die erzieherischen Direktiven der europäischen Zuchtmeister tragen Frucht. Als ich nach Schleswig-Holstein kam und ich mich begeistert darüber äußerte, mich beinahe wie in Frankreich zu fühlen, da es fast keine Verbote zur Durchfahrt oder des Zugangs gab, da wurde ich vor allem von jüngeren Menschen für diese Auffassung vom einst außerparlamentarisch oppositionell geforderten freien Blick aufs, folglich den Zugang zum Mittelmeer erheblich gerügt. Die Begründung war, man müsse die Natur doch in Ruhe lassen. Verständnis bringe ich allerdings dafür auf, wenn ich sehe, welche Massen vor lauter Freizeitbedürfnis alles kaputtrampeln und einsauen, wie das Volk es gerne nennt aus seiner menschlichen Perspektive. In einem Leidartikel gab ich's mal zum besten: Überhaupt kann ich mich des Eindrucks nicht erwehren, die Erde bestünde nur noch aus Tourismus.

Offensichtlich geht es nicht anders als mit Ge- und Verboten. Viele können offenbar mit der sogenannten Freiheit nicht anders umgehen. Steckt in den Australiern die «Disziplin» des alten «Vaterlandes», wenn sie als einstige auf die Gefängnisinsel Deportierte auffordern: «Please walk on the grass! Smell the roses, hug the trees, talk to the birds and picnic on the lawns.» Können die geduldiger in der Schlange stehen und verhaltener, respektvoller abwarten als die von der Freizeit besoffenen vereinigten Europäer? Man schaue sich an, wie die sich in den eigens für sie errichteten Reservaten aufführen, am Elbstrand etwa oder an Münchens Isar, die zuvor noch extra entgradigt, aus ihrem Streckbett befreit wurde, um wenigstens den Schein des natürlichen Mäanderns wieder herzustellen. An den Calanques östlich von Marseille bis nach Ciotat scheint es doch auch zu funktionieren. Es ist wahrlich kein schöner Anblick, diesen Schritt des Ersehens einer wie ich auch nur tut, um mit eigenen Augen festgehalten zu haben, wie sich die Massen vergnügen, nicht nur in den Buchten selbst, in deren Höhlen seit je manch einer übersommert, auch oberhalb, auf den Kalkfelswegen, wo seit einiger Zeit wie anderswo auch die allgemeine Völkerwanderungsbewegung durch die Berge walzt und mountainbiked, uniformiert von der Outdoor-Industrie. Aber es gibt keine Verbotsschilder, jedenfalls habe ich keine gesehen, ausgenommen die, zu rauchen. Doch wer weiß, was das bedeutet dort in den völlig ausgedörrten Kalkfelsen am Mittelmeer, der wird vermutlich nicht einmal einen Warnhinweis benötigen. Mir strammem Raucher, der nie gemußt hat, wenn's nicht genehm war und der auch kein Schild benötigt, wenn er Gefahr für Leib und Seele anderer erkennt, fiel auf, daß es seltsamerweise (?) immer wieder die ansonsten so auf ihre Gesundheit bedachten Deutschen sind, die meinen, in Flammen aufgehen zu müssen. Es mag an der Vernunftauslegung liegen, nach der man es im Land der Gitanes und Gauloises ohnehin nicht so genau nähme mit der Unfreiheit, schließlich hält sich dort auch niemand an durchzogene Linien auf der Straße und gedenkt beim Abbiegen auch keinen Blinker zu betätigen. Dabei gilt doch nicht nur im Land des gesunden Kadavergehorsams längst Rauchverbot nahezu allerorten. Irgendwo muß man anscheinend Dürfen dürfen. Aber ich will nicht ungerecht sein, vermutlich befinden sich auch ein paar Niederländer darunter. Beim Rabauken haben die partiell nämlich auch ihre Qualitäten.
 
Do, 23.08.2012 |  link | (2168) | 4 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Unterwegs



 

Ein Dorf in Aufruhr. Feuerwehr enteignet.

Es kann nicht mehr gelöscht werden. Es sei denn, den Kaffeedurst.


Des Dorfes Frauen haben, da hat sich wohl etwas von den matriarchalischen Umtrieben der Antike oder anderer hinterwäldlerischer Lebensweisen aus dem Busch herangeschlichen, sich der Männerlust bemächtigt.


Flohmarkt ist in der Gemeinde mit ihren zugestandenermaßen nicht einmal zweihundert Seelen. Diese fast ostseeischen aber sind, trotz mediteraner Temperaturen, die buschigen rücken erst heute heimlich in der Dunkelheit oder morgen heran, lebendig wie eben am Mittelmeer. Man schlurft durchs Kaff. Hier hinein kommt ohnehin kein Fremder, da er befürchten muß, mit seiner Ruckikawazacki am Rand des Dörfchens im Acker zu landen. Nur Esoteriker wie ich sind in der Lage, sich entenreifenläufig da hinauszupendeln. Der Busfhrer beherrscht das zwar auch noch. Aber der kommt und fährt nur, wenn ein bißchen Schule stattfindet. Und in Schleswig-Holstein sind immer irgendwie Ferien. Das ist fast wie in Frankreich, weshalb ich mich hier auch so wohlfühle, auch wenn ich zur Zeit immer noch behindert bin, weil der Fuß nicht so läuft, wie ich gerne möchte, und auch das kreisunläufige Gehirn nicht, das vermutlich lieber am Alten Hafen die Beine baumeln lassen würde. Aber das Wetter schafft eine ähnliche Atmosphäre.

Auch die Jüngeren haben Kuchen und Torte gebacken, ein paar von Ihnen umtanzen allerdings lieber kultisch die Dorflinde mit dem Findling, auf dem (hier leider nicht, weil der Markt nunmal alles im Griff hat) zu lesen ist, seit wievielen Jahrhunderten der Ort bereits existiert.


Wir sind so etwas wie Mittelalter. Das sind auch diejenigen, die über das Privileg verfügen, es eben zu können, zumindest das Backen. Eigentlich wollte ich zum sonntäglich geöffneten Bäcker mit Anschluß an den Geflügelhof und eigener Herstellung sensationeller geräucherter Leberwurst fahren. Doch da stand ich vor Madame Lucette, die doch tatsächlich ihren eigenen Kuchen kaufte. Das war mir Qualitätswertung genug, nun bin ich versorgt. Ich fürchte nur, nicht allzulange.

Dann muß ich eben wieder los. Ein Anlaß wird sich finden, etwa der eines Briefes. Den dafür erforderlichen Standpunkt gibt es nämlich auch in der Dorfmitte, gleich neben der Feuerwehr, die mich sonnabends immer pünktlich um zwölf Uhr per Sirene aus meinen antiken Visionen weckt, die ich von Charylla und Charibdis habe. Hier hat die Post nämlich noch nicht modern gebaut, wenn andere das auch versucht haben.



Hier gibt es noch einen Briefkasten, und auch die DSL-Leitung ist von einer Geschwindigkeit, vergleichbar mit der Zeit vor der Revolution, als alle königlichen Botschaften per Pferd tranportiert wurden. Deshalb suchen die vermutlich immer noch die Revolutionskate, in der ich Türmer bin. Und wie weiland Rilke lange Briefe schreibe.


 
So, 19.08.2012 |  link | (2040) | 0 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Unterwegs



 

Unterwegs auf dem Weg zum eben mal Wegsein.

Mit großem Dank für die von mir wegen sich einstellender Assoziationen leicht taillierte Photo-graphie von iFancheZ (CC). Die alte Leichtfüßigkeit ist dahin. — Merci beaucoup pour l’magnefique image !










Il est aisé d'aller à pied quand on tient son cheval (deux cheveaux) par la bride.




Zwar führt mich mein Spaziergang nicht nur ins Nachbardorf, auch nicht nach Austerlitz, sondern weiter weg ins Außerhalb der virtuellen Welt., und das nicht auf wackligem Geläuf. Die Ente pumpt und trägt mich ja wieder. Deshalb gebe ich für ein paar Tage Ruhe hier.
 
Sa, 14.07.2012 |  link | (2585) | 2 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Unterwegs



 

Spaziergang von Champ de Foulage nach Pokensé

Auf den Seiten von Blogger.de wird viel von großen Reisen in die weite Welt berichtet oder erzählt. Manchmal finden kleine Erzählungen Erwähnung, die große, großartige Abenteuer sind. Ich denke dabei zum Beispiel an das Buch, für das der hinkende Bote auf seinem Weg nach Sizilien bedauerlicherweise keine Zeit fand: Der Spaziergang von Rostock nach Syrakus von F. C. Delius. Es gehört zu denen der letzten Jahre, die mir beim Lesen mit am meisten Freude gebracht haben, bei weitem nicht nur, weil er damit Seumes Wanderweg aus neuer Perspektive ergänzt hat, sondern auch weil er ein aus westlicher Sicht ungeahntes Abenteuer erzählte. Beschwerlich war der eine wie der andere Weg, Erkenntnis und Lust förderten sie gleichermaßen.

Lust, ja Sucht haben auch mich bewogen, das Abenteuer eines Spaziergangs einzugehen, nach Pokensé. 1230 steht auf dem Grabstein am Eingang dieses Ortes, der für seine vielen herumhüpfenden Froschschenkel bekannt ist, die aber außer mir niemand ißt, weil der Bauer un sin Fru solche Sauereien nicht kennen, kennen wollen, schließlich sind sie tierlieb. Seit August vergangenen Jahres war es mir aus gesundheitlichen, besser krankheitlichen Gründen kaum mehr möglich, eine Strecke zu Fuß zu gehen, die über hundert Meter hinausging. Zur Ente oder zu einem anderen, zu meiner Mobilität bereitstehenden Fahrzeug schaffte ich es nur im Ruhegang, fast im Leerlauf. So sollte es auch gestern sein: einsteigen, um im direkt anschließenden Nachbarort zum Hof meiner Gelüste zu gelangen: Erdbeeren. Seit das Beet vor meiner Sommerresidenz wegen Überfüllung eingeebnet werden mußte


verlangt mich nach den süchtig machenden von Berodts. Sie machen mich wilder als jedes Weibes Mund. Alles in mir schreit nach Penetration des meinen. Essen ist bekanntlich der Sex des Alters.

Der Deux Chevaux, eigentlich für den Transport von Obst sowie dessen im vergorenen Zustand zu ziemlicher Spiritualität verhelfenden Saft konstruiert, verweigerten sich meinem begierlichen Ansinnen. Auch dessen Batterie ist endgültig leer, seit einiger Zeit wird sie während der Fahrt nicht mehr geladen. Auch ihr persönlicher Autoschmied ist seit einiger Zeit gehbehindert, er allerdings, weil er allzu heftig Fußsport getrieben hat, und kann sie deshalb nicht Huckepack nehmen, um ihr in seiner Werkstatt das Funktionieren wieder beizubringen. Eine lange Weile dachte ich darüber nach, wie ich wohl trotzdem an den Stoff kommen könnte, ohne den ich sicherlich in extreme Halluzinationen des Entzugs fallen würde. Also riß ich mich von etwaigen Lösungstheorien los und setzte die Praxis ingang. Ich spazierte los. Wenn es nicht mehr ging, würde ich mich einfach mitten auf die Dörpstraat legen und mich von hilfsbereiten Menschen abtransportieren lassen.


Es kam dazu, wenn auch erst kurz vorm noch dreihundert Meter entfernten Ziel. Vier Versuche, als Anhalter weiterzukommen, waren fehlgeschlagen. Am frühen Nachmittag eines Sommersonnabends kommt es mir in Holstein beinahe vor wie in der Gegend nördlich von Béziers, wo das faule Pack des Südens auch an Werktagen nur noch unter Früchten liegen und dösen will. Die vier jungen Pärchen in ihren bis ins tiefste energetische Innenleben hochpolierten Karossen ignorierten den einsam vor sich hintippelnden Wanderer mit hilfesuchend hochgerecktem Daumen. Die zwei am Zaun stehenden und tratschenden mitteljungen Weiber hielten es nicht einmal für nötig, dem grundsätzlich alle grüßenden Vorbeihumpelnden zuzunicken. Die Sehnsuchtsstation fast in Sichtweite, noch fünfhundert Schritte eines normal fürbaß Schreitenden nach meinen zweitausend vorsichtig gesetzten verhieß das Schild, nur das Siechenheim mußte ich noch überwindend passieren, wurde ein noch noch vom Werk her hochglänzendes Automobil der Art abgebremst, mit der ein sozialdemokratischer Bundesrepublikkanzler die Wende der Markentreue im offensichtlich ebenfalls von ihm dirigierten Fahrzeugpark einleutete und neue Glanzlichter setzte. Heraus stieg ein wochenendlich adrett betuchter Mann, Sohn eines der verbliebenen drei Bauern des Dorfes, mit dem ich lange nicht geplaudert hatte.

Mit ihm war ich vor einigen Jahren mal unterwegs, um Schweine nach Nordfriesland zu transportieren und von anderswo im Schleswiger Land welche abzuholen, um die dann nach Holstein zu bringen, auf daß sie dann erschossen in einem Supermarkt zur endgültigen Ruhe kämen. Sogar einen firmeneigenen Arbeitsanzug hatte er für mich. In dem saß ich neben dem Klein-fuhrunternehmer auf dem Beifahrersitz des Tiertransporters, als wir auf der Autobahn vom Fahrzeug einer Institution ausgebremst wurden, von der ich bis dahin noch nicht einmal gehört hatte. BAG war darauf zu lesen, Bundesamt für Güterverkehr. Aber der uniformierte Herr vom Lastkraftwagenbundesprüfungsamt kontrollierte mich nicht einmal. Er lächelte lediglich freundlich. Es ist schon schade, da begibt man sich ins Abenteuer, und man ist nicht einmal verdächtig, ein illegal Eingereister zu sein. Offensichtlich nicht einmal Schwarzarbeit stand mir ins Gesicht geschrieben. Aber vielleicht hatte der Lebenskenner ja auf meine Hände geschaut, denen er ansah, daß die nie und nimmer arbeitend einer Sau den Speck über die Haut gezogen hätten. Das Vortäuschen von Arbeit kann arg langweilig sein. Mein für mich Anhaltender hatte mich bereits einmal gerettet. Angesichts der ganzen hochsommerlichen Schweinerei und deren Ausdünstungen war mein Blutkreislauf aus dem Rhythmus geraten und mein Körper zu Boden. Da zog er den in den Schatten uralter Apfelbäume, haute mir zwei-, dreimal ordentlich rechts und links eine rein, worauf ich relativ rasch wieder fähig war, anderen bei der Arbeit zuzuschauen.

Im ehemaligen Pferdestall wird nicht mehr geäppelt, wie wir Buchhandelsbesucher unser gemütliches Beisammensein bei vergorenem Apfelsaft nennen, einem Tun, das wir seit Jahrzehnten pflegen, wenn wir nach Bankfurt und sein Sachenhausen kommen. Wo früher Gäule wieherten, tschilpen heute nur noch die Schwalben. Rund zwanzig Paare siedeln und vermehren sich fröhlich quiekend an dem Ort, in dem's auch mal Hausschweinereien gab, der in der Neuzeit einem Dorfkrug gleichkommt, auch wenn er eigentlich dem Verkauf dient.


Ab Mai geht's los mit Spargel, nach Johannis schickt Bauer Uwe dann seine seit ewigen Zeiten bei ihm wirkenden und wohnenden Polen auf die Erdbeerfelder, für solche wie mich, die zu faul sind zum Selberpflücken. Gestern waren's auch noch Himbeeren. Auch für die bin ich bereit, lange Wege zu gehen. Von Lyon aus bin ich einige Male einem Erzeuger in die heimatliche Ardèche nachgereist, nachdem ich an seinem zwischen Saône und Rhône gelegenen Wochenmarktplatz schmecken durfte, um wieviel gehaltvoller und feiner die waren als die der anderen Händler, deren Plätze sich dort befanden, wo die Mehrheit hinlief und freiwillig auch noch mehr dafür bezahlte. Eine Schale hatte ich gestern bereits während unseres Gesprächs am Tisch des temporären Dorfkrugs aufgefuttert. Letzterer war auch das Hauptthema der Runde, neben dem Tratsch, den man früher innerhalb einer solchen Institution erfuhr. Auch die Dorflebenserfahrenen konnten mir keine nachvollziehbaren Gründen für das Wirtschaftssterben nennen, das die kleinen Gemeinden so schweigsam macht und das mich mehr noch dauert, seit ich Großstädter auch Domizil auf dem Land genommen habe.

Eine gute Tat tat ich dann noch, wenn auch ohne das eventuelle Ziel einer Vorteilnahme, als ich von den Erdbeeren schwärmte, derentwegen ich meinen langen, abenteuerlichen und beschwerlichen Spaziergang nach Pokensé angetreten war. Das müsse ihm runtergehen wie Öl, meinte mein mich aufs neue gerettet habender Chauffeur zum neben ihm sitzenden Früchteerzeuger, der beweist, daß es auch ohne BioÖko geht, beispielsweise mit ganz vielen Pferdeäppeln, die es in der Gegend zuhauf gibt, weil die Landwirtschaft zugunsten von aus Hamburg anfahrenden Freizeitreitern in den immer beleibter werdenden Speckgürtel zurücktritt, und auch ohne viel Gespritze nach dem monsantoischen Prinzip. Eine recht lange Pause des Nachdenkens war den Bauern überkommen, der bekannt ist für seine wenigen Worte. Behutsam hatte er sie sich wohl zurechtgelegt, als sie dann in seiner brummeligen Art, als ob er aus Nordfriesland stammte, dabei kommt meines Wissens seine Frau von dort, fast ausstieß: Ja, das könne er gar nicht oft genug hören, es würde ohnehin so gut wie nie gesagt, was endlich mal gesagt worden war, genau deshalb mache er das, allein das mache ihm Freude, zu hören, wie gut es anderen dabei ginge. Da mußte ich gleich noch ein Schälchen Himbeeren zukaufen. Als Wegzehrung.


Denn der Schweinetransportunternehmer wollte mir Alles- und Vielfresser noch zeigen, wo im winzigen und glücklicherweise versteckten, abseits der Wege von freizeitsüchtig in die Unfreiheit anderer rasenden Motorradler gelegenen Dorf meiner bald auch nicht mehr ganz so neuen Ansiedlung bis vor rund fünfundzwanzig Jahren noch ein Kramer alles mögliche, wahrlich Eßbare aus der naheliegenden Region verhökerte. Daß sich zuvor in meiner Revolutionskate unten in der Wohnung rechts ein Krug befand, dort, wo jetzt ein Emeritus der Germanistik aus Kiel beherbergt ist, den er nicht brechen kann, weil er ihn schon aus Gründen eventuell aufkommenden spirituellen Unwohlseins nicht anrührt, das war mir bekannt. Gäbe es ihn noch, ich müßte keine abenteuerlichen Reisen mehr antreten, der Krug ginge nie zu Bruch, deren Betreiber könnten wahrscheinlich allein von mir, von meinen Eß- und Trink- sowie Tratschgelüsten leben. Nicht nur für den Notfall habe ich zwar die öfter mal einen auf ihrer Terrasse einschenkende Madame Lucette. Das ist zwar immer kostenlos, aber ein Stammtisch mit Dorfneuigkeiten ist das nunmal trotzdem nicht.


 
So, 01.07.2012 |  link | (3242) | 9 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Unterwegs



 

Mikrokosmisches Frühjahrslamento

Niemand, aber auch niemand, meinte mein, gleich meinem Anwalt, Haus- oder Zahnarzt persönlicher Autoschmied, als ich meine Voiture à Deux Chevaux, die neunundzwanzig-spännige, mit vier gemütlichen Gartenstühlen (im)möblierte Ente abholte, die er von einem Verein geprüfte und somit gesetzesgerecht wieder zurechtgedengelt und hin- und hergerichtet hatte, auch weil so ein Viech im Norden sich gegen die permanent nässende und obendrein versalzte, weil durch die paar Zentimeter winterlichen Flöckchen völlig verängstigte Gesellschaft sich mit Rostblasen wehrt und wir im Laufe unseres Gesprächs vom hundertsten der immer neuen Abgas- und sonstigen Vorschriften kommend in der zunehmend verdrossenen Welt angelangt waren, niemand, sagte er fast wütend, aber auch niemand in seinem Bekannten- und Freundeskreis unterläge den Irrtümern, die über die Politiker ständig als das einzig richtige Leben vorgeschrieben würden.

Ja, manchmal schreibe ich gerne nahezu atemlos lange Sätze auf, so, wie sie mir manchmal schier punktlos und komatös für andere ins Gehirn dringen, die ich notieren darf, weil mir kein Verein zur Reduktion von Denkluft vorzuschreiben hat, in welcher Form ich über kurz oder lang meinen Ärger in den Äther lasse.

Alle wüßten, sprach mein Entenrichter, daß Vorschriften und Gesetze vorange- und weiterbetrieben würden, die durch Untersuchungen und Gutachten und was sonst noch alles längst widerlegt seien. Er, der sinnvollen, besser noch, vernünftigen Maßnahmen zur Rettung der Welt wahrlich aufgeschlossen gegenüberstünde, sowohl im ökonomischen, was schließlich nicht alleine raffgieriges oder turbokapitalisches Vorgehen bedeute, sondern in seinen Vorstellungen Erzeugung von Produkten und deren Handel zur Verbesserung von Lebensqualität, aber mehr noch im ökologischen Sinn, denn auch er wisse, daß er, wie es fast sprichwörtlich heiße, obschon es in Vergessenheit zu geraten scheine, die Erde von seinen Kindern lediglich geborgt bekommen habe, auf daß er sie, weshalb er stets bemüht sei, sie auch oder gerade in seinem Mikrokosmos zu erhalten, sehe nicht ein, daß die global alles Kleine kaputtherrschende Groß- oder Sonstwasindustrie ihren von Politikern gesegneten Dreck ungehindert in noch jedes winzige Mittel zum Leben hineinblasen darf, während er bemüht sei, Altes im Kleinen zu bewahren und er damit auch noch dem übermäßigen Verbrauch von Rohstoffen vorbeuge, der etwa durch die Produktion von kurzlebigen Maschinen entstünde, die die Menschen nicht bräuchten, aber dennoch von ihnen gekauft würden, weil sie sich, aus welchem Grunde auch immer, wohler fühlten im kreditierten Schein einer höfisch anmutenden Karosse mit mehrhundrig Gäulen davor und mit ihr dann auf den Hof derer führen, die alles zu geizgeilen Knickerpreisen verhökerten, auch die Botschaft, nur billig sei das Leben zu genießen.

Genau so hat er's nicht gesagt. Aber so ähnlich atemlos und wütend und in zwei, drei Sätzen gesprochen ist mir's im Gedächtnis geblieben, dem ich sicherlich unwillentlich noch ein wenig beigefügt habe. Worum ging's eigentlich? Ach ja, niemand in seinem Freundes- und Bekanntenkreis glaube an die Weltheilsoffenbarungen nahezu aller Politiker mit deren Regulierungen, die alles und alle kleinmachten, nur nicht die großen Alleskaputtmacher, irgendetwas mit Feinstaub- und sonstigen Ausstößen der Kleinen, die die Umwelt belasteten, es aber längst nachgewiesen sei, daß nicht sie, sondern es die Großen, die dicken Gewinnbrummer des Globalen es seien, die den Dreck produzierten.

Und dennoch, wagte ich anzumerken, würden nahezu alle immer wieder denjenigen die Mehrheiten verschaffen, die sie kaputt machten. Warum, lud ich die Frage nach, weshalb und wieso komme eigentlich kaum jemand auf die Idee, kaputtzumachen, was sie kaputt mache? Aber ich Mikroko(s)miker, resignierte ich schließlich, verstünde von all dem nichts. Mein hühnerhaftes Dasein sei von schicksalhaftem, petitbourgoisem Wutbürgerdasein gekennzeichnet. Aber alles egal. Hauptsache, die Ente flöge wieder. Schließlich nahe der Frühling. Seine gleichwohl noch unrasierten vorbotischen Bande seien bereits eingetroffen: die Müdigkeit, die komplizierte Gedankengänge in klaren Sätzen einfach nicht zulasse.

Hier mal die legendäre Münchner Ente, die einmal ein Fiat Panda werden sollte und mittlerweile von keinem Rost angegriffen auf einer mittelmeerischen Insel herumflattert.

 
Mi, 14.03.2012 |  link | (1643) | 2 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Unterwegs



 

Grenzüberschreitung

Ich halte zweihundert Meter nach dem Grenzübertritt an. Direkt an der ersten Rechtsbiegung liegt links eine kleine Bäckerei mit Café. Dort nehme ich immer meinen ersten französischen. Er schmeckt zwar nicht wie solcher, sondern eher wie gefilterte deutsche Kaufhausmusik. Aber man hat sich eben angepaßt. Und ich mich auch. Und ich — oui, cher Léo Ferré, ich paraphrasiere Beethoven und dich gewalttätig, ... es muß sein! — fühle mich verpflichtet, als den ersten Schritt ins Land immer den der Konsumtion zu beschreiten. Hier ging sie schließlich los, die Einführung ins Paradies Kaufrausch. In die andere Richtung fahre ich in der Regel, soweit die Liter reichen. Aber ich bin nunmal offenbar der größte Patriot, den dieses Land jemals hatte. Vermutlich will man mir deshalb die dreifarbige Rosette so schnell verpassen. Wenn’s denn überhaupt stimmt. Oder, denke ich — in Blickrichtung meiner bezaubernden Gattin — mal so: Wenn sie mir die Einbürgerung mittlerweile nicht bereits wieder entzogen haben wegen Mißachtung der staatsbürgerlichen Pflicht der Paßabholung. Es ist ja wohl auch noch nicht geklärt. Weiß man’s? Hütern öffentlicher Aufgaben ist solches grundsätzlich zuzutrauen. In jedem Land. Wir finden sofort einen Parkplatz. Eine halbe Stunde früher hätte es ungünstiger ausgesehen. Denn da wuselt in Frankreich nunmal alles herum, um das Baguette zum Mittagessen zu kaufen. Und auch, wenn nur ein paar Meter rückwärts im pfälzischen Wirtshaus die Leute vor ihren putzeimergroßen Biergläsern sitzen und zum Schwartemagen Roggenkörner vertilgen — hier ißt man bereits das wunderbare Stangenweißbrot, das es dreimal täglich frisch gibt. Es geht mir wie immer — ich atme durch. Was eine solche politische Grenze dann letztlich doch an physischer Befreiung zu verursachen vermag. Ich lehne meinen glücklichen Kopf an die zarte Schulter neben mir. Sie kommt mir augenblicklich entgegen und erweitert sich zu einer sanften Halsbeuge.

Sie hüpft lachend aus der Ente, die jetzt wieder Döschwoh heißen darf. Sie springt hinüber ins Café. Ich schließe ab. Aus Gewohnheit. Auch wenn es an diesem Fahrzeug eigentlich nichts abzuschließen gibt. Der Vermietleiher öffnet es mit dem Fingernagel. Zweihundert Meter weiter nach hinten wird man dennoch bestraft, wenn man nicht abschließt. Noch ein paar Stunden, und ich werde es mir ebenso wieder abgewöhnt haben wie die andauernde Blinkerei beim Spurwechsel. Obwohl sich auch hierbei bereits der preußische Einfluß in Europa bemerkbar macht. Wie beim TÜV. Auch wenn er hier nicht «Technischer Überwachungs Verein» heißt, sondern weitaus eleganter Contrôle technique, so ist es doch dieselbe Tortur für Fahrzeug wie Besitzer. Auf diese Weise hat Frankreich etwa seit 1995 in erheblichem Maße den Verkauf von Neuwagen vorangetrieben. Die offizielle Begründung war die Herstellung der Sicherheit im Straßenverkehr. Jeder konnte seine verrottete, einstig fahrfähige Laube in der Tasche zum Händler tragen und hat, je nach Qualität der den Rost zusammenhaltenden Schrauben, einige hundert bis zu einigen tausend Francs dafür bekommen. Mit dem allerdings unerfreulichen Ergebnis, daß sehr viele Franzosen auf Golf und Mercedes umgestiegen sind. Auf der Îl de Ré habe ich den ersten Mercedes 500 mit Dieselmotor gesehen. Hier wird, wenn es irgend geht, Gazole gefahren. Es ist immer noch weitaus günstiger. Wie lange noch? Und seit Jahren beginnt auch dieser Begriff sich auf die Preistafeln der Tankstellen zurückzuziehen. Auf den Plätzen der Gebrauchtwagenhändler steht alles voll mit den Schildern auf den Autos — Diesel. Was soll’s. Der 2 CV aus Regensburg und bald aus Marseille fährt ohnehin Super. Sans plomp. Das hat schon so manchen Zeitgenossen in den Unglauben gestoßen. Und keiner dieser vom Glauben Abfallenden denkt daran, daß Aral in den sechziger Jahren mit der Bezeichnung bleifrei geworben hat. Auch nicht die Älteren. Sie lassen sich gerne den aber auch wirklich allerältesten Hut als neueste Kreation verkaufen. Ich trotte in Richtung meiner bereits im Café sitzenden Geliebten. Vorsichtshalber nehme ich das feine rucksäckige Lederstück mit. Es könnte ja einer vorbeikommen, der weiß, daß man in Frankreich für einen 2 CV nicht einmal eine Nagelfeile benötigte. Außerdem ist das Portable darin. Und das wurde jetzt benötigt. Dem alten Leben mußte abtelephoniert werden.

Bonjour, grüße ich landsmännisch klar.

Bonjour Monsieur, lautet freundlich die Entgegnung.

Ich fühle mich geschmeichelt, in meiner Mutter Sprache angesprochen zu werden. Also unterlasse ich es tunlichst, irgendetwas zu antworten. Ich will mich nicht sofort als unkultivierter, unter Einfluß der Bocherie Aufgewachsener zu erkennen geben. Denn nun bin ich, darf ich sein. Ich bin endlich angekommen auf der anderen Seite der Grenze.


Hier fuhren Nebenstreckenliebhaber früher mit dem Automobil durch.
 
Sa, 24.12.2011 |  link | (2781) | 6 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Unterwegs



 

Energieromantische Pendlereien

Immer wieder offenbart mir meine offensichtlich unerschöpfliche Ausgrabungsstätte, mein Archiv, Sachverhalte, nach denen ich garantiert nicht gesucht habe. Geforscht hatte ich nach Unterlagen zu Frau Braggelmanns Pendlerinnendasein. Das Landei seit Geburt mußte sich nämlich schon wieder ein neues Automobil zulegen, weil der öffentliche Nahverkehr auf ihre Dienst- und sonstigen Versorgungszeiten, schon gar nicht auf die Bedürfnisse der unmittelbaren Verwandtschaft näher einzugehen gedenkt. Dabei stieß ich unfreiwillig auf die Äußerung einer Dame, die ich sehr frei nach Kandinsky einordne: «Deswegen ist das [...] Grün im Farbenreich das, was im Menschenreich die sogenannte Bourgeoisie ist; es ist ein unbewegliches, mit sich zufriedenes, nach allen Richtungen beschränktes Element.»
«Viele Pendler werden am Mittwoch eine Flasche Sekt aus dem Keller geholt haben. Denn der Bundesfinanzhof hat entschieden: Es ist verfassungswidrig, dass nur wer mehr als 20 Kilometer zur Arbeit fährt, 30 Cent pro Kilometer von der Steuer absetzen darf. Diese Regelung galt seit Januar 2007.

Doch die Häuslebauer, die auf der Suche nach billigem Bauland rücksichtslos die Landschaft zersiedeln, sollten lieber nüchtern bleiben. Zwar ist es wahrscheinlich, dass auch das Bundesverfassungsgericht das schlampig formulierte Gesetz Ende des Jahres zurückweist. Längerfristig aber wird es immer teurer werden, weit draußen im Grünen zu wohnen. Und das ist gut so. Schließlich ist nicht einzusehen, dass Leute im Vorteil sind, die ihre Mitmenschen tagtäglich mit Autoabgasen eindieseln.»
Was ist daraus eigentlich geworden? Denn:

«Und das ist gut so», ließ Annette Jensen in ihrem Taz-Sachkommentar vom 24. Januar 2008 die Leser noch wissen. Fast möchte unsereiner meinen, die Regierendenliebe habe dabei ein wenig mitformuliert, weil der sich einst Enthüllende dringend und gerne noch ein paar Provinzler hätte, die Berlin steuerlich aufforsten helfen, auf daß das Riesenloch nicht am Ende gar ein grünes, schwarzes oder beides werde?

Auf jeden Fall hat da mal wieder jemand geschrieben, der oben auf dem Berliner Grünen Ausguck hockt und übers Land blinzelt und nur runtersteigt, um allenfalls mal rauszufahren nach Lübars zum Familienkaffeekochen.

Es war und ist unterm Strich, teilweise seit Jahrzehnten, auf jeden Fall schon seit langem teurer, auf dem Land zu leben. Die miserablen, teilweise nicht (mehr) vorhandenen Infrastrukturen gingen immer in irgendeiner Form ans Portemonnaie der Landbewohner. Eben deshalb ist der größte Teil der Landbevölkerung gezwungen, das Auto zu benutzen, da in vielen Landstrichen Bus und Bahn so gut wie nicht mehr unterwegs sind, viele gar nicht wegkommen aus den Dörfern, geschweige denn wieder nach Hause.

Draufgezahlt hat der Landler (in den strukturschwachen Gebieten) ohnehin immer, jedenfalls in den letzten zwanzig Jahren. Es sei denn, er war, im Lebensmittelbereich, Selbstversorger. Doch den gibt's ja auch kaum noch. Die klassischen Bauernhöfe sind EUroglobalistisch plattgemacht worden; begleitet von heftigem deutschen Regierungsnicken und bücklinghaftem, vorauseilendem Gehorsam gegenüber der Lebensmittelindustrie. Und die Reihenhäusler bauen längst keine Keller mehr, sie lagern ihre preisgünstigen Nullachtfuffzehnkartoffeln aus Chile oder China bei den Großbilligheimern ein und holen sie bei Bedarf quasi gegen (letztlich teures) Korkengeld ab. Also zahlen alle gezwungenermaßen die Preise, die von den in ländlichen Regionen angesiedelten sogenannten Discountern gefordert werden. Wobei die oftmals über den städtischen liegen, zumindest im Bereich der sonstigen Verbrauchsgüter. Deshalb steigen sie wiederum ins Auto, um sich städtisch behumsen zu lassen. Daß auf dem Land alles billiger sei, ist eine Meinung, die nur von Menschen übermittelt werden kann, die ihre Informationen aus der Adenauer-Zeit beziehen.

Das mit den Grundstückspreisen beziehungsweise der Stadtflucht hat seine Gründe in einer seit langem bekannten Tendenz. In zehn Jahren sind die unvermeidlichen Siedlungshäuser, die nicht nur von den Agrar-Banken wider besseres Wissen in hohem Maße kreditiert werden, allenfalls noch die Hälfte wert. Aber der Bauernsohn, der schon lange keiner mehr ist, muß nunmal (Häusle) bauen, (Buchs-)Bäumlein pflanzen, (Kindchen) zeugen. Das steckt nunmal in seinen verwabbelten Genen.

Das alles ist leicht nachzulesen, man muß dann allerdings bereit sein, sich klugmachen zu wollen, bevor man schreibt; unsereins nennt das Recherche und ging dafür zu journalistischen Steinzeiten ins Archiv; teilweise wurde die Stadtflucht aus den genannten Gründen bereits öffentlich-rechtlich thematisiert. Fazit dieses Kommentars ist jedoch: die Flucht vom Land findet alleine der Energiepreise wegen statt. Und deshalb ist dieser taz-Text blasiert zu nennen, es ließe sich auch sagen: stümper-, na ja, lehrlingshaft.

Denn Annette Jensen argumentiert alleine aus der energiepolitischen Gartenzwergperspektive. Überdies stellt sich ja wohl auch die Frage, was mit den Menschen geschieht, die beziehungsweise deren Familien seit Generationen, Jahrhunderten in den Dörfern angesiedelt sind. Aha, mag sich unsereiner bei einem solchen Text denken: die dummen Bauern sollen jetzt alle (wie in China) die Stadt ziehen. Am besten nach Bitterfeld oder ähnlich. Bloß nicht auch noch nach Berlin. Da sind ja wir schon, wir Altberliner aus Bargteheide, Bielefeld oder Untertürkheim. Und wir solchigen Berliner wollen dann nämlich endlich mal wieder durch die Natur, durch dann menschenleere Dörfer gondeln können, um ein paar von der weit draußen auf der letzten Warft hockenden Bio-Bäurin persönlich gelegten Eier einzukaufen. Selbstredend mit dem Fahrrad (auf dem Autodach), weil's so energieromantisch ist.
 
Mo, 12.09.2011 |  link | (1852) | 6 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Unterwegs



 

Plädoyer für eine Kultur des Nichtreisens

Der uniformierte Bordlautsprecher des preiswerten Wochenendfliegers verkündet seinem Transportgut, in wenigen Minuten überfliege man Lyon. Er sagt es, als ob dies die letzte Möglichkeit wäre, eine Großstadt von oben zu sehen. Deshalb wohl verlängern sich die Hälse von der Gangmitte bis hin zu den panzerverglasten Gucklöchern. Dabei haben die meisten ohnehin die der Moderne der Siebziger vorgelagerten Grillstationen von Martigue und anderen in den bereits jetzt schon eingetrockneten Köpfen. Am Flughafen von Mariagne werden sie aus der Maschine gekippt, um an diesen Ort weitergekarrt zu werden, von dem der Internetprospekt eine Abwechslung von Spanien verspricht. Denjenigen, die sich im Reisebüro von einer Dame, die sich während ihrer schönsten drei Wochen des Jahres am liebsten in der Türkei von allen Seiten braten läßt, aber machmal eben bei arte reinschaut, haben beraten lassen, wurde von einem Leben wie Gott in Frankreich erzählt, etwa so wie in den Köcheleisendungen der Tochter von Oswald Wiener, der einst Mitteleuropa verbessern wollte, dann aber in Berlins Gastronomie gezwungen wurde, weshalb wohl der Nachwuchs als praktische Kochphilosophin sich au terroir in den kulinarischen Abenteuern tummelte, die im Land selbst unverbrüchlich geschätzten Grenouilles aus Tierschutzgründen wohlweislich meidend, schließlich schauen da auch Deutsche zu.

Yves Cohn-Thibault aus Apt, den es ins Barbarische, das zwar bereits nördlich von Lyon beginnt, den es aber gar dorthin vertrieben hatte, wo Charlemagne vor der Vereinigung im Namen Christi die wilden nordöstlichen Sachsen gemetzelt und auf diese Weise unterworfen hatte, schrieb mir, wie handgemalt, darunter die Colette-Sätze, die er immer lese, wenn er ein erstes Gewürz der Provence in seinem Geschmackskino haben wollte: «Senke dich langsam, wenn du zu den Menschen willst, denn je höher du fliegst, desto kleiner erscheinst du jenen, die nicht fliegen können. Die Menschen aber ersehnen das Gegenteil.» Er schwebte dabei allerdings in einem anderen Luftbild als unsere Urlauber, denen An- und Abreise sowie der Aufenthalt mit allem inclusive auch nicht mehr kosten darf als die gezielten Lebensmittelunfälle in deutschen Landen frisch auf den Tisch.
«Die Wassertiefen von Mittelmeer und Étang de Berre wetteifern um das satteste Blau. Klecksig heben sich ihre Intensitäten voneinander ab, zeigen auch mal Kontur und scheinen sich zu einem großen monochromen Gemälde ordnen zu wollen; Wasserfarben im wörtlichen Sinn. Ein erster Vorgeschmack auf die Blaunuancen in Paul Cézannes Bildern. Reckt sich da nicht ein Feuerblock vor der diffusen Alpenwand empor, hinter der sich Turin und Mailand verstecken? Nein, das Licht der Westsonne bringt den kalkweißen Abschluß der Montagne Sainte-Victoire um diese Zeit zum Glühen.
Das ist er also der heilige Siegesberg, an dessen Fuß sich einst Marius gegen die Teutonen stellte und gewann. Wer Geschichte als martialische Mala auffaßt, freut sich daran. Wer an Peter Handkes melancholische Lehre denkt, hat ein Bild von pessimistischer Magie vor Augen.»
Unter Siegesberg verstehen andere wieder etwas anderes, und er heißt auch anders, wenn er auch gar nicht weit entfernt liegt vom anderen Dichterberg, aber egal, das klingt ja alles irgendwie gleich. Will man dorthin, landet man am besten auch in Mariagne, nur daß es dann entgegengesetzt in nordöstlicher Richtung weitergeht. Allerdings nehmen die meisten ohnehin den Wohnwagen, bis unters Dach gefüllt mit Dosenfutter, um dorthin zu gelangen. Dort geht's ähnlich zu wie vor Martigues, nur daß die Massen hier nur eines wollen: den Anblick, wie sie sich hinaufquälen. Melancholische Lehre oder pessimistische Magie, je nach Blickwinkel.

Ich habe Aix immer gerne ignoriert. Mir war das meist zu fade dort, zu sehr Trampelpad. Aber der Freund schätzt es sehr. Allerdings hat er offensichtlich das getan, was ich von anderen immer fordere und nicht immer hinkriege: er hat sich mit der Örtlichkeit beschäftigt. Dabei darf ich zu meiner Entschuldigung wohl anmerken, daß er sich als quasi Halbeinheimischer auch leichter tut. Seine Erfahrungen sind andere, wenn auch er zugestehen muß: «Die Nordflanke des Cours gleicht einer Perlenschnur von Cafés, Parfümerien und Shopping-Center, die sich unmerklich nach hinten in die Altstadt hineinmaulwurfen, um an Konsumfläche zu gewinnen.» Überhaupt weicht sein Bild in einigen Partien vom meinen nicht allzu sehr ab:
«Besonders in den Sommermonaten ist der Cours ein Laufsteg für die bis zur ätzend selbstbewußten Arroganz austrahlenden, eleganten Französinnen und die vielen blonden Austauschstudentinnen aus Deutschland mit Hautproblemen, die diese catwalkende Dynamik durch mißglückte Nachahmung wenigstens rustikal auflockern. Aber im Süden blond zu sein, bedeutet für die freie Balz fast schon den vorläufigen Vorteil einer Freikarte. Blond steht für die Sonne, und die kann überhaupt nicht dunkel sein. So treffen sich Schein und Beschienenes in mediterraner Kollision.
Natürlich kennt man das legendäre Literaten- und Künstlercafé Les Deux Garçons mit der Hausnummer 53. Kein Reiseführer läßt sich den ewig aus anderen Reiseführern kolportierten Hinweis entgehen.
Hier gingen sie alle aus und ein, die Granets, die Cézannes, die Zolas, die Gasquets und Vollards — die einstigen wie die heutigen, die glauben, den Pegasus bestiegen zu haben. Wer hier seinen Kaffee bestellt oder beim Pastis den Tag ausklingen lässt und die Nacht einläutet, macht aus kulturell-nostalgischer Hinsicht nichts falsch, muß sich aber vorwerfen lassen, die Nähe zu den Großen nur deshalb aufzusuchen, um zu signalisieren, daß man sich hiermit demonstrativ auf sie beriefe. Menschen ohne dieses Vorwissen haben es da leichter. In ihrer ignoranten, snobfreien Art beklagen sie sich nur über die hohen Preise für plempigen Kaffee.
Vor den gegenüberliegenden Stadtvillenfassaden kann sich die plakative Variante mediterraner Lebenart also voll entfalten. Wuselig und laut, stolz und elegant. Selbstbewußt zeigen die Nochzuhabenden ihre optischen Stärken. Das Handy genannte Portable signalisiert Erreichbarkeit und, fein mit der Hand an der Backe verschweißt, auch Anschmiegebereitschaft.
Mit distinguierter, fein ironisierter Servicebereitschaft balanciert der Kellner im Les Deux Garçons das Tablett mit den Cafés noirs und dem obligatorischen Wasser, stellt eine übersichtliche Pyramide mit Madeleines auf den Tisch und sagt im Wegdrehen: Voilà!
Ja, da wird sie spürbar, die verlorene Zeit. Auf der Suche nach ihr wirken die Madeleines wie die Proustsche Einladung, wichtige Ereignisse der Vergangenheit zu erinnern und neu zu beleben. Ein Löffelbisquit zum Eintauchen auch in Paul Cézannes Welt? Immerhin bescherte der Genuß eingetunkter Madeleines Marcel Proust damals die Initialzündung, mit einem fünfzehnbändigen Roman die Weltliteratur zu bereichern.»
Ach, Cézanne. Das nach ihm benannte Museum verbinde ich eher mit einem Andenkenladen für Touristen, die der Unterschied zwischen Brioche und Kuchen eigentlich genausowenig interessiert wie der eines gemalten oder gedruckten Bildes. Oder sollte ich über die Grenzen des Museumsshops nicht hinausgelangt sein? Auf jeden Fall habe ich in diesem dichten Wald von Reproduktiönchen keine Bilder gesehen. Aber vielleicht hat mir meine Abneigung den Blick verstellt. Doch ein anderer war dort und hat entschieden mehr gesehen, darunter gleich eine Beziehung zwischen ihm und Rilke ausgemacht.

Ich glaube, mir mangelt es heute an Romantik. Sogar die landläufige kann einem vergehen bei solchem Reiserummel. Alle Welt will nur noch verreisen, möglichst weit weg, um dann dort das zu tun, was der Reisende zuhause ebensogut haben kann, weil längst bis ins tiefste Binnenland jedes Städtchen an einem Flüßchen mit Strandbars ausgestattet ist. Fortan werde ich für die Kultur des Nichtreisens plädieren.
 
Mi, 15.06.2011 |  link | (4613) | 7 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Unterwegs



 





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