Belsunce tristesse (Marseille) Das Meer. Es gehört ja bekanntlich allen Franzosen. Im besonderen den Parisern. Da sie aus der Hauptstadt kommen, sind sie die etwas besseren Franzosen. Auch wenn viele Franzosen Paris gar nicht für eine französische Stadt halten. Daß die meisten Pariser irgendwie aus der Provinz kommen — etwa so wie der überwiegende Teil der Berliner oder Münchner aus dem emsländischen Leer, dem ostwestfälischen Gütersloh oder dem schwäbischen Sindelfingen — ist dabei nicht weiter von Belang. Nach seiner Herkunft gefragt, wird der internationale Franzose antworten: Ich bin ein Pariser. Wie hat Eric Orsenna in seinem Inselsommer nochmal geschrieben? «Paris hatte den Engländer vom Spitzenplatz ihrer Aversionen verdrängt. Und sie fanden in ihrem Innersten brachliegende alte Aggressionen.» Er hat das zwar in Verbindung mit der Bretagne gemeint. Aber es hat wohl überall Gültigkeit. Und das, obwohl es früher doch immerhin hieß: «Ich bin fest überzeugt: ein fluchender Franzose ist ein angenehmeres Schauspiel für die Gottheit als ein betender Engländer.» Wahrscheinlich aber variieren die Pariser das heute: Der in der Hölle fluchende Pariser ist angenehmer als der himmlische Marseillais. Die Seuche rückt an. Nein, sie ist bereits da. Seit einigen Jahren breitet sie sich von Norden her kommend aus. Ausnahmsweise sind's nicht die Deutschen. Auf der Strecke Paris-Marseille ist der TGV seit der Einführung dieser Rennpassage meist durch Pariser (aus-)gebucht. Am Wochenende und, logisch, in den Ferien. Und zwar in allen Klassen. Kein Wunder bei dem Preis! Der in etwa der Autobahngebühr entspricht. Für eine Strecke, die München-Hamburg entspricht. Aber in der Hälfte der Fahrzeit. Drei Stunden. In denen kommt man von München aus mit dem Intercity noch nichtmal nach Frankfurt, und das mit dem sogenannten Sprinter. Und der TGV fährt — stündlich! Von Paris aus, von Marseille aus, von diesem entzückenden, fast kleinstädtisch wirkenden Gare Saint-Charles aus früh ab halb sieben, stündlich und direkt: Ankunft Paris-Gare du Lyon halb zehn. Die Einwohner von Rouen werden aufatmen. Der Week-end-Fremdenverkehr oben im Nordwesten wohl kaum. Der wird jammern. Aber dafür gibt's dort mittlerweile auch wesentlich weniger Pariser. Denn die fahren nun zu ihrer von jeher heimlichen Geliebten, ans Mittelmeer. Schneller als mit jedem Flugzeug. Am Gare du Lyon eben noch Le Figaro kaufen, einsteigen, und kaum hat man die Wirtschaftsseiten und die Nachrichten zu Monsieur le Président und dessen singendem Auslaufmodell durch, kann man auch schon die Stufen hinunterhüpfen zum Boulevard d'Athenes und die paar Meter zu seiner vor einiger Zeit günstig erstandenen mittelmeerischen Residenz im Belsunce spazieren. Kaufen ist ohnehin besser. Denn die Mieten gehen mittlerweile auf Münchner oder Hamburger Niveau zu; oder anders: die Pariser sind nicht mehr weit. Jürgen Becker hat in seinem Rheinischen Kapitalismus mal thematisiert, was sich hier, im Zusammenhang mit der Bevölkerungs-Bouillabaisse Marseille, vortrefflich umdenken läßt: «Die Italiener lieben die Franzosen, aber sie achten sie/nicht. Die Franzosen wiederum mißachten die Italiener./Aber sie lieben sie auch nicht./Das mit der (europäischen) Einigung wird noch schwer/kompliziert.» So ähnlich verhält sich das zwischen den Marseillais und den Parisien. Wenn es auch recht diplomatisch daherkommt, wie Herr Becker das formuliert hat. Denn eigentlich schaut der gemeine Pariser ja hinab. Nicht nur in den Süden, der ja sein Begehr ist, sondern sehr gerne auf den gemeinen Marseiller. Aber hinfahren tut er eben schon gerne, der Pariser und sein Geld. Und kauft die Stadt kaputt. Wie Croix-Rousse in Lyon. Das nur nebenbei. Also — vierzig bis sechzig Quadratmeter mit Tageslicht für achthundert bis fünfzehnhundert Euro monatlich. Plus Parkplatz. Wenn's denn überhaupt einen gibt, denn Tiefgaragen gibt es eigentlich keine. Unter der Erde ist nämlich nur Platz für gut zweieinhalbtausend Jahre Historie. In die Tiefe gehen wird also vermieden. Mit Hafen- oder Meerblick und damit Sonnenlicht kostet es nochmal um einiges mehr. Je nach Feinheitsgrad und ob cuisine americaine oder nicht. Oder vorhandenem Fahrstuhl. Und Fahrhilfen werden nach und nach eingebaut. Wenn Platz ist. Im Zweifelsfall schmeißen wir eben die Araber raus. Sollen die doch nach drüben gehen. Oder besser dorthin, wo sie dahergelaufen sind. Wir haben sie nicht gerufen. Wir haben Algerien, Marokko, Tunesien und wie sie alle heißen doch längst in die Unabhängigkeit entlassen. Sie wollten das doch selber. Sollen sie jetzt doch sehen, wie sie klarkommen. Die Übersee-Franzosen sind gerne Franzosen. Und sie bleiben, wo sie sind. In der Karibik, hinter Lateinamerika oder Australien versteckt — Territoires d'outre-mer oder DOM-TOM eben, wie's das Volk nach wie vor vorspricht. Durch die rue Thubaneau im Ersten, im Quartier Belsunce, rollten schon Anfang des neuen Jahrtausends die ersten Ferrari und Porsche oder Mercedes durch, während nebenan in der Rue Récolettes oder somstwo noch der Müll herumlag. Mehr als unappetitlich. In mehrfacher Hinsicht. Vor allem aber in einer ... Daß diese Ferrari und Porsche oder Mercedes, die man ansonsten nur in Paris sieht, nicht nur parisischen Ehedamen gehören, sondern auch den Arabern, gehört in die Sparte homo homini lupus ... Der Mensch ist des Menschen Wolf. Der Herr weigert sich, dem Sklaven Geld zu leihen — geschweige denn ihm überhaupt etwas zu überlassen. Erst werden die ihre eigenen Leute ausgenommen und dann rausgejagt. Das ist einer dieser Treppenwitze der Weltwirtschaftsgeschichte! Die dort lebten, für viel Geld in diesen üblen Buden, oftmals ehemalige Hotels, am einst prächtigen und wuseligen Cours Belsunce (neuerdings wieder mit Tram) und dahinter, hatten nicht einmal Wasser in ihren Zimmern und haben das ihre wahrscheinlich deshalb in der nahen rue Longue des Capucins hin zur Metro-Station Noailles abgeschlagen, im Hauseingang, zwischen frischem Fisch, Fleisch, Gemüsen, Gewürzen, Kuchen, Reis und vom LKW gefallenem Telephon-Tinnef. Nicht nur einmal habe ich das gesehen. Sie haben's ihnen also auch noch leicht gemacht mit ihrem Dreck und Müll. Hier hat sich die geldfranzösische Internationale breit- und die Araber plattgemacht. Vermutlich haben sie — ach was, ich weiß es genau, schließlich hab ich's lange genug beobachtet. Und dann hat's mir einer dieser beteiligten «Investoren», die als Muslime so wenig Alkohol trinken wie Juden Schweinefleisch essen, irgendwann nach dem zehnten Pastis bestätigt. Die Häuser wurden fürn Appel und 'n Ei angeboten beziehungsweise mit viel Geld aus Paris und Strasbourg oder Bruxelles gefördert. Dann wurden die Häuser saniert. Gerade so, daß sie die Mietgarantien über zehn Jahre durchhalten. Aber dennoch entsprechend hoch. Das konnten die natürlich nicht bezahlen, diese Gagen, für die jetzt diese Ateliers oder Galerien und deren Anhänger des neuen Lebens in Marseille zahlen. Nun gut, früher wurden in Frankreich solche Viertel einfach abgerissen. Damit hatte man Erfahrung auch in dieser Stadt. Die Deutschen waren dabei mal außerordentlich hilfreich, als es darum ging, dem Gschwerl den Unterschlupf zu nehmen. Mittlerweile läßt man ein bißchen Fassade stehen. Wie bei L'Alcazar, der neuen Bibliothèque Municipale à Vocation Régionale am Cours Belsunce, die sie im Rahmen der Sanierung hin zum neuen Marseille ins Quartier hineingebaut haben. Vorne zwanzig Meter Altgemäuer und hinten raus zweihundert Meter Stahlbeton. Dafür haben sie — geübt darin sind sie ja — ein ganzes Caré eingeebnet. Mit dem Eingraben nach unten waren sie eher vorsichtig vor rund acht Jahren. Wahrscheinlich haben sie's nächtens bewerkstelligt. Nicht daß wieder irgendwo so'n antikes Griechenklo zum Vorschein kommt und sie gleich wieder gezwungen werden, ein neues Museum einrichten zu müssen wie drüben auf der anderen Straßenseite das niedliche nette kleine Alibi am Rand des Centre Bourse, dessentwegen ein Großteil der griechischen Geschichte vom Bulldozzer untergepflügt und dann mit Konsumbeton aufgefüllt wurde. Und regnen tut's auch ständig. Am Mittelmeer! Kein Wunder bei den vielen Parisern. Wie hat Léo Ferré 1972 im Palais des Congrès in Marseille (vermutlich prophetisch) gesungen? «O Marseille, man könnte meinen, das Meer habe geweint.»
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