Wie im Kino Das hier immer wieder mal ein bißchen allzu gerne erwähnte Marseille entstand vor gut zweitausendsechshundert Jahren. Bei mir machte es sich etwas später bemerkbar, und zwar, als die Bilder bereits laufen konnten. Hoch oben im Nordwesten, etwa auf dem Breitengrad von Venedig, genauer: in einer zwar nicht touristen-, aber doch reklamefreien und deshalb bevorzugt als Kulisse für filmisch historisch ummantelte Degenfechtereien genutzten Zone des Périgord ging ich mit Freunden in ein Kino, das es dort wider Erwarten gab und in dem ich später noch andere Zaubereien sehen sollte. Der Film führte uns in ein ehemaliges Fischer- und somit Künstlerdörfchen, das allerdings, wie ich erst später erfahren sollte, längst Rockzipfel einer großen Stadt war. Und der begeisterte mich dann derart, daß ich nur noch dorthin wollte. Als ich angekommen war, war der Rest der Welt für mich unbewohnbar geworden. Ich erinnere mich, daß ich oft die Zeitungen studiert habe, La Provence und La Marseilaise. Ich weiß noch, daß mir die kleine, ein bißchen kämpferischere, wohl eher links und sozial orientiertere Zeitung, der auch Jean-Claude Izzo redaktionell einmal vorstand, immer sympathischer war als dieses Allerwelts- und Massenblatt La Provence mit seinen Ausgaben für den gesamten Bouches-du-Rhône, Hérault und Vaucluse, also Avignon. Wenngleich La Marseillaise es ebenfalls versucht, bis in die Haute-Provence, in den Luberon hineinzureichen. Aber so richtig wahrgenommen wird sie dort nicht. Sie wird zwar auch im knuddeligen Geburtsstädtchen von Jean Giono angeboten, aber gekauft wird die Konkurrenz. Wie auch immer — ich war sicher, daß nur dort eine Wohnung von Menschen für Menschen angeboten werden könnte. Heute weiß ich natürlich, daß es illusorisch oder auch töricht war. Denn La Provence hat nunmal den Anzeigenmarkt fest im Griff. Nun denn, oft saß ich lange in den Cafés und las eifrig Immobilienanzeigen. Tatsächlich war immer wieder mal eine Wohnung in l’Estaque angeboten worden. Ich erinnere mich sogar an eine, die mittendrin lag, ein Haus weiter von dem, in dem sich unten das Rentner-Café befand. Ach, was erzähle ich da — Rentner-Café? Alle Altersgruppen waren da drinnen. Die meisten waren wohl nicht sonderlich betucht. Doch es war jeder willkommen. Auch Araber und ich. Auch mir wurde der Café in kleinen Gläsern serviert, wie oft, allerdings auf Wunsch, überall in Marseille. Den Fußboden vor dem Tresen zierten unzählige Kippen und Lotterielose aus dem Nachbarlädchen. Das war allerdings ein frankreichweiter Zustand, denn es existierte eine geradezu groteske Bestimmung, nach der auf der Theke keine Aschenbecher stehen dürfen. Es könnte ja was in die Gläser hineingeraten, so in diese Richtung; eine Logik, wie sie nur aus dem Bauch der Revolution kommen kann. So wurde eben alle Stunde zusammengefegt. Oft fuhr ich alleine wegen dieses Cafés die halbe Stunde mit dem Bus nach l’Estaque. Weit und breit kein Tourist, weil sich Touristen ohne Touristen unwohl fühlen. Und aufmerksame, zurückhaltende Reisende — nun, man erkennt sie zwar, aber man sieht ihnen auch ihre Behutsamkeit gegenüber den Menschen an, die ständig in dieser Umgebung leben. Außerdem ist vor l’Estaque das Meer befestigt und der kleine Strand weiter oben und außerhalb des Ortes versteckt. Da fahren am Wochende eigentlich nur diejenigen hin, die die Übervölkerung der Calanques oder die Massen an den Stränden nicht mögen, an den Plages du Prophète, Roucas Blanc, des Petits, du David, Prado oder wie sie sonst noch alle entlang der Promenade Georges Pompidou heißen. Und dieser Ausblick! Nach vorne hinaus ins Meer, auf dem ab und zu eine Fähre oder auch mal ein mittlerer Lastkahn zu sehen waren, die Kurs auf Afrika oder Sète nahmen, und in leicht nordwestlicher Richtung, zum Flughafen nach Marignane, diese dünenartigen Hügel, die Kalkfelsen. Eine beeindruckende Schönheit und Ruhe, weil alles die oberhalb liegende Autoroute entlangdonnerte. Allein diese köstliche, hier jedoch bereits, gegenüber dem Zentrum der Stadt, gemäßigtere Mischung aller möglichen Menschen, ein gemächliches Durcheinander — wie im Film von Guédiguian. Die Bourgeois aus den besseren Arrondissements von Marseille, dem achten, also Perier oder die Corniche, mit seinen Villen und den Reichen hinaus aufs Meer bis bald nach Afrika blickend, oder der neubürgerliche, schnieker gewordenen Teil des altehrwürdigen siebten Arrondissements, also der behütete Part von Endoume, Saint Victor oder Roucas Blanc oder Vallon des Auffes mit seinem geradezu werbefilmreifen kleinen feinen Hafen inmitten der Wirklichkeit, sie alle blieben weg, weil sie ihren Kindern das nicht zumuten konnten — eine Gegend, in der sich aufgelassene Fabriken und das dazugehörende Gesindel befinden, hinter dem Städtchen, das seit 1946 als sechzehntes Arrondissement zu Marseille gehört. Im langsam gewachsenen sechsten um die Préfecture leben einige mit etwas tiefer geschwärzten Bankkonten, die ihren Kindern ein Leben vor dem Tod gönnen würden, die den Begriff Heterogenität nicht nur buchstabieren können. Aber weshalb sollten die nach l’Estaque? Hier existierte ja bereits die Erkenntnis, daß es unterschiedliche Menschen gibt. Vor allem bergan in Richtung Notre-Dame du Mont, um die Place Cézanne oder den Cours Julien wird's ja ausgesprochen gemischt. Jedoch auch immer jünger. Zumindest in den Terrassencafés. Außerdem, wenn man auf die im Sommer doch arg stickige Metro verzichtete, um die zwei Stationen zum Quai des Belges zu fahren, und müßig die Rue de Rome oder die Rue Paradis oder vielleicht sogar diese Budengasse Rue Saint-Ferréol, die mit ihrem Markennamenterror versteckt Sehnsüchte aufwedelt, nach Westen hinunter mehr oder minder lustwandelte, war man von der Place Castellane in zwanzig Minuten am Vieux Port, am Alten Hafen. Im — für Marseille allerdings eher ungewöhnlichen — Schnellgang hätte man's auch in der Hälfte erledigt. Wie auch immer — Marius und Jeannette würden zwar nicht freiwillig hierherziehen, aber auch nach einer Zwangsumsiedlung könnten sie hier in Frieden leben. Gezogen bin ich dann an den Cours Belsunce.
"Als ich angekommen war, war der Rest der Welt für mich unbewohnbar geworden." Ein schöner Satz. Langsam werde ich doch neugierig.
ich wollte mit begleitung1 schon mal hin, beschloss aber, dass zwei, drei tage für gar nichts reichen würden außer vielleicht für fos.
dann lieber lavendelvollprogramm. Meinen Sie gar
dieses Fos?Dann doch lieber zwei, drei Tage zu Marius und Jeannette. Gut, auch der Lavendel in der Haute-Provence riecht gut. Es ist ja nicht weit. Aber mir würde da zu sehr der Geruch des Meeres fehlen. Also meine Herren: Das nächste Mal zwei Monate Urlaub planen! >> kommentieren Spamming the backlinks is useless. They are embedded JavaScript and they are not indexed by Google. |
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