Olga, die Gräfin und die Sprache

Bei Aléa Torik las ich soeben eine zauberhafte Geschichte über ein Frauenfrühstück. Sie endet mit einer Absage an nationale Kulturen, Sprachen und Fußballmannschaften; schließlich gehe es auch ohne Männer. Die darin erwähnten Olga und der Wodka haben mich an etwas erinnert, das mir seinerzeit sprachlos endlich eine Heimat zuwies.

Eine Gräfin gab es (und gibt es vermutlich noch), die ich als abstammungsgemäß hoch und gerade aufgerichtete blondblauäugige preußische Dame mit entsprechend guten Manieren samt Ehemann und Kind kennengelernt hatte. Sie hatte sich einen auch mir bekannten Herrn zugelegt, einen nicht minder, aber gänzlich anders attraktiven Bulgaren mit einem Teil russischen Adelsblutes in sich, verheiratet mit einer Spanierin und Vater zweier niedlicher Töchter. Ihm war sie an den altaiischen Rand der Mongolei gefolgt, wo er einen Film drehen wollte über eine Gruppe von Künstlerkollegen. Begegnet war er denen in Moskau während eines alltäglich-fröhlichen Zusammenseins, das hierzulande vermutlich als grauenvolles Besäufnis gewertet würde. Etwa ein halbes Jahr später kamen die beiden zurück, um den Film über die Artisten sowie sie selbst und deren Kunst vorzustellen. Die Gräfin betätigte sich seit einiger Zeit als Galeristin, der Filmer hatte mich zu deren Stand auf einer internationalen Kunstschau gebeten, um mir das Ergebnis der monatelangen Dreharbeiten zu zeigen und mich den Kollegen vorzustellen.

Wie die Wächterin eines Großkolonialreiches stand die Dame vor dem Eingang zu ihrer temporären Galerie, ihre knapp ein Meter fünfundachtzig in Hüfthöhe leicht eingeknickt, in der rechten Hand eine Flasche russischen Wodkas, die sie nur kurz weggab, um anderen auch einen Schluck zu gönnen. Sie hatte in den Jurten der Mongolen das Trinken gelernt, vielleicht war es auch während des anschließenden Aufenthaltes in Moskau, so genau erinnere ich mich nicht mehr daran. Auf jeden Fall kreiste die Flasche, mit dem Erfolg der Verständigung. Die Künstler sprachen nämlich lediglich ein paar Brocken Französisch, und ich ebensolche Russisch (aber auch nur, wenn adäquater Spirit in mich gefahren war) oder was auch immer an Sprache zum Gespräch hätte beitragen können. Ich blieb dennoch die restlichen Stunden des Tages am Platz, und gemeinsam verbrachten wir anderenorts den Abend und die Nacht, zumal noch ein paar Damen aus dem Ural und Kasachstan sowie Usbekistan hinzugekommen waren, die ebenfalls Westkarriere zu machen sich vorgenommen hatten, jede wohl auf ihre Weise. Mit ihnen mischten sich Bruchstücke in unser babylonisches Gewirr, die sich nach Englisch anhörten, aber nicht weiter benötigt wurden.

In den frühen Morgenstunden stellte der beharrliche Kreis nach einer Frühstücksrunde reinen Wodkas, inganggesetzt vom kaum mehr wahrnehmbaren Augen-Blick eines dieser mongolischen Steppendiaten, einstimmig meine Herkunft fest — einer der ihren sei ich, mit Sicherheit unter freiem Himmel in die Welt geworfen, alleine an meiner trinkerischen Mentalität sowie meiner kauernden Haltung sei das ablesbar. Was mein Vater immerfort angestrebt hatte mit seinen schwärmerischen Erzählungen von der sibirischen Heimat, in der ich schließlich als Kleinkind einmal gewesen und die nicht zuletzt deshalb auch die meine sei, was von meiner Mutter aber immer abgetan oder gar niedergeredet worden war, dessen wurde mir also vor etwa fünfzehn Jahren dämmernd gewahr: Auch ich bin, Globalisierung hin oder her, einer von drüben, aus dem Osten.

Heimat gibt es auch ohne einheitliche Sprache. Hauptsache, es ist genügend Wodka da.
 
Di, 15.06.2010 |  link | (3947) | 2 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Inneres


prieditis   (16.06.10, 10:49)   (link)  
Wodka
und Fußballnationalmannschaft. Ich kann sehr gut ohne Wodka - Aber, um Himmels Willen, nicht ohne Fußballnationalmannschaft!!!
Dabei spielt die Nation für mich keine soooo große Rolle. Ich mag verschiedene Mannschaften spielen und auch gewinnen sehen.


jean stubenzweig   (16.06.10, 13:51)   (link)  
Einlitern tue ich
dieses Getränk zwar auch nicht, gleich welcher Herkunft, aber ich verweigere mich ihm nicht. Den letzten habe ich vor langer Zeit genommen, finnischen. Aber ich kann auch gut ohne ihn. Ebenso ohne Fußballmannschaften, nationale obendrein. Ich schaue allerdings, wie vorgestern berichtet, tatsächlich nur bei solchen Großereignissen hin und wieder hin. Das Gekicke, das ich bislang gesehen habe, war meiner Lust auf dieses Spiel jedoch nicht unbedingt förderlich; ich habe mich meistens wieder ausgeklinkt – und mir beispielsweise lieber die Dokumentationen über die Lebensum- bzw. -zustände in der Republik Südafrika angeschaut (wie gut, daß es ein öffentlich-rechtliches Fernsehen gibt, das unsereinem Nischen bietet).

Aber um Wodka (und Fußball) ging es mir auch nicht. Erstgenannter hat mich lediglich daran erinnert, wie ich unversehens und fröhlich in eine Heimat gedämmert war – inmitten mir ursprünglich völlig fremder Kulturen, in denen ich mich dann wohlig räkeln durfte. Das war letztlich der Aufhänger – nämlich die Geschichte von Aléa Torik, in der es um die Gemeinschaft von Menschen aller möglichen Nationen geht, um ein angedeutetes Plädoyer für die Aufhebung zumindest der geistigen Schlagbäume. Das ist schließlich Zeit meines Lebens eines seiner wichtigsten Themen.















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Jean Stubenzweig motzt hier seit 6023 Tagen, seit dem Wonne-Mai 2008. Letzte Aktualisierung: 07.09.2024, 02:00



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