Demokratische Identität

Im Sommer 1980 geschah in der Nürnberger Norishalle etwas, das nicht allzu häufig vorkommt: Publikum und Kulturkritik waren sich einig im Lob. Gezeigt worden war die Ausstellung Lebensgeschichten. Anhand von Alltagsgegenständen, also Werkzeuge und Hausrat, Photographien und Schautafeln erläuterte sie die Deutsche Sozialgeschichte 1850 – 1950. Besonders aufschlußreiche Gegenstände dieser dokumentarischen Geschichtsschau waren sechs Biographien, angefangen bei der des Industriellen bis «hinunter» zu der eines Dienstmädchens. Die erfolgreiche Ausstellung war einer der ersten Schritte auf dem Weg zur Identitätsfindung einer Gesellschaftsschicht, der im Museum bislang allenfalls die hinterste Ecke freigeräumt wurde — der Arbeiterschaft.

Ideenlieferant, Initiator und Leiter dieser Geschichtsbetrachtung aus der Perspektive des Grases (und mal nicht aus der der Burg) war der Historiker und Kulturwissenschaftler Wolfgang Ruppert, zu dieser Zeit Projektleiter am Nürnberger Centrum Industriekultur. Was die Ausstellung leistete, ließe sich auch als Erinnerungsarbeit bezeichnen.

Das ist denn auch der Titel eines Buches, als dessen Herausgeber Ruppert Beiträge von Historikern zum Thema «Geschichte und demokratische Identität in Deutschland» vorstellt und in zwei Fällen selbst als Autor fungiert. Die neun Aufsätze bestehen im wesentlichen aus Forumsbeiträgen zum Nürnberger Gespräch '79, eine Veranstaltung des Schul- und Kulturreferats der fränkischen Metropole, und stellen eine Sammlung mittlerweile unerläßlicher Informationen dar. In vielen Fällen bemühen sich die Autoren um eine angenehm lesbare, im Fall von Hans Mayers Text gar anregende Sprache. Einzig der Aufsatz von Rudolf zur Lippe, Professor für Sozialphilosophoe und Ästhetik in Oldenburg, ist von einer sprachlichen Prägung, daß ich zugunsten einer breiteren Leserschaft, um die es letztlich geht, das eine ums andere Mal gerne den Redigierstift in die Hand genommen hätte.

Mit Archäologie verbinden wir in der Regel gedanklich eine Vergangenheit, die mumifiziert ist. Wir denken an Pharaonen und deren Pyramiden, verneigen uns dabei in Ehrfurcht vor dem Glanz exotischer Herrschaft. Diejenigen, die frei nach Bertolt Brecht, diese Monumente gebaut, die die schweren Steine geschleppt haben, nehmen in unserem Geschichtsbewußtsein einen untergeordneten Raum ein. Wie auch anders? Die in unseren Museen ausgestellte Historie zeigt «traditionsgemäß» die adlige Spitze des Eisbergs. An die unter der sichtbaren Oberfläche verborgene Masse werden wir nicht erinnert.

Der Begriff Kultur wird gemeinhin recht weit «oben» angesiedelt, hat etwas von Höherem, Weihevollen. Die «Gesamtheit der Lebensäußerung eines Volkes», wie mich mein Brockhaus lehrt, bleibt versteckt im edlen Band der leinengebundenen Encyclopédie, eingestaubt vom Wissen der Gelehrten, die mit Diderot oder d'Alembert mal angetreten waren, das Volk aus der Gefangenschaft des Nichtwissens zu befreien. Allenfalls Namen und Zahlen, «Relikte» aus der Schulzeit, schwirren in unseren Köpfen herum und vernebeln Zusammenhänge. Hauptsache, wir wissen, woher die Kohle kommt. Die fürs Portemonnaie und die für den Strom.

Der Tatsache, daß wir es sind, die wir sie ausgegraben haben und weiterhin ausgraben, gehen seit einiger Zeit Historiker auf den Grund. Wie immer, wenn eine Epoche sich ihrem Ende zuneigt. «Jedenfalls ist es in der Geschichtswissenschaft keine seltene Erscheinung», schreibt Klaus Tenfelde, «daß man über Ereignisse und Entwicklungen in dem Augenblick zu forschen beginnt, in dem sie zu einem gewissen Abschluß geführt zu sein scheinen.»

Man betreibt die Archäologie der Industriekultur, so Wolfgang Ruppert, beginnt mit ihrer «musealen Präsentation», denn wir stehen «an der Schwelle der Entdeckung der Genese unserer eigenen industriell geprägten Lebensformen». Mit seiner Arbeit am Centrum Industriekultur hatte er die Anfänge zu einem Modell Nürnberg geschaffen. Dem inzwischen dort ausgeschiedenen Historiker ging und geht es darum, «die Kenntnisse der Entstehung der modernen Industriekultur zu vertiefen und einsichtig zu machen». Dabei genüge es jedoch nicht, so Ruppert weiter, «eine antiquarisch-historische Sammlung von Objekten und Industriedenkmalen anzulegen» Denn, vervollständigt Klaus Tenfelde, «es escheint uns sinnlos, Kulturelles aus dem Kontext von Werten zu lösen».

Nur eine historisierende Schau zusammenzutragen reicht nicht aus, um zur Selbstfindung zu gelangen. Die Autoren von Erinnerungsarbeit fordern uns auf, selbst Archäologen zu sein und ans Tageslicht zu fördern, was diese andere, eben nicht «hochkulturelle» Vergangenheit kennzeichnet. «Unsere persönlichen Erfahrungen», stellt Lutz Niethammer fest, «datieren wir nicht nach dem Kulturfahrplan, sondern nach Geburt und Tod von Verwandten, nach Umzügen, Heiraten, Berufseinschnitten».

Diese persönlichen Erfahrungen sind beispielsweise festgehalten in Photographien oder Briefen. So sind Familienalben, Keller, Speicher und so weiter Fundgruben der eigenen Geschichte. Mit ein bißchen Aufmerksamkeit läßt sich diese mühelos mit der anderer verbinden. «Lebensgeschichte», hat Rudolf zur Lippe an seiner eigenen Vita herausgefunden, «führt im Rahmen der Wirkung der anderen zu einer Identität.»

Eine andere Lebensgeschichte kann sein die der Frau, die 1978 immerhin 111 Jahre alt geworden war. Ruppert hatte das damals einer Zeitungsmeldung entnommen und war angeregt worden, zurückzurechnen: «Ein Jahr vor ihrer Geburt (1866) hatte der letzte ‹Bruderkrieg› zwischen Preußen und den süddeutschen Staaten stattgefunden. [...] Die Arbeiterbewegung organisierte sich gerade. [...] Die Verstädterung setzte gerade ein. Nach wie vor galt das Züchtigungsrecht der Herrschaft gegenüber den Dienstboten. Frauen waren zum Studium an den Universitäten nicht zugelassen.» Auch ein Bummel über den gemütlichen Flohmarkt muß kein nostalgisch verklärter Rückblick sein. Er kann sich als «Spurensicherung» unserer Geschichte erweisen. Vorausgesetzt, wir halten uns an die These von Rudolf zur Lippe: «Bedingung für Geschichtsbewußtsein ist eigenes Erleben und Bewirken von Prozessen ...»

In diesem zwar von Wissenschaftlern verfaßten, aber dennoch für jeden lebaren Handbuch für ein dringend notwendiges neues (Geschichts-)Bewußtsein fehlt auch nicht der Hinweis von Karl Bosl, die Wurzeln unserer Identitätsfindung seien in Kenntnissen des Mittelalters verankert. Denn aus dieser Aufbruchsepoche heraus sei «ein großartiger Aufstieg aus Lebeigenschaft, Hörigkeit, Schollegebundenheit, Zwangsarbeit, Dienstverpfichtung zur adleigen und bürgerlichen Freiheit sowie zur bäuerlichen Besserstellung erfolgt [...], und zwar gerade in Deutschland ziemlich einheitlich aus der Grundstruktur der familia».

Erinnerungsarbeit. Geschichte und demokratische Identität in Deutschland.


Flohmarkt der Pseudonyme: Vorwärts spezial, 2.1983

 
Do, 27.01.2011 |  link | (22031) | 5 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Gesellschaftsspiele


charon   (27.01.11, 15:10)   (link)  
War Hermann Glaser da noch in Nürnberg?

Arbeitergeschichte ist ja so was von mega-out, nun da festgestellt wurde, daß es keine Arbeiter mehr gibt geben soll. Sogar Tenfelde mußte sein Haus vor einigen Jahren umbenennen, um weiterhin attraktiv für die Geldgeber an Rhein und Ruhr zu sein. Alltagskultur hingegen hat es bis zur eigenständigen Marke gebracht und in die höchsten Häuser geschafft.

Bei Industriekultur schaudert es mich ein wenig, weil der ursprüngliche Gedanke in illuminierte Fördertürme und Gasometer zum Zwecke der Fremdenverkehrswerbung und der Erheiterung der kreativen Klasse verfremdet worden ist.




jean stubenzweig   (27.01.11, 17:59)   (link)  
Die Lebensgeschichten
hat Glaser noch verantwortet. Soweit ich mich erinnere, hat er maßgeblich am Centrum Industriekultur mitgewirkt; wenn es nicht überhaupt, möglicherweise auf Anregung Rupperts, seine Idee war. 1980 ging seine Tätigkeit als Kulturdezernent zuende.

Auch Ruppert, der ja zweifelohne als einer der Miterdenker der neuen Arbeitergeschichte bezeichnet werden muß, hat's schon lange drangegeben. Bisweilen hatte ich das Gefühl, er möchte sich am liebsten von diesem ganzen Arbeiterkram distanzieren. Mehrfach wies er darauf hin, das sei nun vorbei. Großen Wert legte er vor allem darauf, zu betonen, ihn beschäftigten nun andere Dinge – die Zeichen des Alltags zum Beispiel. So entstand bei mir der Eindruck, das Kind einfacher Leute wäre dann doch lieber ein berühmter Kunst- und Designhistoriker geworden. Aber nun dürfte auch das bald vorbei sein, der Ruhestand müßte längst an die Tür der HdK (UdK) geklopft haben. Die Arbeit an den Arbeitern soll dieser Klang der Geringerschätzung jedoch auf keinen Fall schmälern. Das war eine beachtliche Leistung.

Was die Industriekultur und deren Aus- oder auch Umtriebe am Technik- und Hochkulturtheater betrifft, da liegt noch einiges hier bei mir und harrt des Auswurfs. Aber ich habe schließlich Mäßigung angekündigt. Davon werden nicht einmal Sie mich abhalten.


kopfschuetteln   (27.01.11, 20:59)   (link)  
inhaltlich kann ich nichts beitragen. aber ich fand das schön und nachdenkenswert.
und schön ist es, dass sie bleiben.


edition csc   (29.01.11, 09:38)   (link)  
Die Fabrik
Mit dem 19. Jahrhundert setzte in Europa die Industrialisierung ein. War Deutschland auch ursprünglich, nicht zuletzt bedingt durch seine kleinteilige politische Zersplitterung, recht spät dran, so hatte es doch gegen Ende des Jahrhunderts seinen Hauptkonkurrenten England beinahe überall eingeholt, in manchen Bereichen auch überholt. Die stetig wachsende Industrialisierung erzwang erwartungsgemäß strukturelle Veränderungen der bisherigen Wirtschafts-, Lebens und Gesellschaftsformen. Diese Veränderungen gingen überwiegend zu Lasten der Armen und Schwachen, der ständig wachsenden Schar der Lohnabhängigen. Das Leid und die soziale Unmündigkeit ganzer Bevölkerungsschichten wuchs.

«Alle Arbeiter verpflichten sich bei ihrer Aufnahme zum Gehorsam gegen die Fabrikherren, zur genauen Beobachtung der ertheilten Vorschriften und zur sorgfältigen & fleißigen Ausführung der ertheilten Arbeiten ...» — Paragraph 1 der «Regeln und Vorschriften für die Arbeiter in der Eisengießerei & Maschinenfabrik von Klett & Comp.», unterzeichnet: «Nürnberg, 14. Octr. 1844. Der Magistrat.»

Wer, gleich ob Arbeiter oder Angestellter, hätte noch nicht gelacht, zumindest aber geschmunzelt über solche Fabrikordnungen aus dem 19. Jahrhundert?! Freilich ohne sich weiter Gedanken darüber zu machen, welch bedeutende sozialgeschichtliche Aussage dahintersteckt. Seit langem zieren solche nachgedruckten Dokumente. schön eingerahmt durch nostalgiesehnsüchtige Besitzer, Wohnzimmer- und Kneipenwände — in Umlauf gebracht durch die Unterhaltungsindustrie.

Dieser Paragraph 1 ließe sich ohne weiteres aktualisieren. Und so weit hergeholt wäre das nicht einmal. «Gehorsam gegen die Fabrikherren» ließe sich, angesichts heutiger Arbeitslosenzahlen, so in die Sprache unserer Zeit übertragen: Wohlverhalten gegenüber den Arbeitgebem. Und gute Umgangsformen sowie möglichst gepflegte Erscheinung bei Bewerbungsgesprächen, so das Ergebnis einer neueren Umfrage, sind ja neuerlich gefragt. Die Wendemacher haben sich ‹Knigge› wieder aufs Banner geschrieben, obwohl der mit diesem ganzen Benimm-Kokolores nun wahrlich nichts zu tun hatte, sondern als Adliger ein Kritiker nicht nur seiner Gesellschaft war, der ihr in die Stammbücher ihres Benehmens geschrieben hat: «Unsere Fürsten sollen es erfahren, daß alles, was sie besitzen und verwalten, unser Eigentum ist; daß ihr Amt, ihr Stand nur von unsrer Übereinkunft abhängt: daß erst der geringste arbeitsame Bürger unter uns Brot haben muß, ehe an den Hofschranzen und Tagedieb die Reihe kömmt, ehe aus dem öffentlichen Schatze dem Müßiggänger Pasteten und Braten gekauft und Geiger und Pfeifer und Buhlerinnen besoldet werden.»

So löst die Abhängigkeit des Arbeitnehmers manches aus, dessen Wurzeln im Buch von Wolfgang Ruppert beschrieben sind. Der ausführliche Bildband Die Fabrik — Geschichte von Arbeit und Industrialisierung in Deutschland, ein Rückblick auf die letzten rund 150 Jahre Arbeit in «diesem unseren Lande», gibt Denkanstöße zuhauf für diejenigen, die nicht wissen (oder vergessen haben), unter welchen sozialen und physischen Bedingungen die Arbeiter im vergangenen Jahrhundert mitgeholfen haben, die Industrienation Deutschland aufzubauen.

Mitte des 19. Jahrhunderts, als die Industrialisierung Deutschlands einsetzte, war ein Arbeitstag unter schwerstem körperlichen Einsatz zwölfeinhalb Stunden lang. Und wenn es dem Fabrikherrn pressant erschien, mußte die Arbeit fortgesetzt werden, die ganze Nacht hindurch.

Damals war der größte Teil der Bevölkerung so arm, daß die Kinder mitverdienen mußten. «Die Arbeitszeiten waren im 19. Jahrhundert so lang», stellt Ruppert fest, «daß zeitgenössische Beobachter das Aussehen dieser Kinder als bleich beschrieben und auf früh alt gewordene Gesichter hinwiesen.» Trotz eines 1839 von der preußischen Regierung erlassenen «Regulativ über die Beschäftigung jugendlicher Arbeiter in Fabriken», das die Arbeitszeit für Neun- bis Sechzehnjährige auf zehn Stunden begrenzte, blieb das so bis zur Revolution von 1918/19.

Es entstand ein fataler Kreislauf. Die überall entstehenden Vorläufer der Fabriken entzogen nach und nach den Handwerksbetrieben Aufträge. Auf der Suche nach (über-)lebensnotwendiger Arbeit versuchte ein Großteil der Landbevölkerung sein Glück in der städtischen Fabrik. Doch für die Zug um Zug mechanisierte Produktion waren keine hochqualifizierten Handwerker mehr erforderlich. So sparten die Fabrikherren bis zu fünfzig Prozent der Lohnkosten ein.

Verdiente ein Kesselschmied dreißig Mark (umgerechnet) in der Woche, mußte ein Fabrikarbeiter sich im selben Zeitraum mit 15 Mark begnügen. In der Textilindustrie waren die Löhne geringer, wobei wiederum Frauen mit noch weniger abgespeist wurden. Zu den katastrophalen Arbeitsbedingungen kam, daß Sicherheitsvorkehrungen den Fabrikbesitzern an den Geldbeutel gegangen wären — ein Menschenleben war nicht viel wert zu dieser Zeit.

Nach und nach entstanden die Imperien der Schwerindustrie. Eine gewaltige Expansion setzte ein. Beschäftigte die Gußstahlfabrik Krupp in Essen 1819 noch acht Arbeiter, so gab es 1891/92 bereits 25.000 dieser winzigen Rädchen an dieser gigantischen Krupp-Maschinerie.

Dem entsprechend fühlte sich der arbeitende Mensch. In diesen patriarchalisch geführten Massenbetrieben bekamen selbst hochqualifizierte Handwerker das Endprodukt ihrer Arbeit nicht mehr zu sehen. Hinzu kam der Akkord, eingeführt durch einen US-Amerikaner namens Taylor. Soziale Kontakte wurden so reduziert, die Entfremdung nahm ihren Lauf. Eingepfercht in die winzigen Häuser der Arbeiterkolonien, deren Nähe zur Fabrik die Bindung an den Arbeitsplatz festigen sollte, fristete die Familie der Untersten der Unternehmenshierarchie ihr Dasein in Nachbarschaft zu den rauchenden Schloten, den Symbolen des Fortschritts.

Die Geschichte der Arbeiterschaft ist in vielen Büchern nachvollzogen worden. Nicht minder groß ist die Auswahl der Schriften über die Industrialisierung Deutschlands, das sich, obwohl anfänglich im Hintertreffen, England gegenüber bald behaupten sollte. Dennoch hat Wolfgang Ruppert mit seiner Geschichte der Fabrik etwas völlig Neues geschaffen. In seiner detailgenauen, stellenweise spannenden Dokumentation beschreibt er die Entstehung der Fabriken aus den Handwerksbetrieben heraus und ihre technische Entwicklung über die drei Phasen der Industrialisierung bis hin zum neuesten Stand der Mikroelektronik.

Aber er beläßt es nicht beim (gewiß nicht spröden) Text. Ein völlig neues Verständnis schaffen sowohl die nicht nur dokumentarisch interessanten, größtenteils alten Photographien, die die Vorstellungskraft stärken, als auch die erläuternden Texte. Sie ergänzen den fortlaufenden Text in einer Weise, daß der Zuschnitt dieses sauber, ja anspruchsvoll gestalteten Buches auf eine wirklich breite Leserschaft deutlich wird. Denn, so der Historiker Ruppert: «Technische Einrichtungen der Maschinensäle, die Zuordnungen von Werkstätten veranschaulichen nicht nur die Mechanisierung und Automatisierung, sondern auch Arbeitsabläufe und Arbeitsbedingungen. So ist die Geschichte der Fabrik auch inmer untrennbar die Geschichte der Arbeitenden: der Industrieherren und Arbeiter, der Privat-Beamten, Ingenieure und Angestellten.»

Die Fabrik. Geschichte von Arbeit und Industrialisierung in Deutschland


August 1983



edition csc   (01.02.11, 09:03)   (link)  
Die Arbeiter
«Wilhelm Schulze wurde am Soundsovielten des Jahres Soundsoviel geboren. Er besuchte die Volksschule, wurde Arbeiter, diente beim x-schen Regiment, heiratete später, hatte Kinder und starb.

Das ist die Lebensgeschichte von Millionen. Geboren in Not und Unwissenheit, gelebt in Not und Unwissenheit, gestorben in Not und Unwissenheit. Vom vierzehnten Lebensjahr an ein Tag gleich dem anderen. Um sechs Uhr morgens aufgestanden, um sieben in der Werkstatt, zwischen zwölf und eins eine karge Mahlzeit, zwischen sechs und acht zurück in ein unfreundliches Heim. Die Ereignisse des Lebens: Soundso oft, soundso viele Wochen krank gewesen, soundso oft, soundso viele Wochen arbeitslos, schließlich ein paar Urlaube, um zu heiraten, zu taufen oder zu begraben.»

Mit dieser eindringlichen Schilderung von Friedrich Stampfer aus der Maizeitung des Jahres 1908 bzw. mit der Zeile «Und wär' es nur das Brod allein ...» aus einem Streiklied von 1870 beginnt Wolfgang Ruppert sein Buch Die Arbeiter — Lebensformen, Alltag und Kultur. Wobei ein besonderes Gewicht wohl der vorangestellten Photographie (etwa) aus dem Jahr 1892 zukommt, die einen Bleistiftarbeiter mit Frau und Kindern zeigt.

Eines dieser Kinder ist Rupperts Großmutter Johanna Großberger. Ihrem Andenken hat es der Historiker des Jahrgangs 1946 gewidmet, denn: «Die Lebensumstände aufzuklären, die sie geprägt und die über ihre Erziehung in meine eigene Kindheit gewirkt haben, ist als Motivation in dieses Buch eingegangen.»

Diese Motivation entspricht der Kontinuität der Arbeitsweise des Herausgebers Ruppert, Geschichtsbewußtsein über die Spurensuche im Umfeld der eigenen sozialen Herkunft, hier der fränkischen Arbeiterschaft, herzustellen. Denn «so, wie die Verständigung zwischen den verschiedenen gesellschaftlichen Schichten etwas Wesentliches für die demokratische Gesellschaft ist», so Ruppert, «ist es auch wichtig, ein klares Bewußtsein seiner eigenen Identität zu entwickeln.» Und die sei nun mal nicht alleine in der als Deutscher gegeben.

Wie in seinen Büchern Lebensgeschichten und Die Fabrik arbeitet Ruppert, Professor für Ästhetik und Kulturgeschichte in Bielefeld, mit der Photographie als dramaturgischem Mittel, stellt sie als Quelle für den Alltag, die Lebensformen, für die Arbeiterkultur schlechthin zwischen die Zeilen. Auch hier herrscht die Klarheit der ruppertschen Konzeption: war doch die Photographie das erste Medium, über das die Arbeiterschaft (aus finanziellen Gründen) wirklich verfügen konnte — im Gegensatz zum viel teureren Gemälde.

So wird das Prinzip, nicht im wissenschaftlichen Detail steckenzubleiben, sondem authentisches Photomaterial mit einzubeziehen, besonders deutlich beispielsweise am Kapitel Trautes Heim — Glück allein? Arbeiterwohnen: Die Photographie, die das eingeengte Leben im Berliner Krögelhof um 1900 zeigt, unterstreicht aufs eindringlichste die Wohnsituation der Arbeiter, bedingt durch ein Anwachsen der Bevölkerung des deutschen Reiches von 41 auf 65 Millionen zwischen 1871 und 1910.

Die Enge in den Städten erklärte sich vor allem durch die Landflucht, ausgelöst von der Masse der Arbeitssuchenden. Dabei konnte der alleinstehende Arbeiter sich eine eigene Wohnung nicht leisten. Er fand Unterkunft allenfalls beim Meister oder als sogenannter Kostgänger bei einer fremden Familie. Doch auch wer verheiratet war, lebte auf engstem Raum, zumal dann, wenn er, was häufig genug vorkam, mit Frau und Kindern in ein Zimmer der elterlichen Wohnung umziehen mußte — weil er mal wieder arbeitslos geworden war.

Ruppert hat, gemeinsam mit rund dreißig speziell ausgewiesenen Historiker-Kollegen, eine allumfassende Darstellung des Lebens derjenigen vorgelegt, die immer unter Mängeln zu leiden hatten, da ihnen sowohl der (ökonomische) Anteil am Arbeitsprodukt als auch der an politischer Macht verwehrt wurde.

Aber er hat auch aufgezeigt, wie sich im Lauf der Jahrzehnte aus den Entsagungen des Alltags eine eigene Kultur herausgebildet hat: die Arbeiter- und Volksbildung, der Arbeitersport, die Naturfreundebewequng, die Arbeiterpresse, das eigene Theater, der Film, die Photographie oder die Arbeiter-Radio-Bewegung. Gesonderte Kapitel in diesem 512 Seiten starken Buch mit über hundert Abbildungen halten Alltägliche Existenz, Utopien, Ziele und konkrete Schritte oder die Politische und gewerkschaftliche Selbstorganisationion fest. Im letztgenannten finden beispielsweise die proletarische Frauenbewegung oder die christliche Arbeiterbewegung eine im Detail genaue Würdigung.

«Zu tief», schreibt der Herausgeber in seiner Einleitung, «scheinen die Demütigungen im Arbeitsalltag, die vorenthaltene Anerkennung in der Gesellschaft der vergangenen hundertvierzig Jahre auch an gegenwärtige Erfahrungen zu reichen, als daß die Identität vieler Arbeiter durch gestiegene Löhne und erworbenen Konsum allein gefestigt genug wäre, um sich den leidvollen Erfahrungen an die eigene Geschichte aussetzen zu können.»

Er sieht den unverkennbaren Bruch der Arbeiterkultur, weil «ihre Traditionsvermittlung (etwa seit den sechziger Jahren) nicht mehr selbstverständlich» ist. Dies scheint einer der Hauptgründe für Ruppert gewesen zu sein, dieses Schwergewicht Werk vorzulegen. Denn «gerade in einer Zeit der Massenarbeitslosigkeit, in der wir gegenwärtig stehen, ist damit dieser kulturelle Ausdruck, die Beschäftigung mit dieser Kultur eine ganz wichtige Dimension unseres zeitgenössischen kulturellen Lebens, unseres Geschichtsbewußtseins und damit auch unserer Möglichkeiten und Fähigkeiten, umzugehen mit diesen Erfahrungen der Gegenwart und sie in der Zukunft auch besser zu lösen, als wir das gegenwärtig tun.»

Die Arbeiter. Lebensformen, Alltag und Kultur


November 1986
















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