Unterschiede

Meine Güte, wie recht Birgit Vanderbeke hat. Wie hat die — in ihrem Roman Ich sehe was, was Du nicht siehst — verwundert von Berlin nach Südfrankreich Übergesiedelte geschrieben? «Ich hatte daran gedacht, daß nicht überall alles erlaubt ist, mir waren Hinterhäuser, zugesperrte Vorderhaustüren und die Revolution eingefallen, und mir waren etliche Schilder vor Augen gekommen, auf denen gestanden hatte, daß etwas nicht erlaubt ist; ich hatte gesagt, hier scheint einiges erlaubt zu sein, was woanders verboten ist. René hatte mir geholfen und gesagt, nun, in New York zum Beispiel darf man fast nirgends rauchen. Jo hatte abgewinkt und gesagt, versuchen können sie es, einem dies und das zu verbieten, aber es wird hier nicht klappen, und dann hatte er einen Schluck getrunken und zu René gesagt, was will ich auch in New York: nicht trinken, nicht rauchen und den Frauen nicht mehr auf die Beine gucken, das machen sie nicht mit mir.» Und richtig: Auch außerhalb der Literatur passiert sowas. So wies Madame Reverchon im beschaulich-betulichen, hochprovencalischen Reillanne in einem Gespräch über südfranzösische Gepflogenheiten ausdrücklich darauf hin, daß es in Marseille erst gar keine Papierkörbe gebe. Es würde sie ja doch niemand benutzen. Die etwa fünfzigjährige, sehr gepflegte bürgerliche Dame setzte dann noch ein d’accord drauf: Das ist in Ordnung, da haben die Menschen Arbeit, und der Dreck kommt zweimal täglich wieder von der Straße. Verbote? «Die Kinder wollten keine Pfefferminzlimonade», so Vanderbeke, «sondern Coca-Cola, und ich fragte die Eltern, ob sie Coca-Cola haben dürften, weil ich gewohnt war, daß Kinder keine Coca-Cola haben dürfen. Die Eltern schauten mich erstaunt an und sagten sehr verständnislos, warum nicht. Ich sagte, kann sein, wir müssen noch einiges lernen, wie es hier ist.»

Es fällt mir nicht schwer, es an mir selbst zu beobachten: die deutsche Mentalität hat sich über die Jahrzehnte hin in meinen Hirnlappen festgebissen. Kaum habe ich die Grenze im Nordosten überfahren und mich in dieser aberwitzigen Verbesserung Mitteleuropas — dieser nach jahrelanger Beobachtung des Straßenverkehrs der Überfahrung der aus Frankreich in die Bundesrepublik Deutschland führenden Kreisstraße, dieser in monatelanger, mehrpersoniger Beratung aus dem Ruder gelaufenen und wider jede Klarsicht dennoch vor die Köpfe der immer geradeausgerichteten Verkehrsteilnehmer gesetzten neuerlichen Umordnung zur Schaffung der Neuordnung einer Ordnung — wieder einigermaßen zurechtgefunden, wobei es, wohl wegen der mittlerweile abhanden gekommenen kleinen grenzverkehrenden deutsch-französischen Freundschaft im Elsaß bereits beginnt, sehr deutsche Formen anzunehmen —, schaltet das Denkgetriebe auf Automatik. Es ist darauf zu achten, die durchzogene Linie nicht mehr zu berühren, nie zu vergessen, den Blinker zu setzen, nicht bei Rot die Straße zu betreten, sich an der Volkszählung zu beteiligen. Das geht in deutschen Landen soweit, daß viele Menschen sogar vor Banken in Furcht erzittern, weil sie sie für eine Behörde halten. Und die Bankbeamten der Kreditinstitute führen sich auch dementsprechend auf. Ich blicke erhaben auf die hinab, die sich diesem Kadavergehorsam unterwerfen. Aber ein bißchen dieser Mumienanbetungsmentalität trage ich schon in mir. Die Versuche des Vaters, mich eher aufs Gegengeleis zu hieven, waren nicht alle erfolgreich. Aber die autoritätshörige — da war sie gänzlich unfranzösisch — Mutter hatte ja die Befehlsgewalt über das gefälligst erwachsen zu werdende Kind. Und erwachsen wird man nunmal durch Anpassung.

In Frankreich haben Begriffe ihre Heimat, bei denen die Deutschen so gerne die Augen verdrehen — einige vor Glück, weil sie dabei das bequeme Denkschema im Erinnerungskopf haben, alles fallenlassen zu dürfen, auch die Scheiße in den Windeln der Gören. Und die wiederum, die damit so schlimm durchgefallen sind, daß sie ihre Alten dafür heute am liebsten mit dem Gegenteil dessen provozieren, was die damals für laisser-faire oder laisser-aller hielten: immer sauber frisiert, am besten auch das Auto, und bloß nicht anecken, schon gar nicht mit dem Auto. Daß dieses französische, vor allem im Süden beheimatete Sein- oder Gehenlassen sozusagen aus dem Substantiellen herrührt, nämlich den anderen in seinem Sein nicht zu behindern, also dem Nachbarn auch nicht meine ganz persönliche Interpretation von Freiheit aufzwingen zu wollen, wird bis heute auch als Mißverständnis nicht anerkannt.

Nun gut, es sind auch in Frankreich lediglich die kleinen, die inneren Freiheiten. Denn unterm Strich erhalten sie dort genauso ihre Befehle von der Obrigkeit, ihre Strafmandate, ihre Steuerscheußlichkeiten. Und noch um einiges rigider als in Deutschland. Mitte der neunziger Jahre hatten sie den TÜV eingeführt in France. Die deutsche Dekra hat die Schulung übernommen, man sah’s auf allen Straßen. Die Franzosen hatten begonnen, Golf und Mercedes in ihr Herz zu schließen, auch wenn zuhause die schöneren Autos gebaut werden. Gut, der Golf wurde schon immer ganz gerne von denen chauffiert, die in der klassenlosen Gesellschaft meinten, mit deutscher Qualitätsunauffälligkeit auffallen zu müssen. Aber Mercedes! Wer 1990 mit seinem etwas größer dimensionierten Stuttgarter Gefährt (peinlich genug) tatsächlich einen Ausfall hatte, mußte, je nach Pannenlage, auf Hilfe aus Lille, Paris, Bordeaux, Lyon oder Marseille warten. Zehn Jahre später verdichtete sich während einer der vielen Reisen durchs Land von Citroën, Peugeot oder Renault zunehmend der Eindruck, Frankreich befände sich schon wieder einmal kurz vor der feindlichen Übernahme aus dem Osten. Glücklicherweise hat sich das wieder gelegt. Jedenfalls außerhalb des Großraums Strasbourg.

In Erstaunen kann einen die französische Vollbremsung versetzen, wenn ein Gendarm oder einer von der Police National auch nur den Finger ausstreckt, um sich an der Nase zu kratzen. (Ein solches Verhalten wurzelt weniger in Ehrfurcht oder gar Angst vor der Obrigkeit — man will einfach keinen Ärger mit denen, die ohnehin am längeren Hebel sitzen.) Wo der Flic lässig am (mittlerweile auch östlich des Grenzflusses so beliebten) Verkehrskreisel neben seinem blauen Kastenwägelchen steht, installiert man in der rechtsrheinischen Republik bei einer Verkehrskontrolle Straßensperren mitsamt kriegstauglichem Kompagniefuhrpark. Stammt das aus der Zeit, als sechzig Millionen Deutsche die sechs restlichen in die Mausefalle Straße des 17. Juni zu locken versuchten?

Entscheidend ist die immer spürbare Sicherheit der Franzosen, das Fallbeil aus dem Keller der Geschichte holen, den politisch degenerierten Adel wieder enthaupten zu können. Man stelle sich das in Deutschland vor: Die Menschen gingen in Massen auf die Straßen, um (erfolgreich!) ein Gesetz zu verhindern. Das ist ein Beispiel! Die Deutschen feiern lieber ihren Superstar aus dem Osten, diese ehemalige «Sekretärin für Agitation und Propaganda» bei der FDJ», die ihnen den Besitzstand wahrt. Auch wenn sie bald keinen mehr haben werden. Jedenfalls der größte Teil von ihnen.

Sicher hat Kurt Tucholsky nicht ganz Unrecht, wenn er in Paris, den 14. Juli schreibt, viele wüßten gar nicht mehr, aus welchen Gründen sie zur Fête Nationale auf den Straßen tanzten. Es dürfte sich noch ein wenig mehr verflüchtigt haben als vor rund achtzig Jahren, als er das notierte. Aber spielt das noch eine Rolle? Die Bereitschaft, die Bastille zu stürmen, ist grundsätzlich vorhanden. Wie im Mai 2002, als es galt, Le Pen zu verhindern. Und wenn Nicolas Sarkozy so weitermacht, wird er, ohne Carla, nach Sainte-Hélène übersiedeln müssen.

Und was machen die Deutschen mit Sarkozys Freundin, ihrer mecklenburgischen Napoleonine vom Heiligen Damm? Werden sie auf die Straße gehen, werden sie sie nach Hiddensee verbannen? Wohl kaum. Vermutlich werden sie sie nächstes Jahr zur Kaiserin krönen.
 
Fr, 30.05.2008 |  link | (2602) | 0 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Linksrheinisches















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