Familienbesuch

Wir machen spätnachmittags in der Ardèche Station an der Route Nationale 102, noch vor Aubenas, an einer dieser direkt an den Querverbindungsstrecken gelegenen Gasthäusern, die von Touristen gemieden werden, weil zu den üblichen Mahl-Zeiten immer so schrecklich viele LKW davor geparkt sind. Wer nur zum Anschauen schöner Schluchten gekommen ist und ein Jahr zuvor in Castop-Rauxel oder Potsdam das Kajak-Abenteuer-Hotel mit Halbpension gebucht hat oder lediglich mal eben wieder auf die Autoroute nach Spanien will, der weiß nicht, weshalb dort immer soviel los ist. Hier würde sich kein Koch getrauen, schlechtes Essen zu einem etwas gehobeneren Preis zu servieren. Die Routières würden den Maître und seine Maîtresse mit ihren Töpfen krönen, wenn auch im umgekehrten Sinn. Und schmeckte es ein zweites Mal nicht wie zuhause schlicht, aber schmackhaft, dann wären die riesigen Schotterparkplätze für alle Zeiten unverkäuflicher Baugrund.

Die Tür geht auf, und herein kommt eine lärmende Meute. Mehrere Erwachsene und Kinder. Schlagartig ist alle Ruhe dahin. Ein radauartiges Stühle- und Tischegerücke setzt ein. Es läßt zunächst ein wenig nach, um sich dann in infernalisches Gebrüll umzuwandeln. Diese Menschen sprechen nicht miteinander, sie schreien sich an. Mit lachenden, fröhlichen Gesichtern. Irritiert schauen wir, der Tageszeit gemäß, wenigen Gäste in die Runde. Mein Blick trifft den der Bedienung. Wir schütteln synchron die Köpfe. Wanitfa, der von Menschen erzeugter Lärm eigentlich sozusagen von Hause aus geläufig sein muß, schaut entgeistert bis entsetzt.

Ich versuche, die Sprache einzuordnen. Aha. Hebräisch. Zwischendrin ein paar französische Fetzen. Vermutlich Familienbesuch aus Israel. Die Bedienung geht nach einer Weile an die Tische zu den nun doch arg krawalligen Gästen und ermahnt sie. Es seien schließlich noch andere Gäste hier. Mittlerweile ist es auch mir unangenehm, obwohl ich zu wissen meine, was hier los ist. Deshalb mache ich ein unbeteiligtes Gesicht. Wanitfa murmelt, sie verstehe mich nicht. Ich würde mich doch normalerweise schon aufregen, wenn irgendwo ein Väschen umfalle oder ein Hündchen kläffe. Das Väschen ignoriere ich, ein Hündchen, entgegne ich hingegen, diese geradezu perverse französische Unart der Tierliebe, diese Fifi-Seuche, die ich ohnehin ausrotten würde, sobald ich an der Regierung sei, sei etwas völlig anderes. Das hier ... Wie bitte? Sie faßt es nicht.

Ich will es zu erklären versuchen. Hebräisch sei es. Sie kämen aus Israel. Ob das ein Grund sei, alle anderen mit einem derartigen Krach zuzumüllen? Genau, gebe ich zu verstehen, das sei der Grund, weshalb sie es dürften. Ich ernte abgehackte Sätze, die als Synonym für Sprachlosigkeit gelten könnten. Irgendwas mit sie sei ja einiges gewöhnt von ihren Landsleuten, aber ... Eben drum, kann ich mir nicht verkneifen, wenn euer Nachwuchs bis morgens um fünf irgendeine vor Jahren gewonnene Meisterschaft gegen das Lieferantentorblech des Centre Bourse footballert und ausnahmsweise auch ihr Beurs euch als Franzosen fühlt, dann darf ich schlaflose Nächte lang von der vereinten Grande Nation tagträumen, aber ... Sie ist am Ende ihrer Sprache angelangt. Das gibt mir die Möglichkeit eines weiteren Erklärungsgversuchs.

Sie haben früher schweigen müssen. Immer. Über Jahrhunderte. Immer und immer und überall. Und wenn sie zusammen sind, machen sie Lärm. Sie machen sich Mut, wenn sie in der Familie, unter Freunden sind. Normalerweise machen sie das nur zuhause in Israel. Dort sagt ihnen niemand mehr, sie sollen schweigen. Hier scheint mir jetzt die Wiedersehensfreude ein bißchen eine Rolle zu spielen. Ich hab das früher im Gelobten Land auch immer ziemlich verflucht. Es ist ein geradezu infernalischer Radau. Schlimmer als in Marseille, der Stadt, in der der Achtundvierzigstundenlärm erfunden wurde. Viel schlimmer. Vor allem bei Familienfesten. Da drehen selbst die ansonsten ruhigeren Temperamente geradezu durch. Und es wird dauernd irgendwas gefeiert. Und hier und jetzt haben sie eben auch was zu feiern. Zuhause sagt ihnen niemand mehr, sie sollen die Klappe halten, weil sie sonst eine draufbekämen. Ich vermute auch, daß die legendäre Unhöflichkeit der Israelis, das immerwährende schlechte Benehmen damit zu tun hat. Sie machen einfach, was sie wollen. Das dürfte auch der Grund sein, daß sie heute erst zuschlagen und dann erst fragen, was denn eigentlich los ist. Danach. Niemand soll ihnen mehr was vorschreiben. Niemand soll ihnen mehr etwas wegnehmen. Nie wieder darf ihnen jemand mehr an die Haut! Es ist äußerst schwierig, das in den hiesigen Breiten zu vermitteln.

Ich tue etwas, was mit Sicherheit noch vor kurzer Zeit selbst in meinen kühnsten Heldenträumen nicht geschehen wäre — ich gehe zu den Israelis hin und krame meine wenigen Brocken Hebräisch zusammen, die noch übrig sind von meinen früheren Reisen in das Land, dessen Bürger ich beinahe einmal geworden wäre (hätte nicht der Sechs-Tage-Krieg begonnen, der mich vor einem soldatischen Dasein in Nahost abhielt und lieber in Mitteleuropa hat revolutionär sein lassen). Ich grüße freundlich und wünsche einen guten Tag, der ja in Israel mit Frieden beginnt. Ich bitte um Verständnis dafür, daß solcher Ausdruck an Lebensfreude für hiesige Ohren doch etwas ungewohnt sei. Und ich bastele noch die Bemerkung zusammen, man habe hier vielleicht auch nicht diese triftigen Gründe. Ich blicke in sehr erstaunte Augen. Ein älterer Herr steht auf, geht auf mich zu und umarmt mich. Er wünscht mir Frieden. Für alle Zeiten. Ich grüße zurück, wünsche dies ebenso. Ich wende mich ruhig um und gehe an unseren Tisch. An ihm sitzt eine zwar zauberhafte, aber auch fassungslose Beurette. Und sie hat Tränen in den Augen. Sie schüttelt ganz sachte den Kopf. Wir schweigen ein wenig. Alle. Es wird dann wieder lauter, aber doch wesentlich reduzierter. Es wird nicht lange dauern, und der Pegel wird sich wieder nach oben orientieren. Es ist so. Und es ist auch gut so.

Wir bitten die Bedienung, zahlen zu dürfen. Sie nickt und signalisiert ihr sofortiges Kommen. Als ich den Blick wieder etwas senke, steht ein niedliches, entzückendes — ach was, alle Kinder sind entzückend — etwa vierjähriges Mädchen mit großen runden, fast schwarzen Augen und mittelblonden Locken am Tisch. Es hält etwas Weißes in den nach oben geöffneten Händchen, das wie ein Tuch aussieht. Es murmelt etwas, das ich nicht verstehe. Ich beuge mich zu ihm hinunter. Nein. Ich stehe auf und gehe in die Hocke, auf seine Höhe. Es streckt mir die Händchen entgegen und bedeutet mir, das Tuch aus der Hand zu nehmen. Ich sehe aus den Augenwinkeln, daß alle an den beiden Tischen Sitzenden die Szene aufmerksam beobachten. Ich folge behutsam der Aufforderung und nehme das Tuch. Ich schlage es auf. Es entfährt mir ein lautes mon Dieu! Es ist ein kleiner, goldfarbener Magen David, ein Davidstern. Nun fehlen mir die an sich schon dürftig vorhandenen Worte. Es durchströmt mich eine schier unglaubliche Freude. Und zugleich ist es mir unsagbar peinlich. Dafür, daß ich einmal meine Feigheit etwas niedergerungen habe, soll ich gleich so belohnt werden. Ich küsse die Kleine auf beide Wängchen. Ich sehe, wie Wanitfa sich zu ihr hinunterhockt und sie in den Arm nimmt. Ich überzeuge mich davon, daß dort, wo soviel Überwindung vorhanden war, noch ein bißchen mehr Kraft stecken muß, und gehe zu ihnen hin. Ich konzentriere mich, um einen einigermaßen verständlichen Satz zuwege zu bringen. Ich bedanke mich mit ruhigen, klar gesprochenen Wörtern. Dann gehe ich zu jedem einzelnen hin, umarme ihn und kehre ohne einen weiteren Blick an unseren Tisch zurück, bitte Wanitfa, die Rechnung zu begleichen, verlasse das Restaurant und gehe langsam in Richtung Auto.

Draußen fällt mir unser Gespräch wieder ein über Humor und Witz und die schweinerne Wurst, die sich mit Gottes Hilfe in Fisch verwandelt, über Christen- und Judentum, den Islam, über Religionen im allgemeinen, das wir geführt hatten auf dem Weg von Le Puy an und dessentwegen das eben Geschehene wohl geschehen mußte. Ich nehme es wieder auf und schließe es zugleich ab:

Nun denn. Jacques Monod meinte, der Mensch müsse seine Vergessenheit am Rande des Universums endlich erkennen. Es sei taub für seine Musik und blind für seine Hoffnungen, Leiden und Verbrechen. Darauf das kleine Männchen mit die listige Oigen, Albert Einstein: Wenn das Weltall die Frucht blinden Zufalls sein sollte, so sei das so glaubwürdig wie eine Druckerei, die in die Luft fliege und alle Buchstaben wieder zur Erde fielen — aber in Form eines fehlerfreien und gedruckten Lexikons. — Immerhin war Monod ebenfalls Naturwissenschaftler. Na ja, wohl zuerst Biologe, nein, Biochemiker, na, das ist ja sowas ähnliches, und dann erst Christen-Philosoph. Und sehr, sehr komisch finde ich auch Einsteins Antwort auf die Frage, ob er an Gott glaube — womit wir noch näher am jüdischen Witz wären. Einstein meinte, er brauche ihn nicht. Denn er sähe ihn ja täglich bei der Arbeit.
 
Mo, 09.06.2008 |  link | (2207) | 1 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Unterwegs


schmollsenior   (09.06.08, 16:15)   (link)  
Umgeleitete Post von hap
Verehrter Herr Stubenzweig, dies ist ein sehr schönes, sehr persönliches, sehr zutreffendes Stück deutscher - europäisch-kosmopolitischer - Lebensgeschichte. Ja, möglicherweise gibt es doch Menschen, die sich mit dem Alter auch der Weisheit nähern. Das wäre schön, denn es gibt demgegenüber eine Menge Menschen, die im Alter, ganz ohne Alzheimer und Demenz,aus Bequemlichkeit vetrotteln. Was soll man da machen? Na ja, weitermachen, wasnsonst?

Hans Pfitzinger















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Jean Stubenzweig motzt hier seit 5805 Tagen, seit dem Wonne-Mai 2008. Letzte Aktualisierung: 22.04.2022, 10:42



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