Schmidtiomanie

«Nur die Phantasielosen flüchten in die Realität.»

Unsereins kann im Bett nur fernsehen. Denn dafür ist so ein Gerät ja da. Einschalten, und der Schlaf setzt in der Regel innerhalb kürzester Zeit ein. Dabei spielt es keine Rolle, ob Aida, Annette Gerlach, Heino, Isabelle Huppert, Jörg Kachelmann, der Ratzinger oder le Sarkozy oder Sarastro oder gebrochene japanische Heilige Dämme oder sonstige Überschwemmungen die 16:9-Bühne mehr oder minder beleben. Ein paar Minuten, und das Wüstenmännchen bläst mir eine komplette Sahara in die Augen. Weg bin ich. Bis Morpheus seinen Wagen wieder in die Garage schiebt. So ähnlich hat ein gewisser Schmidt den ersten Hahnenschrei beschrieben.

Doch es soll ja Menschen geben, die im Bett lesen. Nicht nur Mimi ihren Krimi. Auch Arno seinen Schmidt. Mit dessen Zettels Traum wird das allerdings schwieriger. Die meisten deutschsprachigen Betten haben dafür ja zu wenig Platz (weshalb die Ausgabe des S. Fischer-Verlags von 1977 ja eigentlich auch auf dem eigens dafür getischlerten Lesepult im eigens dafür gebuchbinderten Schuber liegenbleibt; aber heute wurde es aus Gründen der Bequemlichkeit auf dem Fußboden aufgeschlagen, um nach langer Zeit mal wieder wieder darin zu lesen). Zudem: dreispaltige Träume können einem die Nacht derart zerteilen, daß einem nach dem Ausparken aus dem Lager nicht mehr klar ist, wer Morpheus war.

Und so notierte der offensichtlich schlafgestörte Postillon eines Humors des Angewidertseins, dieser Komödiant für leidensbereite Schlaflose aus dem Heidedorf Bargfeld selbst einmal:

«Schlafbücher müßte es geben: von zähflüssigstem Stil, mit schwer zu kauenden Worten, fingerlangen, die sich am Ende in unverständliche Silbenkringel aufdrieseln; Konsonantennarreteien (oder höchtens mal ein dunkler Vokal auf ‹u›): Bücher gegen Gedanken.» [Nebenmond und rosa Augen, Haffmans Verlag, Zürich 1991, Seite 30ff.]

Dem zum Trotze: Für diejenigen, die's partout nicht lassen können, mit Schmidt ins Bett zu gehen, aber auch für diejenigen, die als Koksverächter alle Nase lang eine kreditkartenlange Linie Lästerlichkeiten benötigen, hat Bernd Rauschenbach, quasi oberster Schmidt-Verweser, eine kleine Schmidt-Insel für Fernsehflüchtlinge geschaffen:

Arno Schmidt für Boshafte

Mit der Rückumschlagaufschrift: «Ich bin nicht auf die Welt gekommen, um Rücksichten zu nehmen.» Und mit einem Hinterherruf von Bernd Rauschenbach versehen, in wohltuender Seniorenrechtschreibung und genüßlich gelesen, über Arno Schmidts Boutaden, darin: «(Schmidts Behauptung, ein Kritiker habe ihn «den umgestülpten Mastdarm des Teufels» genannt, läßt sich allerdings nicht verifizieren.) [...] Schmidts Ich-Erzähler, die in dieser Auswahl vornehmlich zu Wort kommen, sind meist leidenschaftliche Einsame, die sich wie im rasenden Sturz durch die Welt bewegen scheinen, von der sie wissen, daß sie definitiv nicht die beste ist.»

Und Rauschenbach nimmt auch denen gleich die Schimpfeslaune, die sofort wieder losgreinen ob des terminus technicus Boutade, den das Lexikon mal wieder nicht hergibt, hält es mit Georg Klein, der in der Süddeutschen Zeitung über die Neuausgabe von Schwarze Spiegel schrieb: «Falls man das Gymnasium vor zwanzig oder dreißig Jahren absolviert hat, mag man darüber staunen, was inzwischen nicht mehr als Allgemeinwissen vorausgesetzt werden kann. Muss man wirklich erklären, was ein ‹Vließ›, ein ‹Vagant› oder eine ›Karawanserai› ist? Brauchen ‹Herkules›, ‹Ikarus› und ‹Robinson› eine eigene Anmerkung? Kann man nicht von Grundkenntnissen im Englischen und einem geschichtlichen Basiswissen ausgehen? Wer indes gelegentlich mit den gegenwärtigen Abiturienten und Literaturstudenten zu tun hat, wird die Genauigkeit des Kommentars keinesfalls für übertrieben kleinlich halten.» Allerdings läßt Rauschenbach den außerordentlichen Kunst- und Kulturkritiker Albrecht Fabri diesen Begriff erläutern; wobei er zugleich auf einen weiteren Autor hinweist, der wie andere im Nirgendwo zu enden scheint:

Ein Passus aus Albrecht Fabris 1948 erschienenem Essay Der schmutzige Daumen paßt ziemlich genau auf Schmidts Ausbrüche: « ‹Boutade› nennt man diese Art von Ausspruch im Französischen: ein Wort, für das wir im Deutschen kein Äquivalent haben. Saillie d'esprit et d'humeur definiert es der Dictionnalre der Académie françalse; der Dictionnalre von Littré sagt: saillie d'esprit ou d'humeur. Aber der humeur ist nicht ad libitum in der Boutade, sondern ihr Prinzip und Motor. Eine Boutade ist ein Ventil, durch das sich eine Irritation Luft macht. Daher das Element Rabelais und Münchhausen in ihr: eine Boutade ist hyperbolisch oder überhaupt nicht; sie will abstoßen, provozieren, ihrem Autor Feinde machen; an der Boutade erkennen und scheiden sich die Geister. Darum auch gibt es keine Antwort auf eine Boutade. Eine Boutade ist kein Wort, sondern eine Art von militärischem Signal. Sie ruft gleichsam zu den Waffen; sie zwingt, Positionen zu beziehen; ist man betroffen von ihr, bleibt einem nur, sich drüber zu ärgern; ist man unbeteiligt, mag man sich dran ergötzen.» [A. F., Der schmutzige Daumen. Zweitausendeins, Frankfurt/Main 2000, S. 135 f.]

«Selten», dann wieder Rauschenbach, «hat ein Schriftsteller in seinen Texten mit solchem Anspruch, mit solcher Macht ‹Ich› gesagt wie Arno Schmidt. Und in seinen Erzählungen und Romanen, die bis einschließlich Zettel's Traum in der Ich-Form geschrieben sind, zwingt Schmidt dem Leser in jeder Zeile, in jedem Satz dieses Ich auf.»

Daß es sich dabei um ein anderes Ich handelt, weder um das der Ich-Sager der achtziger Jahre, die des Politischen überdrüssig geworden waren und sich nach innen geflüchtet hatten, noch um das der prospektiv-dymanischen Ich-Protzer, die im dritten Jahrtausend damit ihr inhaltsloses Egoversum aufzufüllen trachten, sondern um das eines Schriftstellers, dem es bitter ernst war in seinem Witz, das muß hoffentlich nicht erwähnt werden. Möglicherweise ist Arno Schmidt für Boshafte — unlängst erstanden für sechs Euro im Bücherbogen am Savignyplatz, wo so etwas immer herumliegt am Kassentisch (Schokoladenbonbonabfangtische für Menschen, die doch unbedingt schnell nur dieses eine Buch kaufen wollten) — ja tatsächlich ein Einstieg auch für Jüngere. Und sei's drum, daß sie mal miserable oder gewollt falsche, von keinen Oberlehrern ins Gesetzbuch gehobene Rechtschreibung beziehungsweise Interpunktion wie die von Schmidt mit Inhalten gefüllt sehen wollen. Rauschenbach beschreibt's taktisch weiser, geht mit seiner (gerechtfertigten) Schmidt-Preisung seriöser vor:

«Schmidts Aussprüche sind keine Diskussionsbeiträge zur Lösung von Problemen, sie sind die Kriegserklärungen eines von Schopenhauer geprägten Pazifisten an eine Welt, die ‹besser nicht wäre›. [I,I,48]

Der Leser des vorliegenden Florilegiums der Bosheiten wird nicht erwarten, den Identifizierungs-Effekt bei diesen aus jedem Zusammenhang gerissenen Zitatbrocken zu erleben — der kann nur bei der Lektüre vollständiger Werke auftreten. Hier aber hat er die Chance, Schmidts Aussprüche und Ausfälle in ihrer Isolierung als die Fundamentalprovokation wahrzunehmen, die sie ist. Er mag sich ruhig ‹dran ergötzen›. Doch manchmal sollte er sich auch ins Auge geschlagen fühlen — ‹Es ist eine der Aufgaben des Künstlers, boshaft zu sein !› — hoffentlich gibt er dann Funken.»


Oder ganz anders, vielleicht verlagstechnisch gedacht: Eigentlich könnte der Titel ja auch lauten: Schmidt für Journalisten. Oder Schmidt für Bluffer. Also: Schmidt für unsereins. Denn Rauschenbach hat doch tatsächlich unter jedes Textfitzelchen genaue Nachweise gesetzt, etwa so:

«llustrierte : die Pest unserer Zeit ! Blödsinnige Bilder mit noch läppischerem Text : es gibt nichts Verächtlicheres als Journalisten, die ihren Beruf lieben.» [I,I,206]

Die erste I steht innerhalb der Bargfelder Ausgabe für Werkgruppe I: Romane, Erzählungen, Gedichte, Juvenilia
Die zweite I für Band I, darin: <Schwarze Spiegel, nämlich Seiten 199 bis 260.

So sich denn also der berufsliebende Mensch der Mühe unterzieht, hinten hineinzuschauen, um seinen Lesern oder Hörern oder Zuschauern mitteilen zu können, was er so alles in seiner Bibliothek stehen und gelesen hat, wird er allerdings vermutlich gewahr, noch viel schreiben zu müssen, bis er an die Schmidtschen Quantitäten heranreicht. Von den Qualitäten mal abgesehen.

Nun, es soll ja auch Menschen geben, beispielsweise Hans Pfitzinger, die freiwillig ganze Schmidt-Passagen lesen (von kompletten Büchern ganz zu schweigen). Zum Beispiel Seelandschaft mit Pocahontas. [I,I,391-437]

«Denken. Nicht mit glauben begnügen: weiter gehen. Noch einmal durch die Wissenskreise, Freunde! Und Feinde. Legt nicht aus: Lernt und beschreibt. Zukunftet nicht: seid. Und sterbt ohne Ambitionen: Ihr seid gewesen. Höchstens voller Neugierde. Die Ewigkeit ist nicht unser (trotz Lessing!) ...»

Aus dem guten alten, leider verblichenen Stahlberg-Verlag in Karlsruhe (der Arno Schmidts Bücher einst verlegte, später dann Haffmans, auch er hinüber), also Stahlberg von 1959, hier zitiert nach dem Fischer-Taschenbuch aus dem Jahr 1966.

Lesen ist schrecklich gehört zu meinen elementarsten Schmidt-Botschaften, einem Auszug aus Nebenmond und rosa Augen (laut des kleinen Schmidt-Breviers Werkgruppe I, Band 4, Seiten 135 – 140). Doch ich will die Gelegenheit nutzen, nochmal nachzuladen:

«Eigenen Gedanken soll ich mich überlassen? Davor möge mich Gott bewahren! : meist habe ich gar keine; und wenn wirklich, dann sind die auch nicht erste Qualität. Ich habe ja alles versucht; ich bin wissenschaftlich geworden ; ich habe mir eine ganze Sammlung von Werken über den Mars angelegt, ausgesprochene Autoritäten, von Schröter über Schiaparelli bis Antoniadi und Graff : wenn ich dann im Geist über den rostroten Wüstenboden von Thyle I oder II wanderte, und in flechtenüberkrustete Felslabyrinthe einbog — bummelte nicht um die nächste Ecke schon Frau Hiller, einsam und listig? (Oder, noch schlimmer, die verdorbene Kleine vom Drogisten an der Ecke !). Geschichtliche Werke? : ich habe mich gewissenhaft in das Zeitalter Cromwells vertieft ; und unverzüglich die Kollegen durch ein trotziges und verwildertes Benehmen überrascht; tat seltsame Schwüre : ‹Bei Gott und dem Covenant!› ; unserm Einkäufer schlug ich vor, seinen Sohn zu taufen ‹Obadja-bind-their-kings-in-chains-and-their-nobles-with-links-of-iron›.»

Ich mag den Alles-Plattmacher und Datensauger Amazon nicht. Bücher werden von mir im Buchhandel gekauft, und wenn's gar nicht anders geht, dann gibt es andere Versandhändler, die auch kostenlos und schnell liefern. Sogar den Nachwuchs und dessen Umgebung habe ich mittlerweile so weit hingebogen gekriegt, das einzusehen. Jetzt darf ich alles besorgen.
 
Do, 17.07.2008 |  link | (4065) | 3 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Kopfkino


fluechtig   (17.07.08, 13:18)   (link)  
Bei Ihnen sind gerade Buchtage? :)

Ich bin ja auch ein Büchermensch, habe in den Regalen keinen Platz mehr, stapele auf dem Fussboden und hinter dem Sofa, aber dennoch kann ich nicht so wirklich mitreden, nicht bei den Klassikern, nicht bei den Beststellern, nicht bei den Neuerscheinungen. Dafür bin ich wohl vielseitig, unvoreingenommen, neugierig geblieben.

So ein Bärchen hatte ich auch bis vor kurzem im Regal. Dann habe ich es verschenkt. Werde es wohl niemals wiedersehen. Und nicht wissen, wie es ihm geht, ergeht, wo es landen wird.


jean stubenzweig   (17.07.08, 13:38)   (link)  
Bücherbewachungsbaerchen
Ja, ich habe sozusagen meine Tage des offenen Buches. Na gut, die habe ich eigentlich immer (aber Neuerscheinungen kommen so gut wie kaum noch vor, und Bestseller sind für mich von jeher des Teufels Erzeugnis). Aber den Arno Schmidt habe ich jetzt tatsächlich bewußt so gesetzt, weil mir das Bännerchen so gut gefällt und ich meine Bücherbewachungsbärchen (für Sie) mal ausgestellt wissen wollte. Und die anderen Tierchen ebenso – die gibt es hier auf dem Lande (bis hinein ins Autochen) überall, und wehe, ich entferne auch nur eines! Was ich auch nicht tun würde, denn sie passen auf, daß ich nicht wieder so viel Schmonzes erzähle.

Aber morgen gibt's mal wieder Kino. Hatte ich auch schon lange nicht mehr.

Schönen, guten Tag!


fluechtig   (17.07.08, 13:48)   (link)  
Sie machen das aber ganz gut, da hat das BBB (Bücherbewachungsbärchen) kaum was zu tun.

Kino. Herrgott, ist das lange her, dass ich im Kino war. Und wenn, dann immer nur solche Filme, in die ich mich schleppen liess, weil sie anderen gut gefielen. Ich sollte vielleicht doch endlich mal meine Prioritäten überdenken. :)

Ihnen auch einen guten und schönen Tag.















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