Eilende Mütter

oder Die Rasenden in den Dörfern1

Es geht um ein Phänomen, das zwar nicht unbedingt regionalspezifischen Ursprungs sein dürfte, mir jedoch in der hiesigen Gegend besonders auffällig zu sein scheint: die Geschwindigkeiten der motorisierten Verkehrsteilnehmer. Seit einiger Zeit bin ich, aus dem tiefen Süden kommend, im hiesigen Raum Mieter eines dörflichen Büros und mehr oder minder gezwungenermaßen auf den Straßen der Umgebung unterwegs.

Auslöser ist ein nachgerade einschneidendes Erlebnis, das ich vor ein paar Tagen hatte: Bei der Einfahrt in einen Ort war ich mit etwa 45 Stundenkilometern beinahe zu schnell unterwegs. Etwas mehr, und ich hätte das circa dreijährige Mädchen überfahren, das mit seinem Fahrrad unvermittelt aus einem Grundstück herausgeschossen kam, weil es wohl die Bremstechnik noch nicht so recht verinnerlicht hatte. Es schaute mich großäugig fragend an, und meine Augen blieben vor Entsetzen geweitet. Ich unterließ es, auszusteigen und der Kleinen vorzubeten, sie möge doch in Zukunft bitte ganz fürchterlich aufpassen. Es würde die Nachlässigkeit der Eltern nicht verstehen, das Tor zwischen Grundstück und Straße nicht geschlossen zu haben ... Andererseits: Wenn Kinder schon nicht dörflich fröhlich vor sich hinradeln dürfen ...

Im Bereich des Kindergartens an der Straße, in dem sinnvollerweise eine Begrenzung der Geschwindigkeit vorgegeben ist, überholte mich in eben dieser 30er Zone schon sehr flott ein PKW — am Steuer eine junge Frau, im Fond zwei kleine Kinder. Es ist dabei unerheblich, daß das Kennzeichen einen Verweis auf eine einheimische Renn-Pilotin ergab, denn Geschwindigkeitsbegrenzungen gelten nunmal bundesweit. Ich halte diese Fahrweise grundsätzlich für unverantwortlich. Doch daß eine junge Mutter ihrem motorsportiven Trieb nachgibt, läßt auf eine mangelnde oder vielleicht eher emotional gebildete Intelligenz schließen. Ich kenne das aus Städten, in denen elterlicherseits lange Zeit für die Einführung einer 30er Zone gekämpft wurde. Als es dann soweit war, wurde ich auf dieser engen Straße bevorzugt von Müttern überholt, die ihre Kinder mit einem guten Siebziger an mir vorbei eben mal noch pünktlich zur Schule bringen mußten.

Bleibe ich auf dem Lande: Möglicherweise ist diese junge Mutter mit ihrem mittleren Managmentsgatten aus dem Moloch Stadt weg- und bewußt in ein kleines Dorf umgezogen, ernährt ihre Kinder in gesundheitserhaltenden sowie ethikfördernden Maßnahmen nach streng ökologischen, auch ökomenischen Kriterien, fragt während eines Biobauerhof-Tages der offenen Tür für bewußt Lebende oder, je nach Lebenseinstellung, Bewußtlebende, nach den hoffentlich unbedenklichen Ingredienzien des angebotenen Bratlings statt -wurst, lehnt Fernsehen für Kinder ab — da dies die reinen Seelen der Kleinen beeinträchtigen könnte —, raucht nicht, trinkt keinen Alkohol, hinterfragt permanent un- respektive soziales Verhalten, fährt ein Vier-Liter-Hybrid-Auto, dessen höherer Anschaffungspreis der Umwelt geschuldet ist, und hat wie ihre städtische Mitmutter im Rahmen einer Bürgerinitiative erst einmal dafür gesorgt, daß in eben diesem Teilstück der Straße eine Tempo-30-Zone eingerichtet wurde. Sicherlich hatte es sie es eilig. Denn zuhause im liebevoll entkernten und mit Panoramafenstern bedachten zweihundertjährigen Reetdachheim wartete der Papa (der mich kurz vor Ortseingang mit seinem Achtzylinder immer schnell noch überholt) der Süßen, der endlich einmal mit ihnen (und ihr?) spielen wollte (oder aber nicht in der Lage war, sich eigenhändig ein Leberwurstbratlingbrot zu schmieren, da seine zielgerichtete Ausbildung es nicht zuließ, auch noch die schlichteren Angelegenheiten des Lebens zu studieren). Kurzum: in solchen Sonder-Fällen werden Tempo-30-Zonen außer kraft gesetzt.

Das ist kein Einzelfall. Ich erlebe es ständig, daß die Autofahrer innerhalb der Ortschaften viel zu schnell unterwegs sind. Selbst wer die vorgeschriebenen 50 Kilometer in der Stunde einhält — was innerorts häufig genug zu schnell ist —, gilt als Verkehrshindernis; immer wieder mal wird man aus einem Meter Abstand angeblinkt oder behupt, oder aber man wird man von ihnen, auch auf engsten Sträßlein, überholt (während sie draußen auf der etwas kurvigeren Landstraße der Geschwindigkeitsmut verläßt). Die innerörtlichen Geschwindigkeitsbegrenzungen werden eigentlich nie eingehalten — 60 Kilometer in der Stunde und gerne mehr innerhalb der Ortschaften sind der Normalfall. Erst kürzlich kam mir in besagter dörflichen 30er Zone kurvenschneidend ein PKW mit sicherlich 60 Stundenkilometern entgegen Der Motorradfahrer, der diese Strecke, bevorzugt in den Morgen- und Abendstunden und mit aufgedrehtem Hahn — also erster Gang bis etwa 70 km/h —, wohl zu Gehör-Test-Zwecken für die Anwohner nutzt, scheint ohnehin usus zu sein. — Auch hier wieder der spekulative Gedanke: Es war die Zeit nach Feierabend, und der Fahrer mußte wohl schnell nach Hause, um das Dreirad seines dreijährigen Sprößlings zu reparieren.

Vielleicht drosselt dieser Vater seine Geschwindigkeit, wenn das Kind nach einem Unfall im Krankenhaus liegt. Aber vielleicht reicht ja der Tod des geliebten Hündchens oder der Katze bereits aus — in diesem Fall vielleicht beklagt von der Gattin oder den Kindern.

Daß auch außerhalb der Ortschaften entschieden zu schnell gefahren und an unübersichtlichen Stellen überholt wird — und wahrhaftig nicht nur durch sehr junge Fahrerinnen und Fahrer (hat sich nicht erst kürzlich in der Nähe ein 47jähriger um den Baum gewickelt?)! —, ist ein Thema für sich. Alleine Wildunfälle sind hier ja offenbar an der Tagesordnung (wie ich den Medien entnehme, sind die Monate Juli und August besonders gefährdend). Wenn das durchlackierte Gefährt Beulen und Schrammen aufweist, bricht Zeter und Mordio aus: Man sollte das Wildgetier abschaffen, wie Bäume nunmal in den Wald und nicht an Straßenrand gehören — und Kinder nicht auf die Straße, sondern nach Hause in Mamas Schoß ...

Solange es einen selbst nicht betrifft — ich aber bin bereits be- oder beinahe getroffen, wenn mir auf der sehr engen, hügeligen Straße durch den Wald, wo, nicht minder sinnvoll, die Höchstgeschwindigkeit auf 50 Stundenkilometer begrenzt ist, eines dieser Lieblingsspielzeuge der Deutschen — die geländegängigen (man lebt schließlich auf dem Land), hubraum- und PS-starken Nobelkarossen (für die sinnigerweise bis vor gar nicht so langer Zeit lediglich eine Nutzfahrzeugsteuer entrichtet werden mußte) — über einen Hügel hinweg entgegengeflogen kommt, so daß ich mich in den Graben retten muß, um nicht in den Kofferraum meines Autochens geschoben zu werden (wie neueste Tests ergaben). Davon mal abgesehen, daß die Einheimischen froh sein sollten, daß diese winzigen Nebenstraßen hierzulande für den allgemeinen Verkehr freigegeben sind — in anderen deutschen Bundeslanden ist das eher seltener der Fall —, sollten einige dieser mörderischen Pilotinnen und Piloten doch erstmal die Außenmaße ihrer Fahrzeuge kennenlernen, bevor sie sich in ihrer Wahnwitzigkeit auf die Piste begeben. Denn wie wenig sie ihre (nicht nur die großvolumigen) Fahrzeuge kennen, belegt allein und immer wieder die Tatsache, daß in den Städten regelmäßig aus drei Parkplätzen einer wird; ersichtlich wird das an den Kennzeichen, die die ländliche Herkunft belegen.

Ich bin wahrlich kein ständig nach Ordnung oder gar Polizei rufender Mensch. Denn ich halte Eigenverantwortlichkeit für ein probates, weil: demokratisches Mittel. Auch im Straßenverkehr sollte soziales Verhalten gelten: also ein Miteinander und nicht diese (überhandnehmende) selbstbezogene, eigensüchtige (Fahr-)Praxis.

Landauf, landab höre ich das Wort ‹Abzocke› durch die Exekutive. Doch angesichts der hiesigen Zustände wünsche ich mir auch hierzulande manchmal eine Rigidität, wie sie in Frankreich seit vielen Jahren praktiziert wird — und die zu einer erheblichen Senkung der Unfallquoten geführt hat: Rückbau, also Verschmälerung der innerörtlichen Straßen sowie ständige und konsequente Geschwindigkeitskontrollen innerhalb der Ortschaften, und das häufig zweimal innerhalb eines Dorfes. Drastische, um einiges höhere Geldbußen als in der Bundesrepublik Deutschland sowie rigider Führerscheinentzug haben ihren Teil dazu beigetragen. In den letzten Jahren wurden innerhalb Deutschlands aus Frankreich so viele sinnvolle Straßenbaumaßnahmen wie etwa die Einrichtung von verkehrsberuhigenden Verteilerkreisen oder sogenannte Schikanen eingeführt, daß man auch über solche Maßnahmen ernsthaft nachdenken sollte — davon einmal abgesehen, daß in Frankreich außerörtlich ohnehin eine Höchstgeschwindigkeit von 90 Stundenkilometern gilt und, wie bereits erwähnt, seitens der Behörden auf strengste Einhaltung geachtet wird.
 
Fr, 01.08.2008 |  link | (2943) | 5 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Unterwegs


richard graf rappoldstein   (01.08.08, 10:51)   (link)  
Radar
Die Zeiten sind noch gar nicht so lange her, da war man auf den Strassen des Elass und des Sundgaus akut gefährdet. Fräsende Grenzgänger, die rasch von der Pharma in Basel wieder nach x-weiler zurück nach Hause wollten, brachten sich selbst und andere in Gefahr. Kurz: es war nervenaufreibend. Seitdem vor ein paar Jahren ein rigoroses Programm zur Senkung der Anzahl der Verkehrstoten lanciert wurde, hat sich die Situation merklich geändert. In den Statistiken wird das deutlich, aber auch auf unseren Wegen ins Haus, der uns über die Autobahn, National- und Departementsstrassen führt. Es fährt sich weniger stressig, es wird nicht mehr so schnell gefahren, mit Ausnahmen von einigen Jugendlichen mit einem A-Kennzeichnen vielleicht, die die beschleunigende Wirkung des Gaspedals noch nicht kennen.
In Deutschland fahre ich höchst ungern Auto. Wenn ich die Grenze bei Basel hinter mich gebracht habe, schwende ich spätestens bei Mulhausen wieder auf die linke Rheinseite, um in gesittetem Rahmen nach Norden zu kommen.

Die deutsche Begeisterung für die Motorisierung lässt sich wunderbar an den Sternbildern ablesen, die französische für das kulinarische übrigens auch: Der Kleine Wagen ist le petit casserole.


jean stubenzweig   (01.08.08, 12:03)   (link)  
Ein weitaus angenehmeres
Gefühl ist das, ja, sogar auf den Straßen, wie Sie einmal mehr, Monsieur le Comte, bestätigen. Aber vor den jungen pilotes d'formule 1 in ihren Lernboliden, vor denen, ja, vor denen darf man sich auch linksrheinisch ordentlich fürchten. Aber wenn sie dann mal reingerauscht sind in ihre erste radar moblies de contrôle de vitesse und ordentlich Lehr- und Lerngeld abgegeben haben oder gar erstmal wieder ein Weilchen zu Fuß gehen dürfen, dann kriegen auch die sich unter Kontrolle.

Nur bei den alten Bauern auf den Traktoren muß man nach wie vor aufpassen. Die haben nach wie vor einen sehr hohen Spritverbrauch. Der 11-Uhr-30-Pastis ist nicht der erste Schluck des Tages. Aber die leben ja nach wie vor inmitten der Revolution.


nnier   (01.08.08, 11:28)   (link)  
Verkehrsberuhigende Maßnahmen und Schikanen müssten tatsächlich darin bestehen, Engstellen zu schaffen. Denn gegen die herkömmlichen Mittel sind die dicken Geländewagen immun; die Bremsschwellen, die einem normalen Auto bei zu hoher Geschwindigkeit die Achsen brechen oder die Stoßdämpfer ruinieren, werden lächelnd weggeschluckt. Es ist ein Wettrüsten.


jean stubenzweig   (01.08.08, 13:03)   (link)  
Ihr Vorschlag trifft's!
In Frankreich haben sie diese Schikanen tatsächlich in erster Linie als LKW-Geschwindigkeits-Moderationsmaßnahme geschaffen. Früher, als es noch kaum Ost-West-Autoroutes gab, sind die alle über die Landstraßen gedonnert. Gerne auch heute noch, wenn sie parallel zur Autobahn geführt sind (nur in der Mittagszeit, zwischen zwölf und zwei, war ruhiger fahren, weil die Routiers alle beim Mittagessen saßen; das hat sich auch geändert, denn der Globus ist mittlerweile sogar in France angekommen). Und am Ortseingang wurde höchst ungern der Fuß vom Gaspedal genommen. Ungebremst dröhnten die mit neunzig durch die Dörfer, wenn nicht gerade eine Kurve mit angehängtem Haus im Weg stand. Aber letzteres wurde dann auch schon mal mitgenommen, wenn eine auf den Punkt gereifte Käselieferung unterwegs war. Doch längst sind die Ortsdurchfahrten, vor allem die langen geraden, derart eingeengt, daß eine deutsche Landfrau es in ihrem SUV-Gerät mit der Angst zu tun bekäme. Für die sind ja schon die überall aus deutschem Boden schießenden Kreisverkehre, diese Froschfresser-Unpilze, die Hölle auf Straßen.


jean stubenzweig   (01.08.08, 13:14)   (link)  
Verengungsnachtrag
Ginge es nach Meister hap, müßten diese Stellen so eng sein, daß nur noch ein Fahrrad hindurchpaßte. Und die «Bremsschwellen», die würde er dann umfliegen.

Diese wichtige Mitteilung war mir weggeflutscht, die hatte sich selber abgeschnitten. Wahrscheinlich war's zuviel Öko.















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