Stille Winkel

Für hap: die Oasen der Ruhe. In leichter Überarbeitung. Ohne Anstrengung. Und im Nachhinhein für den Freund, der gerade erst, kurz nach dem 11. September 2011, aus den Weißenburger Blättern von Hans' Tod erfahren hat. Zumal ihm jemand via Pseudonym zur Wiederaufstehung verholfen hat. Aber wahrscheinlich sitzt der gebürtige Franke lediglich im Münchner Ehrenhimmel und lujaht von oben runter wie zu besten taz-Blog-Zeiten, weil's da oben kein Lachgras gibt.
«Hofbräuhaus, Oktoberfest, Olympiapark oder Deutsches Museum — denkt man an München, fallen einem sofort diese Begriffe ein. Und mit der Allianz-Arena, dem Sealife und der im Oktober eröffneten BMW Welt ist die bayerische Landeshauptstadt, in die jährlich Millionen von Besucher strömen, um weitere Attraktionen reicher geworden. An manchen Plätzen gibt es an bestimmten Tagen im Jahr kaum ein Durchkommen.»
Das lese ich im Münchner Monatsprogramm, Dezember 2007. Und genau das sind die Gründe — befördert von ein paar weiteren, zum Beispiel dieses unsägliche Schickeria-Getue, das gerne mit Hoher Freizeitwert ins Touristische beziehungsweise in die Handbücher der örtlichen Arbeitsämter (die ja bezeichnenderweise Agenturen genannt werden) ins Amtsdeutsche übersetzt wird, diesem nachkronagewittrigen, stadtoberhauptskettenliebenden Oberbürgermeister des kulturell schlichten (SPD-)Gemüts (das ihn wohl auf seinem Thrönchen belassen wird, bis er schon wieder aufs Töpfchen muß), dieses ständige, selbstbeweihräuchernde Gebrabble von der nördlichsten Stadt Italiens —, weshalb ich dieser Metropole des Spät-Biedermeier nach fast dreißig Jahren so gar nichts mehr abgewinnen wollte — und ihr endlich und definitiv den Rücken kehren konnte.

Wassily Kandinsky und seine Gabriele Münter, die sich im Murnauer Moos vereinigten und den Blauen Reiter zeugten, hatten mich seit den sechziger Jahren magisch angezogen. Deshalb packte ich nach Ende der Lehrzeit in den Siebzigern dann tatsächlich meine Insulanerplünnen, lieferte noch kurz einen Auftritt ab nahe Gent, London und anderswo und siedelte anschließend endgültig um in die liebliche Voralpenlandschaft. Ein gerade in die Wohnung der künftigen Gattin (oder so ähnlich) umziehender Freund hatte mir die seine überlassen: Blick übers Moos hinein in die Berge. Ich war hingerissen. Doch das Glück wollte nur kurz aufscheinen. Denn der beruflich bedingt häufige Theaterbesucher kam nach der Vorstellung nicht mehr zurück. Die letzte Bahn in sein niedliches Städtchen, dessen schwarz-brauner Farbgebung auch Ödön von Horvaths Italienische Nacht nichts anhaben konnte, fuhr, wenn ich mich recht erinnere, gegen 23 Uhr. Es war auch keine dauerhafte Lösung, immer wieder mit geliehenem Automobil unterwegs zu sein. Und einen trinken wollte man ja schließlich auch noch mit diesen ganzen Künstlers. Also aus rein arbeitstechnischen Gründen umziehen ins etwas größere, nördlicher der Idylle gelegene Städtchen. Die Enttäuschung war dann doch nicht so arg, denn sie alle waren dort ja auch irgendwie anwesend. Irgendwie, da zu dieser Zeit auch die Moderne des anfänglichen zwanzigsten Jahrhunderts noch nicht so recht Einzug gehalten hatte im Millionendorf. Denn unsereins fand seine Nischen, in denen man sich passabel einmummeln konnte. Eine Liebe wurde es dennoch nie zwischen mir und diesem Großnest, das zu dieser Zeit überwiegend von Völkern aus rheinischen und westfälischen Stämmen unterwandert wurde. Es sollte mir im Lauf der Jahre allerdings tatsächlich gelingen, den einen oder anderen Münchner kennenzulernen.

Als solchen bezeichne ich jetzt ausnahmesweise mal einen, der mir (oder ich ihm) 1975 oder auch zwei Jahre später zugeführt worden war. Zwar stammt er aus dem Fränkischen, siedelte jedoch bereits vor der olympischen Völkerwanderung in München an: 1965. Und wenn er auch ein paar Jährchen Zwischenstation in San Francisco machte, um das Land mit dem Fahrrad zu durchqueren, Love, Peace, Gitarre und Politische Wissenschaften zu lernen, so war beziehungsweise wurde er nach seiner Rückkehr doch zum (still leidenschaftlichen) Münchner. Für touristisches Public Relation taugt er nicht gerade, da man mit solchen Hin- beziehungsweise Sichtweisen nicht eben das richtige Geld machen kann:
Mein liebster Biergarten
«Hier gibt's immer diese nicht perfekten Schönheiten aus dem Volk, mit ihrem manchmal geradezu herzerweichend vulgären Stil. Geruch von Steckerlfisch (das ist kein Stockfisch, sondern Fisch am Stock; Anm. d. Red.) hängt in der weichen Luft, dazu das Gemurmel der Biergartenbesucher, das Klickern der Gläser auf dem Wagen des Mannes, der die Maßkrüge einsammelt. Tap-tap-tap: Ein kleines Mädchen, das seine nackten Füße auf den Betonboden platschen läßt, während der Vater in der einen Hand den Maßkrug, in der anderen den Brotzeitteller vor sich herträgt. Und dahinter die dunkelgrünen Baumkronen der Kastanienbäume, ein wolkenloser Himmel, blaß in Sonnennähe, tiefdunkelblau über dem Laub, ach. —hap
Hirschau, München, Gyslingstraße (Laubacher Feuilleton 18.1996, S. 4)

Aber auf diese Weise läßt sich «unsere kleine Stadt», wie sie der frühere Süddeutsche Claudius Seidl sie in seinen Beobachtungen von der selbstbespiegelnden Hamburger Brandstwiete aus suffisant bezeichnet hat, kennenlernen, ohne daß man sofort wegrennen möchte. Denn solche Plätze habe auch ich durchaus genossen im größten Dorf der Welt. Bis ich mich grollend getrollt habe, da mir der Versuch Heimat schlichtweg abhanden gekommen, vielleicht auch mißlungen war. Er wurde an sehr viel weiter weggelegenen Orten fortgesetzt. Doch nun, nach einigen Jahren, ertappe ich mich immer wieder mal dabei, hier und da mal auf das eine oder andere Bild zu schielen, das die Stadt zeigt, in die mich zum Ende hin nichts anderes mehr zog als meine Wohnung (die sich auch hätte in Pusemuckel befinden können). Deshalb wohl jubelten gute Beobachter meinerselbst fern dieser Stadt mir dieses Büchlein unter: Stille Winkel in München von Hans Pfitzinger, dem alten Copain und Troubadour. Und siehe da: Dieser Orphéoniste der München-Minne ist an Orten gewesen, die ich in beinahe drei Jahrzehnten nicht kennengelernt hatte.

Denn, wie's im Münchner Eventleporello zu lesen ist: «... die Stadt an der Isar bietet auch Orte, an denen man dem Lärm, der Hektik und den Menschenmassen entkommen und eine Auszeit von Pflichten, Anforderungen, Erwartungen oder eigenen Ansprüchen nehmen kann.»

Das war mir bekannt. Aber — setze ich's fort mit dem Münchner Informationsblättchen, da es so schön ausgedrückt ist, es sich trefflich zwischen Zeilen lesen läßt:
«Nur wenige der Plätze stehen im Reiseführer, die meisten sind Entdeckungen abseits der Touristenpfade, kleine Überraschungen wie etwa das ‹Tanzende Rokoko› auf dem Kirchbergl, Espenlaub und Sommerstock am Tivoli-Pavillon oder eine vermeintliche Begegnung mit Johnny Depp in der Schack-Galerie in der Prinzregentenstraße. Viele kennen die Auer Dult auf dem Mariahilfplatz, den Jahrmarkt, der jährlich Groß und Klein anlockt. Doch mit Sicherheit nur wenige waren schon einmal in der Mariahilfkirche. Das durch seine stille Größe und edle Schlichtheit sich auszeichnende Gotteshaus ist vor allem wegen seiner Akustik einen Besuch (z. B. bei einem Orgelkonzert) wert.»
Die Auer Dult, nun, dort war ich schon des öfteren. Die Reise zur anderen Seite, also rechts der Isar gehört eigentlich dazu, sogar für einen in Schwabing Ansässigen. Denn gerade in den Anfängen des Wohnungseinrichtens bekommt man dort so manches Küchengerät, für das heutzutage bei Manufactum ein Betrag hinzulegen wäre, der heute einen nicht unerquicklichen Teil monatlicher Münchner Mietnebenkosten ausmachte. (Vermutlich hat ohnehin das mittlerweile Herrn Otto gehörende Manufactum die Auer Dult aufgekauft.) Aber deshalb im Anschluß in diesem neugotischen Monstrum gleich ein Kerzlein anzünden als Dank für den gelungenen Einkauf, auf die Idee wäre ich dann doch nicht gekommen. Zumal diese Neogotik des beginnenden 19. Jahrhunderts nicht eben zu meinen architektonischen hoschia'na-Rufen beiträgt, in diesem Fall also nicht Maria, sondern allenfalls Herr hilf!
«Lange Warteschlangen an der Kasse bei Museen oder Ausstellungshallen, überfüllte Anlagen, wer darauf keine Lust hat, sollte diese außerhalb der starken Besucherzeiten ansteuern. Zum Beispiel das Orchideenhaus im Botanischen Garten. Wer dort am Morgen vorbeischaut, kann — wenn er Glück hat — auf freilaufende Schildkröten stoßen. Auch im Winter kann der Botanische Garten seine Reize haben, zum Beispiel bei einem Spaziergang am Morgen durch den Park: ‹Da bekommt man das Gefühl, das Gelände gehöre einem allein.›»
Den Botanischen Garten kenne ich nur vom angrenzenden Nympenburger Friedhof bei den Englischen Fräulein. Nicht der Frauleins wegen war ich dort. Dort hatten wir 1995 den so jung gestorbenen Thomas Lehnerer beerdigt, den liebevollen, wunderbaren (Mit-)Begründer der Weltgesellschaft für Glück, dem es nichts genutzt hat, denn gerademal vierzig Jahre alt ist er geworden. Zwei-, dreimal habe ich ihn dort besucht, vielleicht auch, weil ich ihn, der ja nicht alleine Künstler und Philosoph, sondern eben auch Theologe war, immer wieder fragen wollte, wie ich denn wieder enttauft werden kann, denn eine solche katholische (Knoblauch-)Ölung hatte er mir 1982 schmunzelnd (feixend?) angedeihen lassen in der Residenz vor meiner von Studenten betriebenen Zwangsverheiratung mit dem Akademiekollegen, ein paar Jahre später ebenfalls selig. — Und Orchideen? M e i n e Güte! Erstens sollen sie nicht schmecken, nichtmal in allerfeinstem, provençalischem Olivenöl gebraten, und zweitens dürfte ich sie dort ja auch nicht pflücken. Hinzu kommt, daß die Büddenwarderin mich ohnehin ständig von Blüte zu Blüte zur glühenden Hochblüte treibt, da sie diese bunten Blättchen mehr liebt als mich.

Doch ich komme einmal mehr vom Thema ab; man verirrt sich eben gerne, wenn das Alter der Erinnerung die Sporen gibt: «Sie leben vom Gedächtnis anstatt von der Hoffnung, weil das, was ihnen vom Leben bleibt, wenig ist im Vergleich zur langen Vergangenheit» (Aristoteles). Es geht schließlich um die Gegenwart, um das, was es zu besuchen, zu betrachten gilt, es geht um die zu Recht gepriesenen München-Ansichten des Liebenden:
«Hans Pfitzinger, Münchner aus Überzeugung, gelingt es, den jeweiligen Ort mit nur wenigen Worten greifbar zu machen. Er bietet historische Informationen und schafft Eindrücke und Atmosphäre. Zum Beispiel bei seiner Begegnung mit einem schwerkranken Freund im Rosengarten. Schönheit und Tod liegen nahe beieinander. Am liebsten möchte man dem Erzähler sofort nachreisen, die stillen Winkel erkunden und testen, ob sie ähnliche Empfindungen auslösen wie bei ihm. Mit feinem Humor und ehrlicher Emotionalität lässt der Autor die Stadt von innen leuchten. Kurz: Eine Anregung für alle, die München lieben oder lieb gewinnen möchten.»
Zwar werden trotzalledem keine noch so starken zehn Argumentationspferde mich gar nie nicht und nimmer wieder dorthin zurückbringen. Aber ich weiß mit Hilfe dieses wunderschönen Lesestoffs jetzt wenigstens, wie das eine oder andere unmaßgeblich gefällte (Vor-)Urteil zustande kam: Weil ich nicht richtig hingeguckt habe. Und eines hat Hap Pfitzinger dann doch noch für die notleidende Münchner Fremdenverkehrswirtschaft getan: Unsere vielen Kinners wollen nach der Lekture (!) dieses Buches unbedingt wieder hin, um nun die Pfitzingersche (säkulare) Via Dolorosa zu begehen. Die sogenannten Attraktionen haben sie ohnehin längst abgeklappert.

Die Altfassung in leichter Überarbeitung. Es ist davon auszugehen, daß das Kapitel München damit ein für allemal abgeschlossen ist. Jeder Schmerz mag mich belasten, aber keinenfalls der dieser Trennung.
 
Mo, 11.08.2008 |  link | (3373) | 0 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Unterwegs















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