Alle(s) Testamente

Es gibt Menschen, die halten mich für einen Glaubenden, zumindest für einen verkappten, denn primär hören sie ja eher protestierende, gleichwohl weniger protestantische Töne aus meinem (ohnehin) unberufenen Munde. Nicht nur diejenigen, die dafür den Begriff Gläubiger einsetzen (der ich auch nicht bin). Leicht sanftmütig wie ich mich (manchmal) gebe, könnte man mich für einen christlich geprägten halten, stehen sie doch bei mir vor mehreren Ausgaben der Heiligen Schrift, dem Alten sowie dem Neuen Testament, unterstrichen noch von den ausgewählten Schriften des Salomon (Softpornos würden sie ohnehin nicht vermuten in meinen Reihen). Doch dann durchzuckt sie es leicht, als hätten sie schon immer gewußt, daß mit mir was nicht stimmt, als sie hinter dem alten Apothekerschrankglas nebendran mehrbändig den Talmud aufgereiht sehen, ebenfalls flankiert von Kommentaren, als ob ich mich auf eine Missionspredigt vorbereiten wollte (denn sie wissen nicht, daß es eine solche Abseitigkeit nicht gibt in dieser Religion). Alsbald tritt ihr Blick leicht über die Ufer ihrer allgemeinen Verunsicherung, da ihr ungläubiges Auge Bücher zum Buddhismus und sonstiges Transzendentales erfaßt, gar eine Mao-Bibel. Nun gut, solches soll ja bereits andere Prominente erfaßt haben, nicht erst seit der aktuellen China-Diskussion. Vollends verwirrt scheinen sie dann, mit Blick zum Telephon mit einprogrammierter Notrufnummer, da sie gleich drei Bände des Koran erblicken. Zwar wußten sie, daß ich für mein Leben gerne ein Großteil meines Lebens verschlafe. Aber ein Schläfer in diesem unserem beschaulichen Lande ...?

Geplagt sind diejenigen, die mit mir unterwegs sind, allen voran jene, die alle zwanzig Minuten was Warmes in den Bauch brauchen, und sei es eine verhärmte Bratwurst. Kaum gerät irgendein Kirchlein in irgendeinem trou perdu ins Blickfeld, wird die Voiture auch schon langsamer, um dann möglichst direkt vor dem Gebäude vollends abgebremst zu werden. Zuhause im Nordosten des Westens ist die Gefahr des ständigen Anhaltens nicht so groß, da es dort mehr Bratwurststände als Kirchen gibt (über die Ursachen muß noch geforscht werden). Aber in diesem Land, das sicherlich gelobt werden will, da es außer Frosch und Fisch noch anderes an Restauration reichlich anbietet, haben diese früheren Katholiken an wirklich jeder Ecke das Bein gehoben. Sogar einen eigenen Papst haben sie sich hinsetzen lassen, dazu ein Gebäude, gegen das die Architekturgelüste eines schweizerischen teilcalvinistischen Oberpopen im Rechtsrheinischen sich ausnähmen wie die neuzeitliche massenkonfektionelle Ortsrandbebauung einer holsteinischen Gemeinde. Hier stehen diese Glaubenssekrete herum wie die Auswirkungen pubertärer Hormonumstellung oder allzu einseitiger Hungerbeseitigung eines des elektronisch-digitalen Spielens Verfallenen durch US-amerikanische Schnellnahrung. Seltsam, klagt die Büddenwarderin, kaum ein paar Meterchen Einkaufssträßlein kriegt man ihn entlang, immer aufs fußlahme Gebein verweisend, aber kein noch so riesiger gotischer Auswurf großkirchlichen Machtgehabes, das nicht stundenlang begutachtet sein möchte. Die ganzen romanischen Gebetsstättenvorläufer nicht nur nicht berücksichtigt, sondern bei denen bekommt die Kondition gleich Höhenflüge. Angesichts derer könnte man gar glauben, er würde an irgendwas in dieser Richtung glauben.

Genau. Die zur Touristenperversität verkommene Notre-Dame mit ihren nichts als die Devotionalie anbetenden Schlangenmassen lassen wir links liegen und gehen ein paar Schritte hinüber zum 5., zu Saint Séverin. Das entzückende Architekturgeschöpf mit seinem stillen Garten samt Gebeinhaus ist zwar auch gotisch, aber man spürt, daß hier zuvor in der Romanik gepriesen wurde, daß dort noch weit vor dieser Zeit Séverin le Solitaire eingesiedelt war, dessen Zeitgenossen ein Christentum nach Frankreich brachten, das mit einem Billigheimerjahrmarkt wie dem von gegenüber wahrlich nicht gerechnet haben kann. Stille inmitten des Brodems der Metropole. Still erzählende Geschichte.

Anschließend gehen wir die paar Schritte durchs Juden- und Schwulenguckviertel Marais. Aber hindurch! Außenherum würden die müden Knochen dann doch nicht mehr mitmachen, und außerdem stehen da zu viele Bouquinistes herum. Am Rande der île Saint Louis gibt's dann auch was ohne Fischschenkel und Froschköpfe. Extra für Büddenwarderinnen.
 
Di, 19.08.2008 |  link | (1825) | 5 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Unterwegs


hap   (19.08.08, 11:50)   (link)  
Gotisch? Christlich!
Eine Passage aus einem Buch von Gustav Landauer möchte ich gern mit dir teilen. Ich hab das gestern nachmittag gelesen, vor deinen Anmerkungen zu Notre Dame: "Derselbe Geist war es, der die großen Werke der christlichen Kunst (christlich muß sie mit Fug heißen, statt des sinnlosen Wortes gotisch) und die Gesellschaften der Christenheit aufgebaut hat."
Und dann zitiert Landauer "den Engländer Willis" aus dem Jahr 1840, ohne näher anzugeben, wer dieser Willis war: "Eine neue dekorative Konstruktion war heraufgekommen, die die mechanische Konstruktion nicht bestritt und störte, sondern ihr half und sie harmonisch machte. Jedes Glied, jeder Tragestein wird ein Träger der Last; und durch die Vielheit der Stützen, die einander Hilfe leisten, und die daraus folgende Verteilung des Gewichts war das Auge befriedigt von der Festigkeit der Struktur, trotz des sonderbar mageren Aussehens der einzelnen Teile."
Landauer ist entzückt von dieser Beschreibung und zieht die Verbindungslinie zur Gesellschaft: "Der Mann der Wissenschaft hat hier einfach das Wesen des christlichen Baustils schildern wollen; aber da er das Richtige, den wahren Gehalt dieses Stils getroffen hat, und da der Bau dieser hohen Zeit eine Zusammenraffung und ein Symbol der Gesellschaft ist, hat er in seinen Worten ohne Absicht ein Bild dieser Gesellschaft gegeben: Freiheit und Gebundenheit; Vielheit der Stützen, die einander Hilfe leisten. Isolierte Individuen hat es nie gegeben; die Gesellschaft ist älter als der Mensch."
aus: Gustav Landauer, Die Revolution. Nachdruck der von Martin Buber herausgegebenen Erstausgabe aus dem Jahr 1907. Unrast Verlag, Münster, 2003. S. 60


jean stubenzweig   (19.08.08, 14:32)   (link)  
Gotik. Mystisch. Romanik!
Ausgerechnet Landauer, der Jude und Anarchopazifist, lobet des christlichen Herrn Gesellschaft? Das muß der Beginn der landauerschen «Altersweisheit» gewesen sein, die da vom milden Martin Buber, sozusagen als Geburtshelfer der Christenheit, herausgegeben wurde. Ich hab's nicht so mit diesen Glaubensallegorien. Aber wer weiß, wie's gewesen wäre, wäre es auch bei mir damals gewesen.

Ich weiß nicht mehr, wer es war, es gesagt oder geschrieben hat und wie das Zitat genau lautet, aber in jedem Fall ein großer Baumeister dieser Epoche, und es scheint mir angebrachter und der Sache gemäßer zu sein: Der Glaube mag Halt geben, aber mehr noch ist es das Wissen und die Fertigkeit.

Nun gut, es war ja in erster Linie dieser Willis, aber mit dem meint Landauer sicherlich auch weniger die Religion der Pfaffen als den gesellschaftlichen Zusammenhalt, der auf den Glauben dieser Zeit zurückzuführen ist; das staunende Volk kannte ohnehin nichts anderes. Es ist die Metapher «Vielheit der Stützen, die einander Hilfe leisten», die er da herausarbeitet. Denn diese genialische Bautechnik hat wohl eher weniger mit dem Anbetungswürdigen zu tun, sondern mit der außerordentlichen Konstruktion seitlicher Abfanghalterungen, die die Mitte stabilisieren und deren Drang nach ganz weit oben ermöglichen. Die Arbeit wird ganz unten und vom Rand geleistet. Womit wir schon wieder mit der Metapher kämpfen. Was der christliche – oder sonst ein anderer – Glaube an Zusammenbrüchen verhindert hat, ist ja wohl hinreichend belegt. Vor und nach Landauer und Buber.

Für mich heißt dieses Faszinosum nach wie vor (pragmatisch) kunsthistorisch: Gotik – mag es noch so aus dem Barbarischen abgeleitet sein, von Vasari zudem, der's eher mit der Antike hatte. Wobei allerdings kein Zweifel daran bestehen kann, daß – und hier habe ich ehrerbietig einzulenken – durchaus Mystisches die Orgel spielt bei dem Klang, der einen überkommt, steht man inmitten dieser Bauwerke (viel weniger in Chartres als mehr in Reims oder Amiens). Bis hin zum Fürchten.

Es mag sein, daß ich mich deshalb in der frühen Romanik wohler fühle. Da wurde nicht so geklotzt. Mit Macht. Auf mich wirkt die feinsinniger in ihrer (allerdings gänzlich unprotestantischen) Schlichtheit, allerdings hauptsächlich in kleineren Kirchen oder Klöstern, also der Frühromanik. Danach ging ja das Tschingderassapäng des christlichen Festungsbaus los. Beispielsweise Speyer eher nein, Cluny gerne, vor allem aber Müstair sehr gerne. Da werde sogar ich ganz leise.

Der Magen aber ruft ganz laut! (Weniger meiner, sondern der, der seit unendlichen zwei Stunden nix Warmes mehr hineingekriegt hat.)


hap   (19.08.08, 16:05)   (link)  
Glaube und Statik
Ob's Altersweiheit war bei Landauer? Hm, er war Jahrgang 1870, also grad mal 37, als er das geschrieben hat, und 49, als ihn Mitglieder des Freikorps im Auftrag von SPD-Noske ermordet haben. Dieser nicht näher vorgestellte Willis mit seinen ach so schönen Formulierungen war wohl Naturwissenschaftler, denn die zitierten Sätze fand Landauer in einem Nachwort, das Willis zu "The Philosophy of the Inductive Sciences" des Mathematikers William Whewell geschrieben hat. -
Was den Glauben betrifft: Der mag schon Halt geben, aber wenn die Statik nicht stimmt, kracht's trotzdem zusammen. Oder, wie mein Opa Hans immer gesagt hat: "Beten allein hilft nix, es muss auch Mist auf's Feld."


hap   (19.08.08, 22:03)   (link)  
Robert Willis
Ach, weißt du, Stubenzweig, wenn einer was gut formuliert hat, muss man ihn einfach mögen. So ging es dem Gustav Landauer mit den Sätzen von Willis über die gotisch-christliche Baukunst, und so ging es mir.
Und ich hab weiter nachgegugglt, und fand heraus: Er hieß Robert Willis, der Mann, der offenbar zu Gustav Landauers Zeit so bekannt war, dass man seinen Vornamen weglassen und erwarten konnte, der Leser würde schon wissen, wer gemeint war.
Aaah, irgendwie hab ich den Eindruck, die meisten Naturwissenschaftler wollen einfach nichts hören von Kollegen, die ihnen helfen wollen, ihre selbst auferlegten Grenzen zu verschieben. Immer schön brav weiterkäuen, denn neue Gedanken lösen Angst aus. Bei denen, die Wissenschaft betreiben. Und bei denen, die sie bezahlen.
Man kann sich heute gar nicht mehr vorstellen, wie Gustav Landauer und Martin Buber an den Gitterstäben der Normalität gerüttelt haben.


jean stubenzweig   (20.08.08, 08:17)   (link)  
Keineswegs
will ich Landauer und/oder Buber in die Geringschätzung schreiben. Ich weiß beide zu achten. Und zweifelsohne hat Landauer da eine schöne und durchaus treffende Metapher geschaffen. Aber bei mir überwiegt eben grundsätzlich die Skepsis, wenn Religionen als Gesellschaftsarchitektur ge-, meiner Meinung nach mißbraucht werden. Möge jeder glauben, an was er will, aber mir sei unbenommen, das aus meiner Sicht rauszunehmen. Allerdings ist das Historische selbstverständlich zu berücksichtigen.

Und das mit dem Beginn der landauerschen «Altersweisheit», das war nichts als ein lockendreherisches Scherzchen ...















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