Graue Zeilen

Wer mit sonntäglichem Nickerchen-Entzug auf dem Sofa im Raum neben den frühnachmittäglich zum Kaffee brabbelnden Erwachsenen bestraft wurde, weil ihm mal wieder die ständigen Ermahnungen aus der Erinnerung abhanden gekommen waren, ein Buch nicht aufgeklappt auf die Innenseiten zu legen, dem haftet einige Jahrzehnte lang ein eigenartiger, nachgerade deutschkultureller Bezug zu selbigem im Kopfgewürm. Auf Buchmißhandlung steht Liebesentzug. Die Nachkommenschaft hat dies als eine der vielen Marotten des Alten verinnerlicht. Deshalb steht die junge Frau dem von einem gewissen Feixen begleiteten Kopfschütteln dieses Buchhalters einigermaßen fassungslos gegenüber, wenn er das von ihm verliehene und seit den Siebzigern leicht fleddrig in die Jahre gekommenen Taschenbuch mit Auszügen aus der französischen Aufklärungsliteratur* zurückerhält, von ihr eingeschlagen in Seidenpapier und zusätzlich geschützt von einer Plastiktüte, wohlweislich aus einer Buchhandlung. Bloß keine von einem Billigheimer! Am Ende gar noch einem, der überwiegend massig Ware aus dem Bereich inhaltsdürftiger Unterhaltung verhökert. Man kennt schließlich das Zornesgeäder an diesem sogenannten klugen Kopf. Und dann schüttelt der ihn auch noch dümmlich grinsend, nur weil man sich vorsichtshalber an dessen Kindheitsgeschichten erinnert, die er zum besten gibt, immer wieder vergessend, daß sie in eine Endlosschleife geraten sind.

Aber woher sollen sie auch wissen, die lieben, knapp einsneunzig langen Kleinen, daß dieser Biblioman die bibliothekarisch-mütterlichen Ordnungsinjektionen über die Jahre hin immer wieder revidiert hat und zu Unterscheidungen gekommen ist:

Hier der zu hütende und zu schützende Band aus dem zwölfbändigen Babylonischen Talmud, den er mit extrem spitzen Fingern unter arg verzögertem Zögern herausgerückt hat, da der Lehrer der Tochter der besten Freundin der Büddenwarderin auf die Idee gekommen ist, im Ethik-Unterricht vier Schulstunden lang ein paartausend Jahre Judentum abzuhandeln. Oder der Band aus der (vergriffenen, nur noch als Taschenbuch erhältlichen) Hamburger Ausgabe, in der Goethe seine Iphigenie versteckt hat, die am Hamburger Schauspielhaus auftritt und der der Deutsch-Leistungskurs einen curricular verordneten Besuch abstattet; mit diesen kleinen gelben Heftchen mag die bücherbeseelte Freundin des Jüngsten sich nicht abgeben, weiß sie doch um die weitaus höherwertigen Exemplare, die sich hinter dem arg giftigen Panzerglas des Apothekenschranks aus den Anfängen eines vergangenen Jahrhunderts befinden. Darin aufbewahrt sind neben Erstausgaben durchaus auch Paperbacks mit Äußerungen eines Herrn Nietzsche samt Kommentaren anderer. Gedruckter, nicht etwa handgeschriebener. Deshalb wurde die sorgsam gehütete Kassette ja erworben, da die zu studentischen Zeiten erworbenen Arbeitsexemplare vollgekritzelt und kaum mehr lesbar waren.

Und dort schließlich die unendlich vielen Taschenbücher, an denen das Kindheits- und Erziehungssyndrom abgearbeitet wurde. In sie wurde nicht etwa vorsichtig gekleckert, sondern gerotzt: mit hartem, unausradierbarem Bleistift, mit Kugelschreiber, weil das ganze Bäume beherbergende Papier dann doch zuviel der Füllfederhaltertinte aufgesogen hatte, mit leuchtfarbenen Stiften, weil man ja auch der Technik gegenüber aufgeschlossen jede Neuerung mitzumachen hatte. Selbstverständlich wurden sie aufgeklappt und mit den Innenseiten nach unten, also aufs Gesicht gelegt, sich auch mal draufgesetzt, in der Kneipe, im Café, manchmal auch zuhause, wo man sich allerdings eher seltener aufhielt, denn gelesen und geschrieben wurde in einer neuen Form von Gesellschaft, der die Gastronomie ihre Räume preiswert zur Verfügung zu stellen hatte. Rigide wurde ihnen Eselsohren verpaßt, da das farbige bis bunte Vielerlei heutiger weisesprüchiger werbetragender Merkzeichen nicht nur noch nicht kreiert worden war, sondern dem revolutionären Leserezeptionsverhalten zuwider gelaufen wäre. Das waren die Zeiten, in denen der bibliophil Aufgewachsene sich seiner Wurzeln erinnerte, der Geburtsstätten der großen Revolutionen. Zwar fühlte sich dessen Mutter den postaufrührerischen Folgen, dem aufstrebenden Bürgertum sehr viel näher, aber das war es ja gerade, dem man sich zu verweigern hatte. In den Urschoß zurückkehren, lautete die Devise.

Irgendwie und irgendwann scheint diese Sehnsucht nach dem Urzustand aus dem neukulturellen Ruder gelaufen zu sein. Es begann eines Tages damit, daß man diese Musik wieder zu hören, die Farben wieder zu tragen, ein gewisses gesittetes Benehmen wieder an den Tag zu legen begann, die einem die Kindheit vergällt hatten. Es setzte sich fort in der exzessiven Teilhabe an der Gestaltung von Büchern und Zeitschriften, im (beschriebenen) Erwerb von dann sorgsam gehüteten Gesamtausgaben. Die postrevolutionären, die bourgoisen Gene hatten einen wieder.

Die Kraft des Buches als Informationsträger für alle holt einen allerdings wieder ein, steht man in einer französischen Buchhandlung. Von den wenigen sorgsam gestalteten Bänden, für die sich nur einige Verlage als zuständig erachten, mal abgesehen: Welches Buch auch immer man aus dem Regal nimmt, ob sogenannte Hochliteratur oder die für die schlichtere Wissensvermittlung, jedes zweite wäre in Deutschland im Schredder gelandet, hätte der Druckerei Miese beschert, da sie das Buch hätte komplett neu drucken müssen. Nicht nur, daß einzelne Zeilen nur noch in blassem Grau gedruckt und damit kaum lesbar sind, sondern oftmals sind es ganze Seiten, für die man sich der vollen Nutzbarkeit wegen ein Zweitexemplar zulegen müßte (wie der Bekannte, der sich in den sich der wa(h)ren Werte besinnenden Achtzigern immer gleich zwei seiner großräumigen britisch-elendiglichen Limousinen zulegte, da eine immerzu in der Werkstatt stand). Und so ist es nur zu verständlich, daß französische Buchbetrachter ins Staunen geraten, wenn sie deutsche Bücher vor die Augen bekommen, solche zudem, die in deutschen Landen für die Tasche zubereitet werden. Die in Deutschland nach wie vor gerne in einen harten Umschlag, bisweilen auch in Leinen gepackten, am Ende gar noch mit Fadenheftung versehenen Seiten findet man eher seltener. Den einen oder anderen nationalliteralen Gott, nun gut, sei's denn drum, kommt er eben ins Regal, für den Besuch zur Ansicht oder für die Besinnung auf das, was da mal war. Aber im wesentlichen sind in Frankreich Bücher Artikel für den täglichen Gebrauch. Man liest sie, seien es nun die Enzyklopädisten*, André Gide, Molière, Emile Zola oder auch Polars wie die von Jean-Claude Izzo, und dann ab in die Ecke, auf den Stapel, irgendwo hin. Da gibt es nicht so ein Gewese.

So gibt der Betrachter ein solches Buch für die Tasche dann auch ganz vorsichtig und mit arg spitzen Fingern wieder zurück. Hätte er Seidenpapier parat, er schlüge es vorher darin ein. Man kann ja nie wissen, welche Restriktionen das nach sich ziehen könnte. Entzug wird auch im Land der Liebe nicht unterschätzt.

Aber warten wir's doch ab, vielleicht kommt die Restauration, nicht nur die des Buches, auch in Frankreich noch an ...

* Encyclopédie ou Dictionnaire raisonné des Sciences, des Arts et des Métiers par une société de Gens de Lettres
 
So, 21.09.2008 |  link | (2921) | 0 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Kopfkino















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