Pro- und Nekrolog

Bleib erschütterbar und widersteh

Also heut: zum Ersten, Zweiten, Letzten:
Allen Durchgedrehten, Umgehetzten,
was ich, kaum erhoben, wanken seh,
gestern an und morgen abgeschaltet:
Eh dein Kopf zum Totenkopf erkaltet:
Bleib erschütterbar — doch widersteh!

[...]

Widersteht! im Siegen Ungeübte,
zwischen Scylla hier und dort Charybde
schwankt der Wechselkurs der Odyssee ...
Finsternis kommt reichlich nachgeflossen;
aber du mit — such sie dir! — Genossen!
teilst das Dunkel, und es teilt sich die Gefahr,
leicht und jäh — — —
Bleib erschütterbar!
Bleib erschütterbar — und widersteh.


Peter Rühmkorf

Ein Dankeschön an den Meister und den Schenker hap, der's geschenkt hat:

Selbstredend und selbstreimend (Auszug aus Prolog). Auswahl und Nachwort von Peter Bekes. Philipp Reclam jun. Stuttgart 1987, S. 7

Original in: Haltbar bis Ende 1999. Gedichte. Rowohlt, Reinbek 1979 (hier auch Biographisches zu Rühmkorf)

 
Mi, 01.10.2008 |  link | (2995) | 5 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Fundsachen


nnier   (01.10.08, 20:42)   (link)  
Ja, der selige Rühmkorf - ich kenne ihn kaum, las mal ein langes Interview mit ihm, das ihn mir sympathisch machte, und irgendwo in den Kempowski-Tagebüchern tauchte er am Rande auch mal auf im Kreienhoop. Ich nahm mir damals vor, auch mal was zu lesen von ihm. Bisher ist es nicht dazu gekommen; wieder einer für die Warteliste!

Den Genesungswünschen von hap schließe ich mich an.


jean stubenzweig   (02.10.08, 12:15)   (link)  
Dieser Dichter
gehört zu den wenigen Künstlern, die ich zu deren Lebzeiten ein wenig verehrt habe, weil er – nenne ich's mal so leicht danebengegriffen – authentisch war. Es ließe sich auch schlicht schreiben: Er war echt: jederzeit hinter seiner Literatur sichtbar und die hinter ihm. Mit ihr bekam ich in den Siebzigern intensiver Kontakt und in der Folge mit ihm. Wobei ich zugestehen muß, daß letzteres die Wirkung seiner Worte und Wörter auf mich gesteigert hat. Das meint: eigentlich sollte man Kunst ja nicht unbedingt an der Persönlichkeit seines Urhebers festmachen, sie daran bewerten, sondern sie unabhängig davon betrachten. Meist ist mir das auch gelungen. Aber es ist mir selten ein Mensch begegnet, dessen Kunst (auch in der Form) derart identisch war mit seinem Denken, so daß hier dieses eigentliche Prinzip einer unabhängigen Kritik aufgehoben war.

Aber so weiß ich eben ein bißchen mehr als andere (wobei noch andere noch sehr viel mehr wissen als ich ein kleines bißchen Wissender). Doch selbst, wenn es nicht der Fall wäre, seine Literatur steht bei mir – nein, nicht ganz oben, wo man sich recken und strecken oder tief bücken und den Rücken krümmen muß, um an ihn zu gelangen, sondern immer auf Augenhöhe, ganz nahe und jederzeit griffbereit; gemeinsam mit ein paar anderen aus der alphabetischen Sortierung rausgenommen und in mein Zentrum gestellt. Auf daß ich jederzeit solche Sätze lesen kann wie beispielsweise seine Äußerung zu Heinrich Heine: «Als hingegen unsere 68er, 69er, 70er Kulturrevolutionäre die Kunst das Fürchten und die Dichter das Kleinschreiben lehren wollten, habe ich mich in logenbrüderlicher Verbundenheit immer wieder gern an den anderen Heine gehalten: Die Demokratie führt das Ende der Litteratur herbei: Freiheit und Gleichheit des Stils. Jedem sei es erlaubt, nach Wilkür, also so schlecht er wolle, zu schreiben, und doch soll kein anderer ihn stilistisch überragen und besser schreiben dürfen.»*

Nehmen Sie ihn – dauerhaft – in Ihre Rätselspiele auf! Und Warteliste, nun gut: Rühmkorf ist einer, der nicht schlecht wird durchs lange Liegen.

* Suppentopf und Guillotine. Zu Heinrich Heines Frauengestalten


nnier   (02.10.08, 13:35)   (link)  
Das ist eine immer wieder interessante Frage, ob man kulturelle Produkte wirklich unabhängig von der Persönlichkeit ihres Urhebers betrachten solle. Ich bin mir da gar nicht so sicher; nehmen wir mal den Comiczeichner Robert Crumb. Die Interviews mit ihm, Berichte über ihn, Äußerungen anderer Künstler über ihn, sind für mich geradezu Teil seines Werks, in jedem Fall so fest damit verwoben (manches findet sich im Werk selbst dann auch als Reaktion wieder), dass ich diese Trennung nicht vornehmen möchte. Andererseits geht die von jedem Autor nach jeder Lesung gefürchtete Frage: "Ist das autobiographisch?" eben oft auch ins Leere, bzw. am Thema vorbei.
Insgesamt, und ich bleibe mal auf Gebieten, in denen ich mich auskenne, würde ich schon sagen, dass das Wissen um einen Künstler und sein Leben den Genuss durchaus zu steigern vermag. Das gilt nämlich auch für den kleinen Schrei von Paul McCartney am Ende des Liedes Let Me Roll It von 1973, mit dem er ganz lässig und doch unmissverständlich auf Lennons Urschreiexperimente anspielt.


vert   (02.10.08, 13:47)   (link)  
die werkimmanente interpretation empfand ich immer schon als ausgesprochen langweilig.
die einbettung in den gesellschaftlichen rahmen ist doch erst das salz in der suppe, die man als kunstrezipient gefälligst auszulöffeln hat...


jean stubenzweig   (02.10.08, 19:08)   (link)  
Hauptsächlich
sollte eine Arbeit durchaus aus sich heraus wirken. Daß man sich anschließend auch ins sekundäre Umfeld hineinvertieft, ist ein- oder auch ausleuchtend. Sei es, um der jeweiligen Kunst näherzukommen, oder schlicht, um sie besser zu verstehen. Auch Nähe zum bevorzugten Künstler selbst herzustellen, liegt nahe. Eine Aussage wie die von Eduard Beaucamp aus den achtziger Jahren, er ginge grundsätzlich nicht ins Atelier, halte ich für ziemlich daneben (er hat's wohl auch revidiert). Da halte ich's eher mit Günter Metkens These In Künstlers Lande gehen. Gerne hüpfe oder flaniere ich mit durch die entsprechende Gegend.

In Lateinamerika ist Kunst, welcher Art auch immer, ohne «einbettung in den gesellschaftlichen rahmen» schlichtweg unmöglich, unverständlich. Sie hat immer diesen Bezug, besser: in der Regel entsteht sie durch ihn. Es sei denn, sie will Westkunst, sprich marktorientiert sein. Dann mag sie einen Wert erhalten haben, für mich aber hat sie ebendiesen dadurch eher verloren. Zumindest langweilig wird sie für mich. Und Langeweile hänge ich mir nicht an die Wand oder stelle sie ins Regal oder lege sie sonstwo hin.

Und so weiter und so fort. Darüber sind schon viel Texte die Flüsse runtergeschrieben worden.

Bei einem persönlichen Kontakt verhält es sich häufig komplizierter. Vor allem dann, wenn sich herausstellt, daß man mit der Person so gar nicht kann. Letzteres darf aber nicht heißen, daß Kunst herabgestuft wird, nur weil man mit ihrem Urheber überzwerch ist. Was immer wieder vorkommt. Schwierig.















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Jean Stubenzweig motzt hier seit 5807 Tagen, seit dem Wonne-Mai 2008. Letzte Aktualisierung: 22.04.2022, 10:42



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