Gedankenverfertigung Ein wenig meinte ich mich verhört zu haben, als ich hörte, ich habe mich «altersweise» geäußert. Doch als ich mich dann in einer weiteren Passage nochmal gehört hatte in der Sendung über die Kunst und die Menschen, die sie zu verwalten versuchen, mußte ich dem Autor rechtgeben. Derjenige, den ich da hörte, der war durchaus ich: bedächtig und einigermaßen gelassen mit ihm unter anderem darüber sprechend, daß künstlerische Autonomie und auch Autarkie sich nunmal nicht verwalten ließen. Da war ich inhaltlich wie formal Stimme gewordenes Argument gegen diese Schnellrederei, die einem allüberall entgegenschallt, die so tut, als sei sie Dynamik. Häufig frage ich beim Zuhören: Weshalb redet der so schnell? Wovor rennt die weg? Haben die Angst, man würde am Ende gar verstehen, was sie von sich gegeben haben, und sei es auch nur die Hälfte? In den Siebzigern, zu Beginn meiner Tätigkeit beim Rundfunk saß ich dem Irrtum auf, ich könnte durch schnelleres Reden mehr hineinpacken von dem, vom dem ich meinte, es hineinpacken zu müssen. Also schrieb ich immer ein paar Zeilen pro Manuskriptseite mehr und versuchte, durch schnelleres Reden im vorgegebenen zeitlichen Rahmen zu bleiben. Lächelnd wies mich der erfahrene Redakteur beim zweiten oder dritten Versuch, die Zeit niederzureden, darauf hin, ich solle es bleibenlassen, ich könne rattern wie ein Maschinengewehr, ich würde allenfalls die Hörer damit abschießen. Dreißig Zeilen à sechzig, also insgesamt eintausendachthundert (inclusive Leer-)Zeichen ergeben exakt zwei Minuten, plus minus fünf, allenfalls zehn Sekunden, wobei letztere verlangsamt Luft zum Atmen und Lust zum Hören bringen, in beschleunigtem Tempo bereits Unverstehen und damit Unverständnis ergeben. Jede Zeile mehr bringt somit Verwirrung, im ärgsten Fall schaltet der Adressat ab, im Kopf oder das Gerät. Also lieber streichen. Jedenfalls, wenn's über den Äther soll. Der Vortrag als solcher, ob vorm Mikrophon oder in den Saal hinein, ist etwas künstliches, er will gebaut, rhythmisiert sein, Tempiwechsel weisen den (Zu-)Hörer auf bestimmte Aspekte hin, die zusätzliche Verlangsamung bestimmter Passagen will die Aufmerksamkeit erhöhen, die (gleichwohl erforderliche) Redundanz verträgt etwas mehr Rasanz. Aber in der Plauderei unterläßt man diese dramaturgische Selbstkontrolle, ob da nun ein Tonbandgerät (oder Sauger von Nullen plus Einsen) mitläuft oder nicht. Reden und sprechen sind ohnehin zweierlei. Die Menschen im Off des Radio- oder Fernsehstudios sind, anders als ihre Bezeichnung, keineswegs Sprecher, sondern Reder. Zwar bin ich seit langem nicht mehr aktiv; bereits Mitte der Achtziger habe ich dem attraktiveren Druck nachgegeben, meine Eitelkeit in Holtz gespiegelt zu sehen, und habe nur noch sporadisch reingefunkt. Aber ich habe das Äther-Wissen mitgenommen in den anderen Alltag, es dann auch privat umgesetzt. Seit langem spreche ich als der, der ich bin, wie ich auch denke und schreibe: langsam. Und am liebsten sage ich auch nur dann etwas, wenn es (vermeintlich) was zu sagen gibt, ohnehin nur dann, wenn's nicht bereits gesagt ist. Auch, mit Kleist: «Ich sehe dich zwar große Augen machen, und mir antworten, man habe dir in frühern Jahren den Rat gegeben, von nichts zu sprechen, als nur von Dingen, die du bereits verstehst.» Das Gequassle um des Quasselns willen war ohnehin meine Sache gar nie nicht. Als Alleinunterhalter in der nächtlichen An- und Absage mehr oder minder melancholischer Lieder oder Wörteraustauscher in einer immerfröhlichen Magazinsendung zur Erweckung anderer wäre ich eine absolute Fehlbesetzung. Zur Talg*-Show am Abend würde man mich einmal einladen und dann nicht wieder. Sie hätten Angst, ich spräche sowohl die Gesprächsrunde als auch das zu unterhaltende Publikum drinnen und draußen in den Schlaf. Unsere Kinnings verdrehen so manches Mal die Augen, weil es ein Weilchen dauert, bis ich auf ihre Fragen antworte. Es dauert eben immer eine Zeit, da ich nunmal lieber vorher das Gehirn einschalte. Aber sicherlich kommt zu deren Leidwesen auch das vor (um nochmal Kleist zu bemühen): «Ich mische unartikulierte Töne ein, ziehe die Verbindungswörter in die Länge, gebrauche wohl eine Apposition, wo sie nicht nötig wäre, und bediene mich anderer, die Rede ausdehnender, Kunstgriffe, zur Fabrikation meiner Idee auf der Werkstätte der Vernunft, die gehörige Zeit zu gewinnen.»** Irgendwann muß ich wohl die kleistsche Rezeptur verinnerlicht haben: Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden. Vielleicht sollte ich mal mit jemandem darüber sprechen, woran es liegen könnte, weshalb ich schon als Kind immer gerne lieber älter gewesen wäre. Aber ich nehme nicht an, daß ich, auch bei diesem Thema, zum Schnelldenker oder gar -sprecher würde. * «... Talg-Shows (so spricht's der Franke aus, korrekt, wie ich meine) ...», meint Hans Pfitzinger, nicht nur in Blickrichtung auf seinen fränkischen Landsmann Jean Paul. ** Heinrich von Kleist: Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden. Werke in einem Band. Kleine Schriften. Carl Hanser Verlag, München 1966, S. 810ff.
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