Rätsel

2. Fortsetzung. «Ja. Es ist dieses eine Gesicht.»

«Gut. Spielen wir also weiter. Vermutlich entstammen sie in der fünfunddreißigsten Generation dem Elsaß — in Frankreich ist das ja alles möglich, auch wenn Sie nicht gerade danach aussehen. Aber wer sieht heutzutage schon so aus wie seine angestammte Wurzel? Wenn er überhaupt eine einzige hat. Mich halten Thais und Vietnamesen seltsamerweise immer wieder für einen Japaner ...»

«Und die Japaner für einen Kasachin. Wenn sie gut informiert sind. Ich erinnere mich gut. Im Gegensatz zu dir. Und die Menschen aus Kasachstan nehmen ihren Bruder sofort mit in ihre Jurte zum Trinken von Buttertee. Ihre Jurte schlagen sie überall auf, und sei es inmitten der Kunst. Wenn sie keinen gebutterten Tee haben, weil sie sich auf Reisen befinden, dann nehmen sie Wodka. Ich sagte es, mein Erinnerungsvermögen ist intakt. Es gefällt mir. Auch das, mit einem halben Sibérien verheiratet zu sein.»

«Es ist nicht zu fassen! Wo haben sie denn das her?! Das ist ja allertiefste Innerei, in die sie da hineingreifen!» Was diese Frau alles weiß! Und woher spricht sie so gut deutsch? Es gibt zwar immer wieder mal Franzosen, die das ordentlich können. Aber so gut?! Und das hier ist niemand aus dem Wirtschafts- oder Geistesleben, der es gezwungenermaßen spricht. Auch ist sie mit Sicherheit nicht zweisprachig aufgewachsen wie die mehr oder minder feinen Moderatorenmädels meiner TV-Elfenbeinoase Arte. Dieses Deutsch ist vielleicht früh erlernt, aber nicht aus einer elterlichen deutsch-französischen Freundschaft heraus erwachsen, quasi auf dem Kopfkissen gepaukt, wie mein alter Vater mir diese Möglichkeit von Fremdsprachenkurs vermittelte. Die allzu korrekte, bisweilen papierne, aber dennoch oder vielleicht gerade deshalb äußerst charmant klingende Diktion verweist darauf. Sie spricht beinahe jene Sprache, von dem eine Bernerin einmal beeindruckt, aber doch sehr erschrocken sagte, es sei Bühnendeutsch. Fremd eben. Und deutlich ist zu spüren, daß sie sich darin bewegt wie in in einem Korsett. Fast automatisch passe ich mich ihr an und gerate in ein Deutsch, das doch um einiges abseits des Umgangssprachlichen liegt, das ansonsten aus mir herausquillt. Wer fremdes Terrain erkunden will, wer gut aussehen möchte, der wird den einzigen Flanell tragen, den er im Schrank hängen hat. Er hält schon seit Jahren, da er nicht oft kaschieren muß. Ich spreche, als ob ich im Studio säße, eine Sendung über die Hell-Dunkel-Malerei bei Paul Celan moderierte und dabei analog des abwegigen Themas neben die Spur geriet.

«Sie haben also bereits einen Erkundungsgang durch mich hinter sich. Gedenken sie bei mir einzuziehen? Gefällt es ihnen in mir?»

«Ich sagte es — meine Erinnerung ist ausreichend.»

«Ach was. Sie haben vermutlich im Rahmen Ihrer Patronymes-Forschung an der Universität zu Strasbourg meinen Namen entdeckt und ein bißchen recherchiert und wollen mir nun ein bißchen ins Gehirngedärm fassen. Aus welchem Grund auch immer. Oder hat sie gar meine Verwandtschaft mir auf den Hals gehetzt — eine Verwandtschaft, die nichtmal ich kenne, aber sie?! Zwecks Familienzusammenführung oder so. Auf daß alles wieder ins Lot komme, wie sich das gehört unter anständigen Bürgern. Meine Güte, vielleicht sind wir sogar verwandt, und sie wollen mir einen Nachlaß eröffnen! Hoffentlich kein Fachwerkhäuschen in Barr oder Hagenau! Den Schlüssel können Sie behalten.»

«Familienzusammenführung. So ähnlich. Wir sind verwandt, Didier. Das ist richtig. Aber nicht durch die Alsace. Dann eher durch Asien. Du solltest es wissen. Mon Dieu ! Zudem — Mann und Frau sind immer miteinander verwandt. Sie sind ein Blut geworden.» Sie sagt das, ohne die Stimme zu heben.

«Aber» — der Widerstand läutet die Flucht ein. Ich werde zwar ruhiger, aber auch kleinlauter — «ich habe ihnen doch gesagt, daß ich das letzte Mal vor über dreißig Jahren verheiratet war und dann nie wieder. Und das einzig Lustige daran war der Prozeß der Scheidung an sich, der Sühnetermin. Mein Güte, ich weiß ja nicht einmal, ob ich überhaupt geschieden bin. Aber von ihnen auf keinen Fall, sie sind's nicht. Da bin ich sicher. Denn die Dame war blond. Ich weiß auch nicht, was damals in mich gefahren war.»

«Es ist correct. Wir sind nicht voneinander geschieden. Wir waren lediglich voneinander getrennt. Weshalb, das wirst du mir sagen.»

«Das ist wahrhaftig ein starkes Stück, das Sie hier aufführen. Ich ... Also. Was wollen sie von mir? Lassen wir mal den ganzen Theatermüll beiseite, die Sie mir hier reingekarrt haben. Was wollen Sie?»

«Was ich will, mein Lieber? Was ist das für eine Frage? Eine Frau hat ihren Mann gesucht, und sie hat ihn gefunden. Ich bin ein Trüffelschwein. Nein! Ich bin ein Trüffelhund. Ich bin das, das du bevorzugst: ein Bastard. Sie sind die besten für das Finden von Trüffel. Wenn sie sind Mischlinge und nicht dressiert. Ich habe einen Trüffel gefunden. Wiedergefunden. Das muß ich sagen. Er sitzt vor mir. Und nun bleibt er bei mir, ich behalte ihn im Maul. Es gibt keinen Herrn und Gebieter für mich, dem ich meine liebste Speise abzugeben habe. Weil wir zusammengehören, haben wir zueinander gefunden. Und bitte», sie scheint ungehalten zu werden, «nun bitte ich dich, das Spiel zu beenden und mir zu sagen, weshalb du weggegangen bist. Ohne mich.»

«Ach, sie wissen es nicht!? Damit haben sie sich entblößt. Sicher, sie sind auf Ihrer Haut schöner als die Wahrheit, die daruntersteckt und die sie mir hier andrehen wollen, denn: Mann und Frau kennen einander! Wer mich kennt, der weiß, daß ich nichts besser beherrsche als das Weglaufen.
Genau, ich bin ein Meister der Flucht, Madame — wie heißen sie eigentlich? Mich haben sie sich ja bereits vorgestellt.»

«Didier ...». Es ist ein gedehntes Stöhnen. Es klingt seltsam echt. Es ist zum Fürchten. «Didier, du enervierst mich ungeheuerlich.» Ihre Stimme bekommt eine theatralisch-ärgerliche Einfärbung. Sie muß Schauspielerin sein. Ein bißchen viel Pathos. Wer hat sie mir ins Haus geschickt, sie reingelassen? Isaac? Ist das eines dieser Stückchen, das sie mit ihren Pariser Theaterfreundinnen geschrieben und inszeniert hat? Nein, dazu ist diese hier zu jung. Ist sie das tatsächlich? Ich bin gar nicht mehr so sicher. Andererseits ziehen diese Kreise sich weit. Doch so weit würde Isaac nicht gehen. Vor diesen Folgen, vor diesen Tobsuchtsanfällen hätte sie dann doch zuviel Furcht. Oder auch nicht.

«Eh bien soit !» Ihre Stimme klingt wieder gambenartig. Offenbar habe ich aufgehört, sie zu nerven. Ich hätte nicht gedacht, daß das so schnell gehen kann. «Ich habe so lange gebraucht, dich zu finden, so daß mich diese intellektuell nicht ganz so herausragenden Flegeleien nicht mehr im Übermaß berühren sollen. Es könnte zudem auch sein, daß es zutrifft, was mir zugetragen wurde, daß dein, wie soll ich es sagen, dein neurologischer Aufenthalt, dein Krankenhausaufenthalt dich tatsächlich einen Teil deines Gedächtnisses gekostet hat. Deshalb meine ich ...»

Nun lag ich am Boden. Hilflos rang ich nach klaren Gedanken. Ich stand auf und wollte hinausgehen.

«Du magst viel verloren haben auf deiner Flucht — vor dir, vor mir, vor allem möglichen, das ich — noch — nicht weiß. Jedoch deine Ausweichmanöver hast du nach wie vor gut im Griff. Nimm wieder Platz. Darum bitte ich. Ich habe dich nicht gesucht und gefunden, um dir erneut nachlaufen zu müssen. Du kannst höflich sein. Ich weiß es.»

«Oh Himmel! Wer sind sie, verdammt nochmal, der sie solches ungestraft sagen dürfen! Bin ich ein Herumtreiber, der nicht einmal mehr von seinem Vater erkannt wird? Will Circe mich demütigen? Hat Calypso mich besoffen gemacht? Sind Sie aus einem schlechten Roman gehüpft. Befinde ich mich in einem solchen?! Ich will zu Queneau ins Manuskriptbett. Bei dem geht es lustiger und angenehmer zu. Wie kommen Sie dazu ...»

«Und wenn du es auch gerne wärest — nein, das wärest Du nicht gerne. Dazu bist du, das weißt du selbst, zu feige: die sturmumtosten Meere der Liebe zu bereisen. Und für diesen Ikarus bist du dann, pardon, doch ein wenig zu alt. Dieser Ikarus ist ein Jüngling. Deine Flügel haben nicht mehr die Kraft, dich aus einem Manuskript herauszutragen. Deine Ausflüge sind Papier. Nur ergründen möchte ich, was geschehen ist, weshalb du — meinetwegen? Deinetwegen? — nicht in diesem Paradies geblieben bist, das du dir immer so ersehnt, das du dir quasi erschrieben hattest, das du erreicht hattest, in dem du angelangt warst — und dennoch geflohen bist.»

Ich erhebe mich vom Hocker, gehe ein paar Schritte in Richtung der Mitte des Zimmers und grüble. Langsam senkt sich der Eindruck bleiern in mich, daß mir jemand ganz besonders übel will. War das einer der Racheakte, wie ich sie mal erlebt hatte, dieser hier allerdings in präzise durchgearbeiteter Form? Ich will mich wieder setzen, doch ich unterlasse es, da die unmittelbare Nähe dieser Circe mich von der Erinnerungsspur abgelenkt hätte, auf der ich mich gerade befand. Am Ende befand sich unter dieser Jeans der Leib einer ungeheuerlichen Skylla. Von der Mittelmeernähe stammte sie ja offensichlich ab. So sieht sie jedenfalls aus. Wenn sie auch was von Asien erzählt hat. Aber dort gibt's ja auch Ungeheuer.

War das vielleicht eine Spur? — Als es mir seinerzeit lästig geworden war, im Bett sitzend die Klassiker hinauf- und hinunterlesend zu deklamieren, hatte ich damals die Vorstellung abgebrochen. Soweit war meine Liebe zum Theater nicht gegangen, daß ich dieser Elevin auf Dauer die Rampe bildete, zumal sie zu denen gehörte, die weniger ihre exhibitionistischen Neigungen in die Kunst einzubringen als vielmehr auf der Bühne ihre entwicklungsbedingten psychologischen Wehwehchen zu heilen gedachte. Sie gab mir meinen Korb zurück, indem sie auf die Wände des gerade renovierten Treppenhauses, vom fünften Stock bis hinunter zum Hauseingang, schrieb: Risacher ist ein Schwein. Dieter ist ein Schwein. Risacher ist eine Drecksau. Es dürfte eine Strafarbeit von etwa fünfzig Inschriften gewesen sein. Glücklicherweise war die Wandfarbe bereits trocken und kunststoffgeglättet und die junge Frau unwissend genug, daß man für solche Sgraffiti sich statt eines weichen eines harten Bleistiftes bedient. Dennoch hatte ich mich, unter Anleitung der verständnisvoll aus ihrem Bartgesicht feixenden Hausmeisterin, einer mehrstündigen Tilgung meiner Untat zu unterziehen. Daß die junge Frau ein paar Tage danach versuchte, ihrem Leben ein Ende zu bereiten, hatte sicherlich nichts mit mir beziehungsweise mit dieser meiner Art der Vergangenheitsbewältigung zu tun. Ich hatte ihr Leiden wohl nicht erkannt. Ob es ihr etwas genutzt hätte, wird wohl nie in irgendwelchen Annalen auftauchen. Nach langen Jahren, vor ein paar Wochen, begegneten wir uns auf der Straße und nickten uns kurz zu. Sie hatte mich also offenbar unbeschadet überstanden. Vielleicht lag es daran, daß mein arg schlechtes Gewissen mich damals zu ihr ins Krankenhaus trieb und der freundliche Arzt mich trotz fehlenden Verwandtschaftsgrades zu ihr ans Bett ließ. Wie auch immer — die vor mir sitzende, für mich schmerzhaft selbstbewußte Grazie hier kann kaum etwas mit meinem damaligen Abenteuer zu tun haben. Das in die schwache Erinnerung abgelegte Gesicht trägt viel zu sehr die Züge einer eher langweiligen Brünetten, die später in der Resignation eines Verwaltungsbüros enden würde. Vielleicht gerade noch in dem eines Theaters oder eines Fernsehsenders.

Oder ist das hier der Versuch, mich für eine andere Tat zu demütigen, von der ich nichts weiß — an die ich mich nicht erinnere, weil ich mich nicht erinnern will? Meine Besucherin kommentiert meine Nachdenklichkeit nicht weiterhin so lakonisch wie zuvor. Sie schweigt. Gehört ihr Schweigen zur Dramaturgie, zur Inszenierung eines Dramas, dessen Schrecken sich in der vor mir sitzenden scheinbaren Sanftmut versteckt? Sollte es am Ende gar erst richtig losgehen? Sie war mir einfach zu ruhig. Ich löse mich aus meinen nach hinten gerichteten Gedanken und trete nach vorn an den Tisch. Ohne nachzudenken schalte ich das Licht ein. Es schlägt in mich ein. Vor mir sitzt Fatima.

Oder? Denn dieser Blitz in die Vergangenheit blendet die damalige Niederlage gleich mit ein. Es war eine Niederlage, die ihresgleichen sucht. Denn eben dieses zarte junge Geschöpf namens Fatima hatte ich verschmäht und meine Pfauenfedern einer anderen, um einiges älteren, wohl wegen ihrer Reife anziehenderen Tochter Algeriens aufgestellt. Hier die in der Anfangsblüte stehende Schönheit und dort diejenige, die bereits die Nacht in der Hand des Blumenverkäufers durchlebt hatte, deren feingeschnittenes Gesicht eben jene Pigmentierung kennzeichnete, die aus Säften entstanden ist, deren Wurzeln aus tiefem Sand gerissen und zwischen den Kalkstein und den Lehm des französischen Jura verpflanzt worden waren. Doch diese hier, die ich in diesem Augenblick sah, war Fatima, ohne jeden Zweifel. Oder?

Fatima. Das Alter könnte hinkommen. Zehn, zwölf Jahre gereift. Etwa wie der Château Laroque Saint-Emilion Grand Cru 1989, den der Freund bei mir zehn Jahre später fast alleine getrunken hatte und von dem der Musikbesessene am nächsten Tag meinte, keine Melodie, kein Rhythmus dieser Welt, kein anderes Stöffchen habe seine Seele je derart emphatisch aufflattern lassen wie dieser Wein. Zwar immer mit festem Tritt, dennoch konstant zwei Zentimeter über dem Boden sei er nach Hause getänzelt. Dieser den Regen verherrlichende Wetterberichts-Ami aus dem Werbefilm der Bank sei dagegen nachgerade ein Schuhplattler. Eine angenehmere Art von Wirklichkeit, fügte er während des Telephonats am Tag danach noch hinzu.

Oder war es doch Fadila? Der Lichtstrahl war zu direkt auf das Gesicht gerichtet, um den Reifegrad genauer zu bestimmen. Lebenslinien waren dabei nur schwierig auszumachen. Es fehlte doch ein wenig die weiche Milde des Kellers. Jene Fadila, die meine Äußerung, ich würde meine Eroberungsversuche nie aufgeben und den Kampf mit dem widersacherischen senegalesischen Barbesitzer fortführen, mit einem kaum merklichen ironischen Mundwinkelzucken kommentierte. Der Kampf sollte bald ein Ende haben. Als ich von der Kampfwiese der ortsansässigen Algerienfranzosen war, die mich so freundlich aufgenommen hatten, weil ich, wie mich der seit fünfundzwanzig Jahren mit einer solchen verheiratete Freund aufklärte, wie sie kein richtiger Franzose war, verblaßte das Antlitz dieser Göttin ein wenig. Nur die photokopierte Photographie an der Bürowand rückte sie manchmal für Sekunden ins Blickfeld der damals zweiwöchigen, täglich erneuerten Buchung des Hotelzimmers. Aber entfernt hatte ich das Bild nie! Seit damals.

Also doch Fadila?

Zwei Tage • Eine sentimentale Reise • Erzählung
 
Di, 16.12.2008 |  link | (2209) | 2 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Zwei Tage


nnier   (16.12.08, 21:31)   (link)  
Ich bleibe gespannt, wer hier eigentlich wen in seinem Kopf besucht!


jean stubenzweig   (17.12.08, 06:19)   (link)  
Ich kürze und kürze
ja schon – für meine beiden Leser, Sie und mich. Ihnen danke ich, mich verfluche ich (das angefangen zu haben). Es ist so verdammt lang, das Stückchen. Vielleicht sollte ich es auf eine gesonderte Seite heben, da es mir auf der hiesigen die Köpfe zu sprengen droht.















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