Leere das Leben

Nach meinem morgendlichen Mittagessen (jedem seinen Rhythmus!) pflege ich, um dem Nickermännchen die Landung in meinem abseitigen Schlafzentrum zu erleichtern, eine Programmhüpferei zu veranstalten. Ich bin dabei eigentlich nur auf der Suche nach einem Brabbelplatz, der mir das Einschlafen erleichtert; das funktioniert allerdings nur auf den von mir bevorzugten Sendeplätzen, da es auf anderen in der Regel nur schlaffes Getöse gibt, das die Lücken zwischen den Werbeblocks zu füllen hat. Dabei kommt es jedoch vor, daß ich hängenbleibe und das Absegeln so ein wenig verschiebe, da sich interessante bewegte Bilder zeigen. Das war der Fall, als ich aus dem Mund einer circa Fünf-, Sechs-, Siebenundzwanzigjährigen in etwa hörte:
Wie sind die Werbeagentur Immerneu und erfinden im Auftrag eines unserer Kunden ein neu auf den Markt zu bringendes Produkt. Wir versuchen nun Wurst für Kinder so zu entwickeln und zu präsentieren, daß die Zielgruppe optimal erreicht wird.
Heraus kam Wurst aus der Tube. Ich könnte das nun alles ziemlich komisch finden, auch, daß ständig irgendwelche fernsehverseuchten Klein- und Großschratzen irgendwo an und in irgendwelchen Fläschchen und Döschen und sonstwas nuckeln, lecken und schlabbern, die die Werbewirtschaft nur für sie entwickelt und plaziert hat, ebenso, daß solches Zeugs dann auch tatsächlich massenhaft in den Einkaufskörben landet und die Alten dafür berappen, weil's sonst Ärger mit den lieben Kleinen gäbe, den es tunlichst zu vermeiden gilt, will man doch auchmal seine Ruhe haben. Lachen könnte ich auch darüber, daß der offensichtlich extremistisch wirtschafts- und regierungsfreundliche WDR nach dem Motto Wir spielen Werbeagentur die Rettung des Konsumterrorismus betreibt, indem er solches in aller Ernsthaftigkeit thematisiert: vier-, fünfjährige Kinder lernen werbetexten mit dem Ziel: Vermarktung der vom Kreativkreis Mütter für Leben & Mittel e. V. hausgemacht zusammengerührten Limonade. Vorschule zur Steigerung des Bruttosozialprodukts. Aber so sehr ich mich auch bemühe — ich kann's nicht komisch finden. Das einzige, was mir momentan dazu einfällt, ist: Sei froh und glücklich, Alter, daß du ein Alter bist und du das nicht mitmachen mußt, was da an Gülle über die Jungen gekippt wird. Aber so einfach ist's dann eben doch nicht, denn so ungeschoren kommt man eben nicht davon, wenigstens, solange man noch in die Patte greifen muß, um diesen lebensfernen Müll zu bezahlen. Daran ändert auch nicht die voraussichtliche Tatsache, daß sie später einmal, wenn sie so richtig drinstecken im konsumbeseelten Leben und das Geld dafür haben, und sei es aus der Portokasse des Herrn Hartz, das selbst bezahlen, was sie garantiert nicht benötigen.

Und so stelle ich mißmutig fest, daß es mir noch lange hin ist bis zu der Gelassenheit, von der ich gerne meine, ich hätte sie, kreisen die Gedanken dann doch, finden sich dann weitergedacht anderswo wieder, etwa bei Gorillaschnitzel.
 
Do, 18.12.2008 |  link | (3932) | 23 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Gesellschaftsspiele


bueddenwarderin   (18.12.08, 11:09)   (link)  
ist das schon
wieder eine deiner anspielungen? aber selbst wenn nicht - irgendwo hast du recht. auch wenn mütter das einfach mal anders sehen als herzlose väter ...

hab ich das jetzt fein gemacht, so technisch so? du prinzipien ... oh du mein herr prinzipal.


jean stubenzweig   (18.12.08, 14:38)   (link)  
Brav
hast Du das gemacht. Aber ich dachte, Du arbeitest (im Gegensatz zu mir) brav?!

Nein, es ist keine Anspielung. Du solltest meine gesammelten Aversionen doch kennen.

Das Nest bleibt sauber!


mark793   (18.12.08, 11:33)   (link)  
Tja,
die Gesellschafts- und Konsumkritik, die uns im Fernsehen etwa in der "Rappelkiste" oderbei Peter Lustigs "Löwenzahn" noch mitgegeben wurde, sucht man in heutigen Kinderprogrammen (auch öffentlich-rechtlicher Provenienz) offenbar vergebens. Was ich ehrlich gesagt auch nur halbherzig bedauere, denn diese moralinsaure Indoktrination mit der Brechstange finde ich irgendwie auch nicht mehr so richtig zeitgemäß, wie ich dieser Tage beim Rumtauchen in der Du-Röhre feststellte.

Ich denke, wir müssen (wie unsere Eltern damals übrigens auch) die richtige Mischung finden aus Mitmachen und Grenzen setzen, ermöglichen und bewahren. Im Moment (die Kleine ist grad vier geworden) funktioniert das sogar noch einigermaßen. Natürlich finden wir nicht alles toll, was da an externen Einflüssen via Kiga und Freunde auf sie einschwappt, nicht alles, was sich die Kleine wünscht und was sie auch bekommt ist biologisch-dynamisch und pädagogisch besonders wertvoll. Das lässt sich in der Striktheit gar nicht durchhalten. Und das gar nicht mal, weil es uns schwer fiele, Grenzen zu setzen und auch mal Gequäke wegen eines klaren "Nein!" auszuhalten. Sondern auch, weil wir diese Perfektion der heilen Welt auch gar nicht so vehement und krampfhaft anstreben. Wenn ich ansonsten unter der Woche viel Gesundes und Wertvolles auf den Teller bringe, können wir am Wochenende oder auf einer Ausflugstour auch mal bei McDoof Station machen. Um bei Ihrem Bild von der Gülle zu bleiben: Es ist illusorisch, Kinder völlig ohne Kontakt mit Gülle aufwachsen zu lassen. Aber man muss sie ja nicht gleich baden drin.


jean stubenzweig   (18.12.08, 12:39)   (link)  
Nein,
das war kein Kinderprogramm. Ich habe zwar nur den Rest mitbekommen, aber soviel weiß ich: Es handelte sich um eine Art Berichterstattung zum Thema Produktfindung bzw. -plazierung. Und das Ganze war mindestens so «moralinsaure Indoktrination mit der Brechstange» wie früher, nur wesentlich humorbefreiter insofern, als alle immer ganz fürchterlich fröhlich dabei waren. So eine Art Sendung mit der Maus für Erwachsene. Die Kinder waren dabei offensichtlich nichts als Staffage.

Was den Rest Ihres Kommentars betrifft, da gebe ich Ihnen nahezu uneingeschränkt recht. So sauertöpfisch lebensfern, wie es manchmal den Eindruck erwecken mag, bin ich nicht. Aber bei einem bleibt es: Ich bin ein Feind von Werbung, die über die reine Produktinformation hinausgeht. Manchmal bekomme ich sie mit, wenn ich nicht den Spielverderber geben möchte und brav mitglotze beim «Gernsehabend» (so hieß es mal beim RBB). Das poliert meine Feindschaft jedesmal aufs neue auf. Da kommt meines Erachtens ein Großteil der Verdummung her. Sie wird – ihr immanent – fraglos konsumiert.

Vielleicht liegt es ja daran, daß es in meiner frühen Kindheit noch kein Fernsehen gab und ich dann, als so ein Gerät ins Haus kam, nie daran teilnehmen durfte. Und wenn das Radio mal eingeschaltet wurde, dann nur, weil es irgendein Konzert gab. Ich bin allerdings nicht sicher, ob das die alleinigen Ursachen für meine ablehnende Haltung sind.


nnier   (18.12.08, 12:43)   (link)  
Ich versuche auch,
dabei entspannt zu bleiben und sehne mich nicht unbedingt nach den Zeiten zurück, in denen Spiele keine Sieger haben durften, man nicht mit der Zündplättchenpistole herumfuchteln durfte, ohne dafür eine Ladung Mitschuld an zwei Weltkriegen aufs Gewissen gepackt zu bekommen, keine Cola trinken, ohne über Nicaragua aufgeklärt zu werden, und in denen Hauswarte und Polizisten grundsätzlich dumm und gemein waren. (Machste mal zu Hause Krach / Kriegste gleich eins auf das Dach / Willste übern Rasen laufen / Musste dir ein Grundstück kaufen / Spielste mal im Treppenhaus / Schmeißt dich gleich der Hauswart raus).

Das alles kommt mir inzwischen aber reichlich harmlos vor gegen die absichtliche, zynische, kalkulierte, menschenverachtende Dreckreinwürgerei, materielle wie geistige. Ich hasse McD nicht für seine Burger, sondern für sein sogenanntes Spielzeug, hergestellt in China unter Bedingungen und aus Material, über die man lieber nicht so genau bescheid wissen will. Übelster Müll, von vornherein für ein sehr kurzes und zweifelhaftes Vergnügen produziert (da die Kinder schnell merken, dass es reine Blenderware ist, die sofort kaputt geht) und dann ab in den gelben Sack mit dem sprechenden Hund samt Knopfzelle und LED. Alleine was das lehrt, an Verachtung gegenüber Mensch und Umwelt, macht mir den Magen flau. Dann die sogenannten Kinder-CDs, auf denen nach den denkbar niedrigsten textlichen und musikalischen Standards produktionstechnisch aber gut aufpolierter Dreck an hilflose Menschen vertickt wird, die es noch nicht besser wissen können. Dann das insgesamt ziemlich scheußliche Fernsehen.

Schluss damit. Mir ist heute eh schon schlecht. Aber eins noch zur Einordnung: Ich lese Comics. Ich freue mich, wenn meine Kinder das tun und wenn sie über Zeichentrickfilme lachen. Ich habe große Probleme mit elitärem Bildungsgehabe. Aber langsam verstehe ich Waldörfler und andere Menschen, die sich von diesem Dreck deutlich abzugrenzen versuchen, immer besser. Irgendwann kann man dem Güllebad kaum mehr anders entkommen. Leider fehlt mir das Geld, um aufs Land zu ziehen und die ihren Mist alleine machen zu lassen.


jean stubenzweig   (18.12.08, 13:17)   (link)  
Ja und nochmals ja!
Auch zu Zeichentrickfilmen. Aber das mit dem Land, das können Sie vergessen. Der Mist, der dort gemacht wird, kommt auch aus dem Flachbildschirm. Die Kinder gehen kaum noch auf die Koppel, stecken keinem Frosch mehr was hinten rein und lassen auch keinen mehr knallen. Wenn sie nicht im Ballett oder Hockey oder beim Klavierüben oder im Chinesisch-Kurs schwitzen, dann sitzen sie, wenn nicht vorm Fernseher am Computer und schauen Gülleclips an. Weil sie nicht wissen, wie richtige aussieht.

Zumindest in deutschen Landen sehe ich kaum noch einen Haufen vor der Tür, der von Rindern oder Schweinen gemacht wurde. (Oder hat die EU sie verboten?) Der einzige außerhäusige Mist, den ich sehe, stammt von Pferden (die ich nach Hockey vergessen hatte).

Aber schön ist's trotzdem op'n Dörp. Und wenn ich Stadtkrach benötige, Sie wissen schon, wohin ich da fahre ...


mark793   (18.12.08, 15:22)   (link)  
@nnier:
Richtig, dieser trashige Juniortütenramsch ist indisktuabel. Aber ein gelegentlicher Besuch bei der goldenen Möwe verpflichtet ja nicht zum Erwerb dieses Tands. Und Fernsehen, tja, auch da erkenne ich keine Verpflichtung, das Gerät anzuschalten. Wenn wir nicht ab und an mal eine DVD gucken würden, hätten wir die Kiste wahrscheinlich längst abgeschafft. Ich gucke mit der Kleinen ab und zu irgendwelche Youtube-Schnipsel am Rechner (ihre aktuellen Lieblingslieder: 99 Luftballons von Nena und Kodo von DÖF), das reicht fürs erste mit Bewegtbild.

@stubenzweig:

Aber bei einem bleibt es: Ich bin ein Feind von Werbung, die über die reine Produktinformation hinausgeht.

Dazu habe ich eine etwas differenziertere Auffassung. Als 1963 geborener bin ich zumindest im Grundschulalter mit dem Fernsehen (Lassie, Daktari & Co.und Werbeblöcken im Vorabendprogramm) in Berührung gekommen. Und zum Entsetzen meiner extrem werbefeindlichen Eltern fanden wir die Werbespots jener Zeit nicht minder unterhaltsam als das Rahmenprogramm. Ich würde nicht so weit gehen wie Michael Schirner, der deklarierte, Werbung sei Kunst. Aber ein gewisses Faszinosum hat sich die Fernsehwerbung, auch wenn ich das meiste davon absolut zum Kotzen finde, doch bewahrt. Und sei es die Faszination des Grauens. Weil mich soziokybernetische Prozesse und ihre Aktoren seit jeher stark interessieren, war es irgendwann naheliegend, mein Interesse an Medien und verwandten Themen auch journalistisch-beruflich zu kanalisieren. Und so stehe ich der Werbebranche, die ja letztlich die Zeche zahlt für meinen redaktionellen "content" nicht unbedingt fundamentalkritisch gegenüber, wenngleich ich behaupte: Wie perfide Werbung tatsächlich wirkt, ist sogar den meisten Menschen, die sich selber als kritisch und relativ werberesistent betrachten, weitgehend unklar. Wer nicht auf einer einsamen Insel lebt, steckt immer noch drin in der Matrix der artifiziellen Markenwelten, selbst wenn er sich einbildet, die blaue Pille schon geschluckt zu haben.

Aber das führt mich jetzt zu weit weg von unserem Ausgangsthema. Was mich an dem fundamentalistischen Verweigerungskurs von Steiner-Jüngern und Konsorten dann doch abstößt, ist das dogmatische Schwarzweißdenken à la "analog gut - digital böse". Zudem mache ich die Beobachtung, dass radikale Bewahrpädagogik mit ihrer gutgemeinten Angstmache langfristig oft gegenteilige Wirkungen zeitigt, dergestalt, dass manche Waldorf-Schüler oder Dinkelkeks-Diätopfer später umso kräftiger bemüht sind, die entgangenen Erfahrungen nachzuholen.


nnier   (18.12.08, 16:16)   (link)  
> dogmatische Schwarzweißdenken à la "analog gut - digital böse"
> radikale Bewahrpädagogik mit ihrer gutgemeinten Angstmache langfristig oft gegenteilige Wirkungen zeitigt

Ich kann da nur zustimmen. Genau das ist es, was mich Waldorf & Co. gegenüber immer einen Sicherheitsabstand einhalten ließ, eine gewisse Freudlosigkeit, Dogmatismus, Schwarzweißdenken und nicht zuletzt auch ein bestimmter Standesdünkel, der sich gerne mal in Unverständnis der Volvofahrer denen gegenüber ausdrückt, die die H-Milch bei Aldi kaufen und nicht jeden Fantasiepreis im Bioladen bezahlen können oder wollen. Und mir mit meiner Comicleidenschaft etc. hätten sie das Leben sicher auch schwer gemacht. Trotzdem: Ich kann's immer besser verstehen (und "Waldorf" ist hier nur eine Chiffre für diverse Formen der Abkehr und Abwehr), wenn Menschen sich entscheiden, dem Güllestrom auf diese oder jene Art entgehen zu wollen.

Was ich anders sehe, bzw. womit ich Probleme habe, ist das Argument "man ist nicht verpflichtet / man muss ja nicht" (zu McD gehen, Müll im TV ansehen usw). Es ist doch interessant, dass Sie den Kasten beinahe abschaffen und ich noch nie so wenig ferngesehen habe wie im vergangenen Jahr, vermutlich nicht, weil das Programm besser geworden wäre - und es gleichzeitig völlig normal ist, dass Kinder (auch schon Grundschüler) einen eigenen Fernseher im Zimmer haben! Der läuft teilweise buchstäblich Tag und Nacht, und das hat nichts mehr mit dem gemeinsamen, bewussten Fernsehen, über das man hinterher sprechen kann, zu tun und auch nicht mit der heimlich erschlichenen Stunde beim Nachbarskind. Klar habe ich in den 70ern auch gerne Werbung geguckt! Ich kenne sie noch zu großen Teilen auswendig. Aber sowohl die Geschwindigkeit als auch die Art der Ansprache und die Reizstärke haben sich extrem verändert. 60 Sekunden Frau Sommer an der Kaffeetafel oder Clementine neben der Waschmaschine zuzusehen, eingerahmt von einem klaren Anfang und einem Ende des Werbeblocks, jeweils unterbrochen von 10 Sekunden Mainzelmännchen, das ist ja geradezu ein beschauliches Kaspertheater gegenüber dem gewaltsamen Geknalle bei "Super RTL" & Co. Und wenn man davon so massiv angegangen wird, wenn man dann sieht, wie Kinder nicht mehr schlafen können, keine "reiz-lose" Zeit aushalten, dann kann man sich schon fragen, ob "muss man ja nicht machen" die Realität vieler Menschen überhaupt trifft.


mark793   (18.12.08, 16:30)   (link)  
Leben diese Menschen,
von denen Sie sprechen, denn in einem derart anderen Realitätstunnel wie ich? Gelten dort andere Sachzwänge und Gesetze, die einen beispielsweise zum Ratenkauf und Dauergebrauch eines schrankwandgroßen Flachbild-Fernsehers mit angeschlossenen Daddel-Controllern und 5-in-1-Bass-Endrohren verpflichten? Unterschreibe ich beim Betreten einer Systemgastronomie-Filiale eine unwiderrufliche Einverständniserklärung über den Erwerb von batteriestromverbrauchenden Plastikramsch aus Fernost?


nnier   (18.12.08, 16:40)   (link)  
Mit den Tunneln das
weiß ich nicht. Möglicherweise ist es so. Unterschreiben muss man eben gerade nichts, das geht ganz ohne solche offensichtlichen Zwänge.
Sie z.B. beschreiben, welche Medienkompetenz Sie haben und Sie werden die auch Ihrem Kind vermitteln. Aber das ist eben nicht überall so. Es hat (unter anderem) viel mit Bildungsmöglichkeiten zu tun. Und damit, dass alles an alle verramscht wird, solange man damit auch nur einen müden Euro machen kann.


mark793   (18.12.08, 16:50)   (link)  
Ich verstehe durchaus,
was Sie meinen. Ich sehe ja auch die strukturellen Hemmnisse, die es unbequem bis schwer machen, den eigenen Horizont zu erweitern bis zu dem Punkt, an dem man erkennt, dass man sich zu schade sollte, sein Dasein nur als Kauf-, Klick- und Guckvieh zu bestreiten, und wenns auch noch so bequem ist - comfortably numb, wie es in einem Pink-Floyd-Song so schön heißt. Mein Vater war übrigens biertrinkender Schichtmalocher, von daher kenne ich diese Welt und ihre Geisteszustände nicht nur aus Soziologiebüchern. ;-)


nnier   (18.12.08, 22:48)   (link)  
Und das ist ja
nur die eine Seite, die der Rezipienten, zu denen ich mich auch zähle, und die fraglos ihren Teil zu tun haben. Dazu sind die Möglichkeiten eben doch ungleich verteilt. Ich schrieb schon mal in einem anderen Zusammenhang, dass mir auffällt, wie oft man z.B. gerade von Medienschaffenden liest: "Mein Kind darf nur wenig und unter Aufsicht fernsehen, computerspielen, etc."
Man kann sich aus dieser Verantwortung natürlich nicht herausstehlen.

Aber dass es überhaupt erlaubt ist und gesellschaftlich geduldet wird, wenn Kinder so massiv angesprochen werden wie in mancher Werbung (da wird mit ganz starken Gefühlen, Sehnsüchten, Ängsten und Autoritäten gearbeitet, das Feld wird durch Werbepsychologen ja ständig bearbeitet), finde ich skandalös.

Kinder nehme ich deshalb als Beispiel, weil sich hier besonders deutlich zeigt, wie skrupellos wirklich alle Mittel eingesetzt werden, wenn's nur irgendwem einen Gewinn verschafft. Schwierig ist das Thema aus meiner Sicht deshalb, weil es für jeden konkreten Punkt immer ein Gegenbeispiel gibt. Mancher kommt eben auch gesund durch, und man kann keine einfachen Ursache-Wirkung-Zusammenhänge aufstellen: Wenn McD, dann später dick, wenn zuviel TV, dann später dumm. (Früher habe ich mich massiv gegen die simple Pädagogengleichung "Wer mit Spielzeugpistolen spielt, findet später Krieg geil" gewehrt).

Aber in der Summe macht es schon etwas aus, ob man Kindern beibringt, dass Sachen bunt und toll aussehen können, die nichts taugen und die man schnell wegschmeißt, da sowieso immer wieder was nachkommt (aber nie beständig ist); dass Glutamat echt lecker schmeckt (weil es nie was anderes gibt); dass "Kochen" heißt, Fertignahrung in die Mikrowelle zu schieben (und das süße Eichhörnchen ist auch drauf abgebildet).

Neulich sprach ich mit jemandem vom Fach, der mir sagte, wie sehr ihm erst jetzt klar werde, was für einen Verlust die Einsparung der Kindergartenküchen zugunsten der finanziell günstigeren Lieferdienste eigentlich bedeuteten - nämlich einen fundamentalen Verlust an Erfahrung (wie wird Essen gemacht? Kartoffeln schält man? Das riecht so und so?), wenn das Zeug wie hingebeamt plötzlich einfach da ist, aufgerissen und auf den Tisch gestellt wird.

[Ich breche hier aus Zeitmangel und Rücksicht mal ab, sonst wird's endlos]


mark793   (18.12.08, 23:36)   (link)  
Der eigentliche Hammer
in diesem Zusammenhang ist ja nicht mal, dass die Kurzen (jetzt mal pauschal gesprochen) bei dem Klimbim, der für sie konzipiert wurde, heutzutage so viel mitzureden haben und keinen Widerspruch und kein "nein!" dulden. Ich kenne Untersuchungen, die halbwegs glaubhaft darlegen, dass sich der Kindereinfluss längst auch auf Kaufentscheidungen oder zumindest Markenpräferenzen bei Unterhaltungselektronik, IT, Handies, Autos und dergleichen erstreckt. Die Kurzen sind es oft genug, die den Alten die Ansage machen "boah, geil" oder "geht gar nicht".

Wogegen im Prinzip auch nichts zu sagen ist. Das Problem sehe ich bei den Eltern, wenn die sich auch danach richten, aus Sorge, nicht mehr für voll genommen zu werden, uncool zu sein, whatever. Ich weiß noch, das wir das damals natürlich auch versucht haben. Aber meine Eltern ham uns was gehustet. Und dafür bin ich ihnen verdammt dankbar.


herzbruch   (19.12.08, 02:05)   (link)  
ich werde vielleicht bei gelegenheit mal davon berichten, wie der vom volvo traeumende hardcore-anthroposoph, der sich im anthroposophischen krankenhaus witten-herdecke das knie richten laesst, und die hardcore-realistin aus der konservativen familie gemeinsam einen beebie kriegen. ich nehme mal vorweg: ich fuehre leicht nach runden. ich darf in der uniklinik entbinden, esse nur noch bio-obst, und in der -- wenngleich etwas verfruehten -- diskussion ob steiner-paedagogik oder nicht habe ich ihn 30 minuten nicht zu wort kommen lassen, danach war waldorf vom tisch.
jedenfalls ist die kombination nicht uninteressant, und manchmal denke ich, wir lernen beide dazu...


nnier   (19.12.08, 09:32)   (link)  
Infantilisierung und so
@mark793: Ja, das sind auch so Dramen: Eltern, die ihren Kindern zu früh zu viele Entscheidungen überlassen. Wenn's (je nach Alter und Horizont des Kindes) nicht mehr darum geht, ob's ein Überraschungsei oder Gummibärchen, Schulranzen A oder B sein sollen, sondern um größere, längerfristige Familienentscheidungen, sind die Erwachsenen gefragt. Auch wenn's anstrengt, kann man sich bei Themen, die sie einfach nicht überblicken können und die sie z.T. auch nichts angehen, nun mal nicht danach richten, welchen "Widerspruch" die Kinder "dulden". Im konkreten Fall ist das anstrengend (ich habe da durchaus einige Schrammen vorzuweisen und hole mir regelmäßig weitere).

Im Urlaub höre ich ein Kind unzufrieden rumplärren, und die Eltern sagen ganz empört: "Aber du wolltest doch ans Meer, wegen dir sind wir doch hierhin gefahren!" - das hat nichts damit zu tun, Kinder ernst zu nehmen, sondern damit, sich vor seiner Rolle als Erwachsener zu drücken, dem Kind zuviel Verantwortung aufzuladen und ihm hinterher vorzuwerfen, dass man ihm nun doch alle Wünsche erfüllt habe und trotzdem sei es nicht zufrieden. Ach was.

Sie schreiben's ja: "Aber meine Eltern ham uns was gehustet. Und dafür bin ich ihnen verdammt dankbar." - dem habe ich nichts hinzuzufügen.

@herzbruch: Da bin ich aber mal gespannt!


monnemer   (19.12.08, 10:20)   (link)  
@ all:
Das hier zu lesen tut mir richtig gut. Stimmen der Vernunft in einem Sturm von Wahnsinn.

Dass sie allesamt die Tassen da haben, wo sie hingehören war mir zwar schon klar, aber trotzdem: Danke.

(gestern wollte eine Schulkameradin meiner Tochter bei uns übernachten. Ich musste sie leider wieder heimfahren, da sie nur bei eingeschalteter Glotze schlafen kann. Die Eltern waren erstaunt, dass das bei uns nicht möglich ist. Hilfe.)


vert   (19.12.08, 12:23)   (link)  
eskapismus (in der kindererziehung) ist sicher keine lösung, schon gar nicht der reaktionäre der steiner-anthroposophen (die es, mir unverständlich, irgendwie geschafft haben, den bio/natur-begriff zu kidnappen. was ihm keine hilfe ist).
später vielleicht schon, "in quiet despair" in den wald(en;-)

was kinder gelegentlich mit tieren machen - und dass erwachsene das für normal halten - hat mich dagegen schon als kind abgestoßen (und nein, ich bin kein veganer).


mark793   (19.12.08, 12:40)   (link)  
@monnemer:
Ohne Worte.

@vert: Man sagt, Mitgefühl mit anderen Kreaturen entwickle sich erst nach und nach im Zuge der Entwicklung der eigenen Persönlichkeit. Das lass ich jetzt einfach mal so stehen.


herzbruch   (19.12.08, 15:40)   (link)  
@monnemer:
ich gehoere ja auch zu den menschen, die ohne beschallung nicht schlafen koennen (tinnitus). aber mich beschallt entweder asterix oder agatha christie...

@vert: man muss nicht an elfen glauben und sich einem elitaeren "wir-sind-anders"-verein anschliessen, um nicht unbedingt gespritzte tomaten und 5000 km transportiertes fleisch essen zu wollen. ich bin weiter von waldorf entfernt, als man mit blossem auge erfassen kann, doch wenn man mir in den tagesthemen jetzt schon erklaert, dass ich meine apfelsinen erst heiss abwaschen muss, bevor ich sie schaele, da sonst zuviel gift von der schale auf den essbaren teil uebergehen wuerde, dann frage ich mich, ob ich nicht vielleicht einfach ganz andere apfelsinen essen will...


vert   (20.12.08, 02:53)   (link)  
@herzbruch: ich weiß das. da trennt uns keine apfelsinenschale. oder so.
es ging mir mehr um die öffentliche wahrnehmung der "szene", die sich in den letzten, sagen wir zehn jahren, doch auch ins positive gewandelt hat. dafür wurden allerdings auch viele zöpfe abgeschnitten; die zeit wird zeigen, ob das der richtige weg war.


jean stubenzweig   (20.12.08, 03:17)   (link)  
Vor allem
wenn ich dabei an die EU-Verordner denke, die nichts anderes im Kopf haben als den weltweiten Markt. Natur? Gesundheit? Da hat sich beispielsweise in Frankreich nun endlich so gaaanz langsam ein bißchen was getan an vertem Gut (sowas dauert dort nunmal länger als anderswo), und nun wird es zunichte gemacht, weil alle möglichen Grenzwerte immer wieder nach oben verschoben werden. Und in Deutschland oder sonstwo ist's letzten Endes auch nicht anders, da unter dieses neue Bio-Siegel doch niemand mehr drunterschaut. Oder durchblickt. Bio steht drauf, also wird's gekauft. Aber nach dem, was unter der Schale ist, fragt keiner. Die Brüsseler werden's schon richten. Mir kommt es ja jetzt schon so vor, als ob nichts anderes mehr angeboten wird. Es dauert nicht mehr lange, und man wird scheel angeguckt, wenn man was anderes kauft. Ich kaufe im Supermarkt schon lange kein Bio mehr. Schon alleine deshalb, da es, wie hier schon des öfteren erwähnt, aus Chile oder China stammt. Das ist doch absurd, was da abgeht. Ach, endlos.


hanno erdwein   (18.12.08, 12:01)   (link)  
Das Leben leeren bis zur Neige ...
und sich dabei geschickt an den Klippen vorbeibewegen, die uns scheitern lassen könnten. Auch mich nervt die Parole der neuen Religion völlig ab, die da schon den Kleinen auferlegt: Du sollst konsumieren! Wenn das doch nur geistig verstanden würde! Abgezielt ist aber auf die schon im Kleinkindalter vorprogrammierten Fettwülste. Da nehm ich mir dann doch lieber ein gläschen Roten, erkunde das Programm akribisch, ob nicht zufällig ein Shakespeare oder Shaw sich in die Öffentlich Rechtlichen verirrt hat - und wenn nicht, dann wird die Konserve bemüht - und ich verfahre nach dem Wahlspruch: Leere das Leben bis zur Neige! Hanno


jean stubenzweig   (18.12.08, 12:52)   (link)  
Shakespeare
oder Shaw, werter Hanno Erdwein, verirrt sich nicht in die Öffentlich-Rechtlichen, die beiden und noch ein paar andere sind da zuhause. Das ist ja der Grund, weshalb ich sie bevorzuge. Nicht das Erste und das Zweite. Die sind ja ebenso zugemüllt wie die Privaten. Die Ableger eben: 3sat, arte, phoenix. Und auch auf den Dritten guckt man werbefrei hin und wieder Interessantes. Es muß beileibe nicht nur immer Shakespeare oder Shaw sein.

In einem sind wir uns völlig einig: Diese Konsumparolen sind widerwärtig.















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