Sirren, nicht Sirenen

Heute erinnert er sich gut an den neben ihm stehenden, ihm bekannten Galeristen, der ihn gefragt hatte, ob ihm nicht gut sei und ob er ihm helfen könne, sich dabei allerdings nicht vom Fleck rührte. Ein anderer, den er bereits seit einiger Zeit prüfend beobachtet hatte in der Vermutung, es könne sich dabei um einen lange nicht gesehenen und auch langerwarteten Freund halten, wiederholte die Frage des Untätigen, wurde allerdings sofort aktiv, als er die Instabilität des Körpers bemerkte, mit einem Griff unter die Arme, ließ ihn sanft zu Boden gleiten und legte seine Füße auf die Fußrasten des von einer hinzugeeilten Frau herbeigezogenen Barhockers.

Das Gesicht des Galeristen, bei dem er unter fester Beobachtung stand, so wurde ihm später berichtet, sah dabei aus, als ob dieser gleich einen Kreislaufkollaps erleiden würde. Im Nachhinein hätte er ihn gerne gefragt, ob man besser die Plätze tauschen solle; eine solche Bemerkung hätte dessen Hautfarbe sicherlich leicht aufgerougt. Die seine muß zusehends transparenter geworden sein, und immer häufiger vernahm er, wenn auch sich zusehends entfernende Rufe wie «Warum kommt denn da keiner» oder «Mein Gott, brauchen die aber lange» oder «Das sind ja jetzt schon zwanzig Minuten». Wie lange die tatsächlich gebraucht haben, daran kann sich niemand erinnern. An soviel dann aber doch: erst kamen Rettungssanitäter, und der (im Haus anwesende) Arzt brauchte dann nochmal so lange.

Nein, nicht der Wein, der am Stand ausgeschenkt wurde, war schlecht (wurde er nicht ohnehin ausgetauscht auf seine Anmerkung hin, der Chardonnay des vergangenen Jahres sei besser gewesen?). Sicher, von Beginn der Veranstaltung an hatte er ihn ja ständig verkostet oder auch weidlich genossen. Aber er war's nicht, auch nicht das Glas Champagner zwischendrin. Auslöser vielleicht, aber nicht Ursache. Die saß in seiner Schaltzentrale oben, wie sich herausstellen sollte. Möglicherweise ein bereits bei der elterlichen Fertigung ungewollt angelegter Defekt, wie beim sogenannten Montagsauto vielleicht, ein von wochenendübermüdeten Arbeitern nicht korrekt verlegtes oder bereits zuvor schadhaftes winziges Kabel, dessen überdies zu dünne Isolierung infolge eines zu bewegten Lebens blankgescheuert worden war und den unvermeidlichen Kurzschluß verursachte. Der Motor kündigte mit einigen Rucklern die bevorstehende Abschaltung an.

Ein Omen hatte es ja gegeben. Am frühen Morgen hatte der Radioplauderer darauf hingewiesen: Man möge vorsichtig sein mit dem Gasgeben, denn es sei Freitag, der 13. Doch er neigte nicht unbedingt dazu, solchen Lebensweisheiten Beachtung zu schenken.

Er hatte, Platitude hin oder her, Glück im Unglück insofern, als ihm nichts besseres geschehen konnte, als vom irgendwann dann doch hinzugekommenen Arzt (einen Herzinfarkt hätte er nicht überstanden) in eine Art Schlachthaus überführt worden zu sein. Magengeschwür hieß es, eine Magen-Darm-Spiegelung wollte man dann vornehmen, drei Ärzte wedelten dem sich im Dämmerzustand Befindlichen mit einem Papier vor dem Gesicht herum. So etwas wie eine Einverständniserklärung dafür, daß man ihm in all seinen Innereien herumwühlen dürfe, wie der Ausprobierergeist lustig sei, das weiß er heute. Kein Kopfschütteln war es, sondern ein eher kraftloses Hin und Her des Kopfes, das offenbar dennoch als Nein erkennbar war. Daraufhin hatten sie ihn völlig bekleidet, einschließlich der Schuhe, in ein Bett gelegt, neben einen frischoperierten alten Mann, den man unverrichteter Dinge wieder zugeklappt hatte angesichts der Metastasen. Endstation? Für forschende Experimente unbrauchbar? Immerhin schlossen sie ihn an irgendwelche Flaschen mit irgendwelchen Flüssigkeiten an.

Als er nach einer Weile aus dem Dämmern erwacht war, überkam ihn eine schreckliche Furcht vor dem, was da kommen könnte. Sie gab ihm die Kraft, sich aufzubäumen und zu fliehen aus diesem Krankenhaus, ins Hotel. Von dort aus rief er eine fachkundige Freundin an. Ob sie ihm bitte die Kanülen entfernen könne. Sie forderte ihn auf, sich umgehend in ein Taxi zu setzen, hin zu ihr. Dort setzte sie ihn auf ihr Sofa, befreite ihn von den noch an ihm hängenden Kabeln und Ösen und bereitete ihm einen Tee. Als er die Tasse zum trinken ansetzte, rutschte er nach unten weg. Der Rest ist Erzählung der Retterin:

Der Notarzt sei quasi in Sekundenschnelle dagewesen. Die Fachkenntnis der Freundin hatte sie die richtige Telephonnummer wählen und entsprechende Vorabinformationen liefern lassen. Hatten ihn die Krankheitstransporteure am Tag zuvor noch liegend bewegt, wurde er nun, nachdem man ihn einigermaßen zurückgeholt hatte, in einen Rollstuhl gesetzt, da solche Fälle vorsichtshalber grundsätzlich aufrecht transportiert werden sollten. Nicht schneller als zehn, maximal fünfzehn Stundenkilometer fuhr der Krankenchauffeur, bei eingeschaltetem Blaulicht, jedes Schlagloch umkurvend, um, wie er der neben ihm sitzenden Freundin erklärte, «kein eventuelles Blutgerinsel auf den Weg zu bringen».

Dann erinnerte er sich selbst wieder, anfänglich wie aus weiter Entfernung, Jahre danach immer näher: an dieses einige Male auftretende Sirren, das, wie auf der Freundin Sofa, jedesmal erneut das Loch ankündigte, in das er jeweils anschließend gleiten würde; an diese freundlichen Ärzte, an diese liebevollen Krankenschwestern, an die fröhlichen allmorgendlichen Besuche der Freundin, die ihm immer ein kleines Präsent vorbeibrachte, bevor sie in der Neurologischen Klinik nebenan ihren Dienst antrat; an seine flehentlichen Bitten an den leitenden Arzt, in die Heimat zu dürfen, an dessen Hinweis, es sei zu gefährlich, an das anschließende Wohlfühlen, nachdem die Einsicht Einzug gehalten hatte, bedingt auch durch die vielen Besuche; an den Flug nachhause, Wochen später, bei dem die eigens angereiste ehemalige Gefährtin ihn umsorgte wie nie all die gemeinsamen Jahre zuvor, an die fast komisch anmutende Fahrt im Rollstuhl übers Rollfeld zum extra nahe geparkten Turbopropellerflieger, obwohl's problemlos auch zu Fuß gegangen wäre, an die ihn nachgerade umturtelnden behutsamen und sorgsamen Stewardessen, auch wenn sie mehr als vorbereitet, vielleicht besser «geimpft» worden waren über die Ex- und dafür nun Wiedergeliebte mit ihren unverkennbaren Bühnengenen; an das Hotel in den Voralpen, in das er gebracht werden wollte, da er Sanatorien nicht ausstehen konnte, wo ihm dann ein Aufenthalt wie im Sanatorium bei personeller Dauerpräsenz samt einem Winter wie auf der Kitschpostenkarte beschert wurde, der einer Verfilmung eines Mannschen Stoffes gleichkam.

Nie tat ihm irgendetwas weh, keinerlei Schmerzen hatte er während dieser seltsamen Vorgänge in seinem Kopf. Aber ein Loch befand sich darin, das mit Erinnerung aufzufüllen sehr, sehr lange dauern sollte. Die schönste, die allerdings immer vorhanden war, ist dieses Sirren. Es Sirenen zu nennen, wäre profan. Zumal es ihm einmal das unvergeßliche Bild ankündigte, sich von oben zuschauen zu dürfen, wie andere ihn zurückzuholen sich bemühten.

Es gelang zwar, aber alles sollte sich ändern. Er hatte fortan eine andere Perspektive eingenommen beim Betrachten der Welt.
 
Mi, 21.01.2009 |  link | (3435) | 4 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Inneres


nnier   (21.01.09, 09:36)   (link)  
Danke
Dass ich das lesen durfte.


caterine bueer   (21.01.09, 13:29)   (link)  
Merkwürdig
Gehört das zur Erzählung? Ist das Wirklichkeit?
Dann wäre es unterschiedlich zu bewerten. Oder etwa nicht?


jean stubenzweig   (21.01.09, 16:15)   (link)  
«ridens dicere verum»
notierte Horaz (lachend die Wahrheit sagen, oder: ridentem dicere verum?).
Schiller: Die Wahrheit ist nur mit List zu verbreiten.

Verknüpfung von Vergangenheit und Gegenwart, Wahrheit anstrebende Wirklichkeit, wirklichkeitsnahe Wahrheit, alles zusammen ein Restefischeintopf der Phantasie?

In Jostein Gaardners Buch Sofies Welt erfährt die Protagonistin innerhalb ihrer Geschichte von ihrer Existenz als Romanfigur. In Raymond Queneaus Der Flug des Ikarus entflieht derselbe der Manuskriptmappe. Ich fliehe in sie. Könnte ich sagen. Oder auch nicht. Ist das wirklich wichtig? Alles ist irgendwann irgendwo geschehen. Alles ist Ich. Und es ist immer das andere. Ich.

«Ich könnte es mir ja einfach machen, wenn ich andauernd mein Leben erzählen würde und aus meinem Leben Bücher entstehen ließe; bis zu einem gewissen Grad tut das ja jeder Schriftsteller [...]. Aber bei mir ist es so, daß wahrscheinlich mehr als bei anderen der normale Kontakt zum Leben, zur bürgerlichen Existenz, geschwächt ist.» Wolfgang Koeppen

Bei Gelegenheit schreibe ich mal einiges auf zum Thema.


jean stubenzweig   (22.01.09, 01:58)   (link)  
Etwas unbescheiden
habe ich mich gestern bei einigen literarischen Größen eingereiht. Das ist nicht meine Absicht, schon gar nicht, ich könnte hier Wahrheit vermitteln wollen; eine einzige gibt es ohnehin nicht. Mir geht es eher um den Hinweis darauf, daß die Wirklichkeit meist nahe dran ist an ihr. Welche auch immer das sein mag. Was hier notiert ist, gehört alles zu Erlebtem. Es ist allerdings in der Regel mehr oder minder schön geschrieben oder auch schöngeschrieben.















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