Für welchen Erdenkloß?

Um Mißverständnissen vorzubeugen: Das Nachfolgende entstand vor etwa acht Jahren. Und es ist (unverändert) Teil von Zwei Tage, also kein Widerruf einer Abschottung, sondern (eine) Geschichte.

Ich ergreife die Flucht auf die Toilette und nehme die Position eines Denkers ein. Ich bin ihr nicht gewachsen. Und sie hat recht. Ich bin dumm. Und sie ist weise. Weise wie ein wissendes Herz. Ich schwimme. Aber nicht in ihr, sondern in meinem verknöcherten Hirn. Ich rudere in diesem steingewordenen Kahn und komme nicht von Fleck, weil ich auf Grund liege, abgesoffen bin in einem kümmerlichen, flora- und faunafreien Denkkanal, der von A nach B führt. Aber nicht ins offene Meer, wo das Boot aus Stein wenigstens in Flammen aufgehen kann, wie Hannsjörg Voth das 1978 mit seiner Reise ins Meer getan hat. Es ist wie mit den Fremdsprachen: blockadefrei geht es nur, wenn ich besoffen bin. Dann geht es sogar gut. Wahrscheinlich, weil meine Innereien sich frei machen. Da ich aber nicht mehr saufe, bin ich ein eingeklemmtes, stummes Ekelpaket, das sich in Kreisen herumtreibt, die sich den wehenden Schal aufs Banner geschrieben haben.

Ach was, Banner, eher das alte Panier, im Französischen heute nur noch Warenkorb. Kunst und Kultur als Luxussupermarkt. Man nimmt sich heraus, wie's belieben. Und wenn's von unten ist und alles zusammenkracht, dann wird schon jemand kommen und es wieder aufbauen. Und unsereins steht herum und macht seine Witzchen. Inmitten von lauter Experten, die permanent etwas zu sagen haben, auch wenn sie nicht danach gefragt werden. Und die dich ständig heimholen wollen ins Reich, wenn sie erfahren, daß eine Mutter ein jüdisches Ei gelegt hat. Ach, wir sehen das ja nicht so eng religiös, sondern rein kulturell. Deshalb können wir es auch nicht zulassen, daß dieses Drecksstück Der Müll, die Stadt und der Tod von dieser widerlichen Schwuchtel Fassbinder wieder aufgeführt wird. Und diese Trommeln der Nacht rühren dann diese schrecklichen, unsäglich dämlichen Philosemiten, die zwischen Judentum und Israel nicht unterscheiden können. Für die es unbegreiflich ist, wenn man als Jude Israel kritisiert. Wahrscheinlich darf man als Katholik, gleich welcher Nationalität, Innen- wie Außenpolitik des Vatikans auch nicht beurteilen. Weil darüber nur dessen oberster Heerführer befinden darf. Auch wenn er senil ist. Hauptsache Führer.

Meine Güte — wie recht sie hat! Die Kehrseite sind diese ewig spätaufgeklärten Salonrationalisten, denen es nahezu ausnahmslos nicht begreiflich zu machen ist, wie notwendig ein Staat wie Israel ist und daß eine Befürwortung nicht einhergeht mit dem Verlangen, alles Arabische aus der Weltkarte zu radieren, sondern daß dort die absolut gleichen Opale aller Religionen miteinander, gemeinsam funkeln können. Zumindest sollten. Ach Nathan, du Weiser! Wie hat deine Recha gesprochen, das Christenmädchen, das dir der Klosterbruder brachte, der du dich angenommen hast, nachdem die Christen dir Frau und sieben Söhne abgeschlachtet hatten und die Rache sie ereilte, indem sie von den Kämpfern Mohammeds gemetzelt wurden, du, der du dem Muslimen Saladin das Gleichnis von den Opalen für die drei Söhne so nahegebracht hast, daß dieser ausruft: «Bei dem Lebendigen! Der Mann hat recht. Ich muß verstummen!» Und die ach so unvernünftige Recha hat's dann ihrer Erzieherin hingebürstet:
«Daja!
Was sprichst du da nun wieder
Du hast doch wahrlich deine sonderbaren
Begriffe! ‹Sein, sein Gott! für den er kämpft!›
Wem eignet Gott? was ist das für ein Gott,
Der einem Menschen eignet? der für sich
Muß kämpfen lassen? — Und wie weiß
Man denn, für welchen Erdkloß man geboren,
Wenn man's für den nicht ist, auf welchem man
Geboren?»1
Meine Güte! Das war das zwölfte Jahrhundert! Das Lessing im achtzehnten beschrieben hat. Und heute könnte man meinen, er hätte es gestern veröffentlicht. Fundamentalisten gegen Fundamentalisten. Woher wissen die eigentlich so genau, für welchen Himmel man geboren?

Und selbst wenn man außerreligiös argumentiert, dann verlieren sie die Fassung, unsere ach so gebildeten Nicht-Fundamentalisten. Auch dann, wenn man auf eine objektive Wurzel des Gemeinsinns verweist, wie sie Theodor Herzl in seinem Judenstaat entworfen hatte: nationale, moderne Werte, realpolitisch und säkularisiert. Das waren mal sozialistische Gedanken! Zumindest soziale. Im Kibbuz hat noch ein wenig vom Sozialgedanken überlebt. Und gerade heute, da immer mehr dem Juden wieder einen gasgefüllten Nomadenballon wünschen, mit dem er endlich ins Nirgendwo entschwebt. Wahrscheinlich immer gewünscht haben. Und diese Sehnsüchte lediglich wieder hochkommen aus der Verdrängung. Wenn sie sie denn überhaupt verdrängt und nicht unterschwellig laut hinausgeflüstert haben. Mittlerweile auch in dem Land, in dem ein Begriff wie Gas eigentlich aus der Sprache getilgt gehört, aber in dem dennoch ständig neu gezündelt wird. Es gibt genügend, die meinen, die Juden seien hier zu Gast wie die Türken und hätten sich entsprechend wohlgefällig zu benehmen. Also den Mund zu halten, wenn man sich zu Wort meldet. Davon mal abgesehen, daß es zwar eine türkische Nationalität gibt, aber keine jüdische. Es gibt genügend Ärmelschoner, die statt Israel jüdisch hineinschmieren in die entsprechende behördliche Kladdenspalte. Dazu bedarf es keiner andersgearteten höheren Unterweisung. Und diese in ihrem Populismus nur scheinbar ungeschlachten Bildungsbürger, die sich als die Freiheitlichen oder gar Freie Demokraten titulieren, die nichts davon wissen wollen, daß man innerhalb anderer, sogenannt unzivilisierter Völker beispielsweise der islamischen, das Recht des Gastes über das eigene erhebt. Diese willentlich und wissentlich Nichtwissenden, die unter ihrem freiheitlich-demokratischen Grundordnungskardinalsmäntelchen verborgen halten, daß im ersten Weltkrieg unzählige Juden von der geliebten deutschen Fahne begraben wurden, die sie idiotisch-stolzgeschwellt an die Front getragen hatten. Und die es eben nicht hinaustragen unter das Volk, dessen Stimmen sie sich erhoffen bei irgendwelchen Wahlen, die sie zur Macht, zumindest zu achtzehn Prozent führen sollen, daß die jüdische Frage eben nicht mit dem Parlamentarismus, ihrer Verankerung in der Demokratie, mit der Emanzipation oder gar der Assimilation bis zur Selbstaufgabe — welch grandioser Euphemismus angesichts von sechs Millionen Ermordeten! — gelöst wurde. Diejenigen, die insgeheim sogar den mittelalterlichen Antisemitismus wieder herbeipolitisieren möchten. Und sich dabei gestärkt fühlen, weil aus Nachbarländern ein Wind weht, der ihnen die nationalistisch eingefärbte Fahne hochbläst. Diese Feuersbrunst, genährt von einem Kleingeist, wie er nur entstehen kann, wenn die materiell und damit auch ideell Armen ins Abseits gestellt werden. Auch damals hat die Not — scheinbar? — soziale Wesen zu einem Mob formiert, der Bindung über einen eingepeitschten, aber selbst damals völlig haltlosen Nationalbegriff verstanden hatte. Wenn er überhaupt was verstanden hatte. Diejenigen, die das alles wissen, aber dennoch entrüstet tun, wenn sie, mit dieser antisemitischen — oder, anderswo, auch antiarabischen — Volksseuche im Rücken, einen in die Enge gedrängt haben, man also auf diese historischen Barrikaden zu gehen gezwungen wird. Bei aller Befürwortung eines hoffentlich endlich bald eintretenden Friedens zwischen allen! Völkern — der vorliegende Beweis der Notwendigkeit eines Staates Israel ist ja nun wahrlich erbracht. Auf einmal sind sie in ihrem lange unter der Weste getragenen Antisemitismus für die Palästinenser. Keiner sagt dem potentiellen Stimmvolk, daß das Osmanische Reich unter den europäischen Führungsmächten, auch den Russen, aufgeteilt werden sollte. Syrien und Libanon französisch, das Gebiet zwischen Bagdad und dem Persischen Golf britisch. Doch dazu dürfte es jetzt zu spät sein. Die jüngsten Ereignisse haben es gezeigt. Muß man sich jetzt also mit den Arabern verbünden, weil die sich nicht mehr in die Wüste schicken lassen? Oder sollen alle Juden ihre Gast-Arbeiter-Länder verlassen und heimkehren nach Israel? Auch wenn dort kein Pfeffer wächst. Weil dann die Araber endlich den Rest erledigen? Auch diese Fundamentalisten sind schließlich für die Reinhaltung der Rasse. In Algerien säubert die FIS ja längst aus. Alles Nichtislamische wird mitausgemerzt. Rausgebombt. Dann kann sie das ja gleich miterledigen.

Ich bin dem nicht gewachsen.


Zwei Tage • Eine sentimentale Reise • Erzählungen
 
Mo, 26.01.2009 |  link | (3171) | 5 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Zwei Tage


hanno erdwein   (26.01.09, 11:26)   (link)  
Man sollte ...
Nathan der Weise und die ringparabel global zur Pflichtlektüre machen. Für mich ist das immer noch der Gipfel des Humanismus. Es gibt nichts Wahreres! Hanno


jean stubenzweig   (27.01.09, 06:19)   (link)  
Humanismus,
ja, das ist es wohl, lieber Hanno Erdwein. Ich lese das seit vielen Jahren immer wieder. Und dabei darf mir das Seelchen manchmal durchaus idealistisch etwas aufflattern. Vor allem, wenn in meinem Kopf dabei die lieben Götter in den Hintergrund treten und die reine Idee sich über sie legt.


gorillaschnitzel   (27.01.09, 02:28)   (link)  
Toller Text. Wirklich.


jean stubenzweig   (27.01.09, 04:00)   (link)  
Es tut wohl,
daß er Ihnen zusagt. Mir tat's wohl, ihn auszugraben, ihn hier hineinzuheben. Nicht der Aktualität, sondern der Erinnerung wegen. Damals waren die Auslöser unter anderem der freidemokratische Hoch- und Allesüberflieger und anschließend Abgestürzte sowie die geradezu parallelen, nicht minder ekelerregenden Ereignisse in den Niederlanden.


hap   (27.01.09, 22:09)   (link)  
(National-)Staaten
"der vorliegende Beweis der Notwendigkeit eines Staates Israel ist ja nun wahrlich erbracht."
Dem stimme ich zu, wenn mir jemand den Beweis für die Notwendigkeit irgendeines Staates "erbringt". Aber nur dann.
Um dem allgegenwärtigen Vorwurf antisemitischer Einstellung vorzubeugen: Es gibt auch unter Juden die Überzeugung, dass ihr Reich nicht von dieser Welt ist.
Die Frage für die weltlich-materialistischen Juden war also: Wohin, wenn die allüberall in Europa vom Nationalstaat Überzeugten einen jüdischen Nationalstaat nicht auf ihrem Territorium dulden wollen? Das Problem entstand, als die Juden von zionistischer Überzeugung den Palästinensern ihr Land wegnahmen.
Ist es so einfach?
Genau so einfach ist es, und, ach, genau so kompliziert sind die Folgen im Jahr 2009.
Und was den Staat betrifft, fällt mir John Cage ein, der wunderbare Kompon- und Anarchist: "Alle wollen sie einen eigenen Staat - dabei könnten sie alle eine eigene Welt haben."
Ich hab den Eindruck, wir lassen uns die Diskussion von den Idioten vorschreiben, die immer noch im 19. Jahrhundert verharren und den Nationalstaat als Ausweg sehen.
Heh, das war vor YouTube!















Werbeeinblendung

Jean Stubenzweig motzt hier seit 5807 Tagen, seit dem Wonne-Mai 2008. Letzte Aktualisierung: 22.04.2022, 10:42



... Aktuelle Seite
... Beste Liste (Inhaltsverzeichnis)
... Themen
... Impressum
... täglich
... Das Wetter

... Blogger.de
... Spenden



Zum Kommentieren bitte anmelden

Suche:

 


Letzte Kommentare:

/
Migräne
(julians)
/
Oder etwa nicht?
(jagothello)
/
Und last but not least ......
(einemaria)
/
und eigentlich,
(einemaria)
/
Der gute Hades
(einemaria)
/
Aus der Alten Welt
(jean stubenzweig)
/
Bordeaux
(jean stubenzweig)
/
Nicht mal die Hölle ist...
(einemaria)
/
Ach,
(if bergher)
/
Ahoi!
(jean stubenzweig)
/
Yihaa, Ahoi, Sehr Erfreut.
(einemaria)
/
Sechs mal sechs
(jean stubenzweig)
/
Küstennebel
(if bergher)
/
Stümperhafter Kolonialismus
(if bergher)
/
Mir fehlen die Worte
(jean stubenzweig)
/
Wer wird schon wissen,
(jean stubenzweig)
/
Die Reste von Griechenland
(if bergher)
/
Richtig, keine Vorhänge,
(jean stubenzweig)
/
Die kleine Schwester
(prieditis)
/
Inselsommer
(jean stubenzweig)
/
An einem derart vom Nichts
(jean stubenzweig)
/
Schosseh und Portmoneh
(if bergher)
/
Mit Joseph Roth
(jean stubenzweig)
/
Vielleicht
(jagothello)
/
Bildchen
(jean stubenzweig)






«Ist Kultur gescheitert?» ? «Bitte gehen Sie weiter.»



Suche:

 




Anderenorts

Andere Worte

Anderswo

Beobachtung

Cinèmatographisches + und TV

Fundsachen und Liebhaberstücke

Kunst kommt von Kunst

La Musica

Regales Leben

Das Ende

© (wenn nichts anders gekennzeichnet): Jean Stubenzweig





pixel pixel
Zum Kommentieren bitte anmelden

Layout dieses Weblogs basierend auf Großbloggbaumeister 2.2

pixel pixel