Per Anhalter ins Paradies

Wassily Kandinsky und seine Gabriele Münter, das hatte ich hier schonmal angerissen, die sich im Murnauer Moos vereinigten und den Blauen Reiter zeugten, hatten mich seit Anfang der siebziger Jahre magisch angezogen. Als ich dann schließlich eingezogen war in die liebliche Marktgemeinde mit ihrer Mariensäule als ethischem Zentrum, entdeckte ich dort neben Ödön von Horvath auch noch dessen Kollegen Johann Wolfgang von Goethe, genauer: dessen leichten Hang zu jugendlichem Liebreiz. Der war untergebracht in einem nach ihm benannten Institut. Es war so eine Art Heimstatt internationaler Landverschickung von etwas betuchteren Eltern, die der felsenfesten Überzeugung waren, ihre Töchter seien beim Gott der deutschen Sprache nicht nur bestens aufgehoben, sondern könnten überdies dieselbe gleich auch noch lernen. Sogar Japanerinnen befanden sich unter ihnen, obwohl die doch eigentlich immer Klavier und Gesang erlernen mußten, um einen gewissen gesellschaftlichen Status zu erlangen, und eigentlich höchst selten ohne Aufpasser in die weite Welt hinausdurften. Die Mehrheit der Elevinnen rekrutierte sich jedoch aus südamerikanischen Ländern. Vermutlich sollten sie die Muttersprache ihrer Väter verinnerlichen, da diese drauf und dran waren, sie zu verlernen. Das eine ums andere Mal dürfte dabei eine bewußt herbeigeführte Amnesie eine Rolle gespielt haben, um keinen allzu klaren Hinweis auf die doch etwas fragwürdige Vergangenheit innerhalb des großdeutschen Reiches zuzulassen. Diese zauberhafte Mischung aus indigenen Völkern, soweit überhaupt noch vorhanden, und europäischen Zuwanderern ergab so manchen Abend salsaähnliche Zustände in der einzigen für Jüngere gangbaren Kneipe dieses Städtchens, das zu dieser Zeit geistig-moralisch im wesentlichen an der Italienischen Nacht des bereits erwähnten österreichisch-ungarischen Dramatikers orientiert war. Recht unterhaltsam war's, manchmal sogar feurig. Aber in mich, der ich diesen wunderschönen und lebhaften Bastardinnen von Montevideo über Asunción nach São Paulo oder Rio bis nach La Paz und wieder runter nach Santiago hingebungsvoll verfallen war, ja, in mich verguckte sich ausgerechnet die vermutlich langweiligste der wenigen Europäerinnen. Es wäre nicht allzuweit hergeholt zu behaupten, deren Drögheit wäre sogar in ihrer Heimat Belgien aufgefallen.

Derart okkupiert und selber nicht eben allzu auflehnungsbereit ergab ich mich in mein Schicksal. Also nix Salsa, sondern Fortsetzung des Unterrichts auch in den Abendstunden. Selbstverständlich bei Kerzenschein, wie das üblich war zur Zeit der auch in Oberbayern einsetzenden Aufklärung. Diesem schummrigen immerwährenden Zusammensein zu verdanken war die Deklaration als Paar. Unumstößlich. Keine Chance mehr bei dieser hellblond und dunkelbraun gelockten Fee. Damals wußte ich noch nicht, daß das, was ich mir da so vorstellte, ohnehin so nicht funktioniert hätte. Als ich später ins Land kam, lernte ich, daß entgegen der mitteleuropäisch landläufigen Meinung eine Brasilianerin grundsätzlich so gut katholisch ist, daß man die Wahl hat zwischen Ehe oder Abschiednahme. So nahm ich denn die Einladung an, nach Ende des Sprachkurses einen Besuch zu machen in der kleinen Stadt. Ein wenig verblüfft war ich schon ob der Eröffnung, sie habe ihren Eltern bereits telegraphiert, und deren Antwort sei positiv, man würde sich freuen, mich begrüßen zu dürfen, und auch, wenn man eher selten Besuch empfange im heimischen Kasteel, so sei ich doch ein gern gesehener Gast. Die in mir aufziehenden leicht unheilvollen Ahnungen gaben mir die Kraft, irgendwie herumstotternd darauf hinzuweisen, ich hätte zunächst noch zu tun und käme dann nach. Auch das akzeptierte die junge Frau, quittierte es mit einer Gesichtsregung, die durchaus als Versuch eines Lächelns gedeutet werden konnte.

Etwa zwei Wochen nach ihrer Heimreise läutete sie bei mir an und fragte nach meiner Ankunft. Nach weiteren Anrufen erinnerte ich mich meiner guten Erziehung, aus der hervorgegangen war, einmal gegebene Versprechen auch einzuhalten. So kündigte ich denn mein Kommen für die darauffolgende Woche an. Wie ich denn zu reisen gedenke, fragte sie, so etwas wie Freude schwirrte durch die Leitung, sie wolle mich mitsamt ihrer Familie abholen am Bahnhof. Das könne ich noch nicht sagen, entgegnete ich, denn ein Experiment stünde an. Da ich noch nie per Anhalter durchs Land gefahren sei, wolle ich das mal ausprobieren. Nun war so etwas wie ungläubiges Staunen zu vernehmen. Ob ich sicher sei, ihr Vater würde sicherlich gerne ... — neinnein! gebot ich Einhalt ich, einmal im Leben wolle ich mal richtig trampen, andere hätten auf diese Weise längst Kontinente durchstreift, nur mir gehe diese Erfahrung ab.

Tatsache war: Goethe zahlte schlecht, Aushilfshelfslehrern allemale, da wollte schon unterschieden werden. Eine Zugfahrt vom oberbayerischen Alpensüdkreuz bis hinauf in die Sumpfgebiete kurz vor dem Ärmelkanal konnte ich mir nicht leisten. So guckte ich mir eine Route aus. Über den Arlberg, wohin sicher noch einige Restschneenutzer brettern würden, via Sankt Gallen, Zürich und Basel durch die Schweiz sollte sie verlaufen, dann irgendwie eine Frankreich-Durchquerung, um bei Namur die Grenze zu überfahren und dann bei Gent links abzubiegen, um in diesem Kasteel inmitten des sumpfgrasigen Blumentals anzukommen. Mit geliehenem Rucksack für zwei Tage Wäsche und einem Pullöverchen machte ich mich auf den Weg. Es wurde ein beschwerlicher, der mir ein für allemal die Anhalterei austreiben sollte, die, um einiges später, allenfalls noch in der Literatur und später auch via BBC wieder vorkommen sollte, dann zwar gleich durch die Galaxis, aber eben vom gemütlichen Sessel aus. Was ich mir da angetan hatte, dagegen war selbst der Weg durch einen Teil des Massif Central zum Heiligen Jakob vermutlich ein Spaziergang.

Aber davon erzähle ich ein andermal. Wenn ich die Erinnerungsfetzen beisammen habe.

Die Murnauer Mariensäule wurde von frollein2007 photographiert.

Per Anhalter ins Paradies, Fliegend über die Berge, Anhalters Bahnhof, Grabungsvolle Hymnen, Anhalters goldener Käfig, Anbahnungen, Unter Eulen, Die Behütete, Blumenkohl und Pannekoeken, Adeliges Tennis, Nationalgericht, Das Süße und seine Fährnisse, Fluchtgedanken, Gnadenmahl oder Reiche Stunden.

 
Mo, 09.02.2009 |  link | (4828) | 12 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Belgischer Adel


hanno erdwein   (09.02.09, 07:38)   (link)  
Herzlichen Dank für die Teilhabe
an Ihrer visuellen Welt. Den "blauen Reiter" kenne ich leider nur aus der Literatur. Dennoch klingt manches dabei in mir an. Schön, ein wenig zu den Hintergründen zu erfahren. Sie bekommen auch bald Post von mir. Der Infekt klingt ab. hanno


jean stubenzweig   (09.02.09, 15:50)   (link)  
Bringen Ihnen Bildbeschreibungen was,
oder sind Sie damit eingedeckt?


nnier   (09.02.09, 16:04)   (link)  
Kandinsdings
verwechsele ich auch im Jahr 2009 mit Herrn Jawlensky, den ich seit dieser Briefmarke aus den 70ern ganz großartig finde. Eigentlich eine Schande, dass ich noch keinen Jawlensky-Bildband habe. Und ein Glück, dass es neben der Namensähnlichkeit auch noch eine andere, inhaltliche Verbindung zu Herrn Kandinsky gibt. Sonst geht es mir ja schnell wie damals in diesem einen Seminar, als der Dozent berichtete, stellen Sie sich vor, die Studenten haben einen Nolde nicht erkannt, und die Komilitonen sogen scharf Luft ein, wie bitte, hier, an dieser Universität?, während ich überlegte: Nolde, Nolde ... Erich, oder?


hanno erdwein   (09.02.09, 18:01)   (link)  
Bildbeschreibungen ...
bringen immer dann etwas, wenn sie einfühlsam sind und die Waage zwischen dem Notwendigen und der Ästhetik halten. Das gilt sowohl für die sogenannte Audiodeskription bei Filmen als auch für Bildkunst. Danke für die Frage. hanno


jean stubenzweig   (10.02.09, 00:42)   (link)  
Bitte auf die Bremse
treten! Hier wird's grenzwertig! Hanno Erdwein ist blind.


jean stubenzweig   (10.02.09, 12:15)   (link)  
Besitzer des goldfarbenen Wolfes
lesen doch alles immer so genau und blicken deshalb immer so durch. Mit ein klein wenig Phantasie könnte so ein Allerübergucker die zwei Einträge da oben doch entsprechend verstehen (wollen). Sonst hätte ich nicht «grenzwertig» geschrieben.

Aber nun ist gut. Abgehakt.


jean stubenzweig   (10.02.09, 00:18)   (link)  
An dieser Universität?
Wie? Bester Nnier. Bremen? Das wäre einleuchtend. Dort wird man nur die Worpsweder kennen. Seebüll wird zu weit weg sein. Verstehe ich. Ich weiß ja auch nicht so genau, wann und wo dieser Rennwagen namens Machiavelli gebaut wurde. Irgendwo im Süden, nehme ich an.

Aber machen Sie sich keine Gedanken. Auch für manch einen neueren «Kulturwissenschaftler» liegt die Geschichte dieser Maler zeitlich schon arg weit hinten. Sie kennen immerhin Jawlensky. An einer Kunstakademie wären Sie mit einem solchen Wissen schon wieder ein Semester weiter.


nnier   (11.02.09, 09:46)   (link)  
Ach, so regional gestrickt
war die Welt damals schon gar nicht mehr. Es gab Eisenbahnen und die ersten Automobile. Weder Lehrkräfte noch Studenten kamen also zwangsläufig aus dem unmittelbarem Einzugsgebiet der linken Kaderschmiede.


g.   (10.02.09, 07:03)   (link)  
Von ihren Abenteuern
in Sachen Haut im belgischen Sumpf würde ich gerne mehr hören. Wie sind sie dem Heiratmarkt entkommen?


jean stubenzweig   (10.02.09, 11:15)   (link)  
Heiratsmarkt?
Diesem entkommen? Was sind Sie? Hellseher? Belgischer Großmeister unter Esoterikern, der sich hinter kleinem g versteckt? Sind Sie gar – ich wage gar nicht daran zu denken – am Ende ... Und das wollen Sie jetzt auch noch wissen. Aber selbst wenn ich's runterstufe: Zumindest lesen Sie schon sehr genau (zwischen den Zeilen), daß Sie zu dieser Auslegung kommen. Oder sollte das so eindeutig sein und ich mich der Illusion hingeben, ich könne geheimnisvoll schreiben?

Tatsächlich nahm diese Etappe meines Lebens diese Richtung. Die altersbedingt verstärkt einsetzende Langzeiterinnerung spuckte es dieser Tage aus und teilte mir mit, es wolle ans Licht der Öffentlichkeit. Ich füge mich dieser Entscheidung, hab's aber noch nicht aufgeschrieben. Vielleicht komme ich morgen dazu.

Aber vorher ist da noch die Reise an sich, die festgehalten sein will. Man muß als Chronist doch in der Zeit bleiben. Sonst verwirrt das den Leser und er kommt am Ende noch auf seltsame Gedanken.


g.   (11.02.09, 05:51)   (link)  
„Ein wenig verblüfft war ich schon ob der Eröffnung, sie habe ihren Eltern bereits telegraphiert, und deren Antwort sei positiv, man würde sich freuen, mich begrüßen zu dürfen, und auch, wenn man eher selten Besuch empfange im heimischen Kasteel, so sei ich doch ein gern gesehener Gast. Die in mir aufziehenden leicht unheilvollen Ahnungen …“
darüber kam ich drauf. Ich bin einfach ihren Ahnungen gefolgt.


g.   (11.02.09, 07:48)   (link)  
Ach, und das kleine g. ist der Anfangsbuchstabe meines Vornamens, von blogger.de diminuiert. Mehr Geheimnis steckt nicht dahinter.















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