Boubou

Brief aus Martinique

Ich muß Dir erzählen, mein Lieber. Sprechen kann ich das nicht, ich muß es schreiben. Von Deiner, von unserer Freundin. Ich muß es Dir erzählen, weil Du es bestimmt längst vergessen hast, weil wir so lange nicht dort waren, ich soweit weg von zuhause, anderen zu Diensten, heimatlos — in der Heimat von Boubou.

Zunächst waret ihr gar keine Freunde. Weil sie immer so laut gesungen hat, aus ihrem «Schreikochloch» heraus, wie Du es einmal unübersetzbar genannt hattest, das kleine Bistrot, nein, die winzige, toilettenkleine Küche, aus der heraus sie fast die gesamte place de Lenche heraus bekocht hat, zumindest alle, die cuisine créole wünschten, «nie besonders», wie Du es damals nanntest, «aber immer gut und preiswert», nicht täglich, aber immer, wenn sie gut gelaunt war und den Chef nicht vermißte, wie sie es nannte, weil er nicht so gerne arbeitete, was dann zu hören war. Sehr böse warest Du auf sie, vor allem deshalb, weil sie sehr gerne Ferré gesungen hat. Verbieten wolltest Du ihr das. Angefüllt mit Wut bist Du einmal zu ihr an ihr Fenster gegangen und hast dort hineingebrüllt, sie solle ihren defekten Lautsprecher abstellen. In den diplomatischen Dienst mußte ich eintreten damals, als sie wieder einmal Deinen Gott laut übersungen hatte.

Da mußte ich ihr Deine Erinnerungen und Deine Philosophie zur Musik von Léo Ferré übermitteln. Daß Du in das Hôtel kamest in La Rochelle, als Du den Fernseher eingeschaltet hattest — wie Du es immer machst, wenn Du hineinkommst in ein Zimmer —, an der Fête Nationale 1993, und Du entsetzt warst von seinem Tod und Du dann eine ganze Nacht nur alte Sendungen gesehen hast mit Léo Ferré, und daß alle Zeitungskioske überall in Marseille und Paris gefüllt waren von oben bis unten und um alles herum mit Titelseiten von seinem Tod. Wahrscheinlich wirst Du auch dieses Jahr wie immer alles Feuerwerk ignorieren, eine ganze Nacht vor dem Fernsehgerät sitzen, weil es nur ein Feuerwerk gibt für Dich, das da still heißt: avec le temps.

Von dieser Zeit an hat sie immer erst aus dem Fenster hinausgesehen, ob Du irgendwo sitzt. Bevor sie ihn gespielt und dann mitgesungen hat. Wenn Du anwesend warst, hat sie sich den Mund vernäht mit Nadeln des Voodoo. Das hat sie mir einmal gesagt. Sie wollte nicht Ärger haben mit Dir. Und mit Ferré. Denn sie würde beide lieben, oui, das hat sie mir gesagt. Und die Götter solle man nicht erzürnen, meinte sie. Ein wenig haben ihre Mundwinkel und ihre Augen dabei gezuckt.

Da seid ihr Freunde geworden. Gefreut hast Du Dich, sie zu sehen, wohl, weil nicht zu hören. Applaudiert hast Du Madame Boubou, wenn sie über die place de Lenche hineintanzte zu ihrer kleinen Küche, farbenfroh gekleidet, als ob sie nicht zur Arbeit, sondern zu einer afrikanischen Hochzeit, einer ihres Landes, wie sie gerne betonte, ging, ihren Posterieur rhythmisch schwenkend, von dem Du einmal sagtest, sie habe ein Hinterteil, das nach hinten hinaus dauerhaft mit Drillingen schwanger ginge.

Sie fragt oft nach Dir! Vielleicht nicht nach Gott. Ich passe mich Dir an: Ich übertreibe ein wenig. Viel. Jedoch sie liebt Dich. Anders als ich. Deinetwegen hat sie sogar begonnen, ein wenig deutsche Sprache zu lernen, weil in so kleinen Wörtern so große Worte steckten. Tatsächlich war Ferré der Auslöser. Einen langen Vortrag hast Du, nicht selten bei Dir, wenn man Dich einfache Dinge fragt, gehalten über seine Interpretation der Coriolan-Ouverture, weil sie Dich gefragt hatte nach der Bedeutung der deutschen Worte, die Ferré am Dirigentenpult zum Schluß fast lauter noch sänge, als sie das könne. Mit Milan Kundera* hast Du es ihr erklärt.

Beethoven war Gläubiger eines Mannes. Dieser schuldete ihm, ich weiß jetzt nicht, wieviel, jedoch einige Gulden. Beethoven forderte sein Geld zurück. Der Mann stöhnte: Muß es sein? Beethoven antwortete: Es muß sein! Daraus komponierte er ein kleines Stück, das später zur Grundlage seines letzten Quartetts wurde. Und Kundera kommentiert es dahin, daß er schreibt, diese Worte hätten immer mehr einen solchen feierlichen Ton angenommen, als hätte das Schicksal persönlich sie ausgesprochen. Von Kundera kamest Du dann auf Kant, das erzählte Boubou mir noch vor ein paar Wochen, sie habe das extra nachgelesen und leicht entrüstet festgestellt, daß es bei Kundera stehe und der es von Kant habe. Ich habe dann moderiert und ihr erklärt, wir hätten letzten Endes doch alles irgendwie von anderen, da käme man schließlich manchmal ein wenig durcheinander. Um die Sprache der Metaphysik ging es in diesem Zusammenhang.

In Kants Sprache könne sogar ein einfaches Guten Tag zu einer metaphysischen These werden. Er schreibe, die deutsche Sprache sei die der schweren Wörter. Und Du seiest darauf gekommen, weil Ferré auch darüber lacht und sich lustig macht. Kundera gehe einen Schritt weiter in seiner Auslegung. Er beziehe sich auf Permenides, der für einen Übergang vom Negativen ins Positive garantiert hätte, der Schweres in ein Leichtes umgewandelt hätte. Und Kundera schließe mit der Erkenntnis, daß nach Permenides am Anfang eine große metaphysische Weisheit gestanden hätte, aber am Ende eines vollendeten Werkes ein federleichter Scherz.

Ah ! Lieber. Wir haben ein paar Male darüber gesprochen, über diese Ironie darin. Du hast es vergessen. Gut erinnere ich mich, daß es einmal mit Boubou war, die damals diesen Donner hat gegeben. Mit ihrer Stimme. Du wütend geworden warest. Du warst ganz Beethoven. Aber danach hatte Boubou dann ihre Lippen zusammengehalten und Dir Marseille von Ferré aufgelegt. Für Deine Mélancolie, für Deine Ruhe, hat sie gesagt. Du hast dann selbst gelacht. Bei Boubou eben. Oft sie hat ihn gespielt. Und wieder mitgesungen. Laut. Sie hat bei la violence et l'ennui das Maschinengewehr nachgemacht und schrecklich laut les anarchistes gerufen. Da hatte sie ihr Versprechen wieder vergessen. Lange Gespräche wieder. Zu Bergson sind wir gekommen: Wenn die Töne der Musik stärker auf uns wirken als die Natur, dann kommt es daher, daß die Natur es dabei bewenden läßt, Gefühl auszudrücken, doch die Musik sie uns suggeriert ...**

Boubou ist damals wieder nachhause zurückgekehrt, nachdem das Bistrot geschlossen worden war. Sie habe Marseille geliebt, erzählte sie mir kürzlich noch. Aber ohne Arbeit gehe es ihr in ihrer Heimat dann doch besser, selbst bei so extrem schwierigen wirtschaftlichen Verhältnissen, wie sie seit einiger Zeit hier herrschten. Und ich sei ihr schließlich auch gefolgt. Daß ich nach Martinique gegangen war, weil ich zuhause keine Arbeit mehr hatte, in Martinique aber wohl, das wollte ich hier dann nicht sagen. Denn sie war meine einzige Freundin aus der Heimat.

Ja: war. Deshalb schreibe ich das. Gestern haben wir sie in ihrem Dorf bei La Trinité begraben. Bis heute weiß ich nicht, wie alt sie war. Aber jung war sie immer.

Voie française


Zwei Tage • Eine sentimentale Reise • Erzählungen

 
Di, 31.03.2009 |  link | (3437) | 7 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Zwei Tage


jean stubenzweig   (31.03.09, 04:17)   (link)  
Literatur bei Boubou
* Milan Kundera: Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins, aus dem Tschechischen übersetzt von Susanna Roth, München 1984; französisch: L’insoutenable légerté de l’être, Paris 1984 (vom Autor überarbeitete Fassung, mit einem Nachwort von François Ricard, Gallimard 1989) aus dem Tschechischen übersetzt von François Kérel; Originaltitel: Nesnesitelná lehkost Bytí

** Henri Bergson: Zeit und Freiheit; Essais sur les données immédiates de la consience, Presses Universitaires de France, Paris 1920 (1888)



frau stella   (31.03.09, 09:37)   (link)  
Sehr, sehr schön erzählt. Danke.


aubertin   (31.03.09, 12:49)   (link)  
Musique de Léo Ferré
sehr ausführlich mit laufende Bildern, zum Teil belegt mit Texte: les anarchistes, live 1969, histoire für einen ganzen Tag, avec: La chanson du mal aimé!. Darunter eine nicht uninteressante italienische Interpretation der Partie Muß es sein, es muß sein.

Eine Nacht mit ihm, darin ein Interview, aus France Culture: Léo Ferré 1 – 5. Ein volles Programm, ihn zu hören, zu sehen (oder zu entdecken).

Alles nicht aus der US-Tube. Es klingt zwar alles ein wenig nach Italien, es kommt jedoch aus Frankreich (nein, aus Paris; Benjamin Bejbaum für Jean Stubenzweig).

Le passé, c'est le passé – avec le temps, mon petit trésor et adieu.

Bises

Anne (et Yves)


jean stubenzweig   (31.03.09, 13:08)   (link)  
Lebensgeschichten
eben. Alle Literatur ist (auto-)biographisch.

Großen Dank den Damen!


frau klugscheisser   (02.04.09, 01:02)   (link)  
Wenn ich sterbe, schreiben Sie mir dann auch so einen schönen Nachruf?


jean stubenzweig   (02.04.09, 01:30)   (link)  
Alles Übung
In meinem früheren Leben habe ich, wenn die Kultur redaktionell ins Sommerloch gefallen war, Nachrufe auf Vorrat geschrieben, die dann in die Zwischenablage kamen. Der Chef meinte, ich würde immer so traurig aus der Wäsche gucken, ich könne das bestimmt sehr gut. Dabei kam's allerdings vor, daß manch einer der zum Tode Verurteilten noch Jahrzehnte weitermachte. Dann mußte allerdings jemand anderer ran. Denn ich hatte den Beruf gewechselt. Heute mache ich sowas nur noch privat.

Sie können also sicher sein, daß ich es tue. Gerne. Sie müssen mir nur rechtzeitig bescheid geben.


doloris   (04.03.10, 23:52)   (link)  
Hach.
Und ach. Was für ein schöner Text, danke für den Weg hierher.
Und wie passend das alles an einem Abend, wo auch ich meiner Toten gedenke und der Dinge, die die Zeit nahm. Jetzt fehlen mir die Worte, also schlicht: Danke.















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