Mannequin Vernunft

Brief aus den Kolonien

Mon bien-aimé,
ich komme aus der Natur, einem Wasser mit vierundzwanzig Grad Wärme, und lese Dich, fragend ausrufend: «Wer?! Wo?! Natur?!» Ich hatte Dir doch geschrieben: «Auch wenn unsere Felder auseinanderliegen — wir sind sie, Deine Natur ...»

Wie oft haben wir darüber gesprochen! — Dieser Glaube an diese sogenannte reine Vernunft! Ich bin weg mit meinem Geist von Descartes, diesem Herrn über Natur, bin vielleicht mehr hinbewegt zu Pascal. Ja, auch eine Musulmane darf zu ihm hin, wenn ihr wie uns der Schleier der Unfreiheit abgenommen wurde. Ich bin mehr bei ihm, bei dieser Art von einem «Naturwissenschafter»: Geist und Herz sind Türen, durch die empfangen werden die Wahrheiten der Seele. Oder, eine sehr viel spätere Zeit, jedoch gültig, für mich: Henri Bergson. Muß ich es nun sein, die Dir erläutert, daß diese Vernunft ohne Gefühl einen Menschen krank macht. Ich meine nicht ein Gefühl, das für bestimmte Denker nichts ist als eine chemische Verbindung, die das Denken zusammenfaßt. Das ist etwas für Gehirnwissenschafter. Oder für Biologen eben. Dieses Gefühl, von dem ich spreche, ist eines des laisser-faire. Es ist nicht herausgelöst aus einem Körper. Es ist in uns. Bergson weist es nach. Lasse diese reden, die sagen, es gibt es nicht. Du sollst das leben, was Du empfindest. Auch wenn über Deinem Kopf jemand ruft, es sei nicht vernünftig. Pascal hat geschrieben: «Descartes überflüssig und unschlüssig». Bergson meinte: «... ein böser Geist von noch größerer Macht als der böse Geist Descartes'». Ouf! Genau — diese Abstraction. Diese Sculptur von reiner Vernunft! Sie ist eine Schönheit wie eine Ankleidepuppe auf dem Laufsteg — sie hat kein Blut. Wir, Du und ich, wir lieben die Mélange, das Durcheinander. Es ist egal, ob ein Mensch ein ganzes Leben lang immer nur herumgeht in einem einzigen Quartier wie Kant in seinem trou perdu Königsberg ...

Sehr böse bist Du geworden in Deinem letzten Brief, ich hätte Kant als Schreibtischtäter bezeichnet. Er habe doch «ein bißchen was zuwegegedacht». Er hat gedacht. Es ist richtig. Ich will das nicht kleiner machen. Er — und andere, zum Beispiel unsere Encyclopédistes — haben Großes gedacht. Ich will keinen Zweifel daran lassen, daß sie alle dieses siècle des lumières geschaffen haben. Sicher, diese Philosophen der Aufklärung haben uns alle dorthin bewegt, wo wir heute gehen. Doch Kant war nur Physik, er war immer irgendwie Newton. Ästhetik und das Organische der Seele, sie galten ihm als eine Nebensache, weil sie waren nur unsachlicher Ausblick. Er hat Bewußtsein und äußere Wahrnehmung getrennt voneinander. Er hat es genau getrennt oder scharf getrennt. Ein Einzelner hatte es sehr schwer. Fichte — und eben in Folge Schelling und eben Goethe — den Du nicht magst, weil Du «eitle Höflinge» nicht magst — , Schelling hat seinen Lehrer Fichte — gegen Kant — weiterentwickelt — die Natur als ein großer belebter Organismus, Du nanntest ihn einmal «beseelt», eine sehr schöne Metapher. Aber weshalb erzähle ich das alles Dir?! Du weißt es doch. Ich weiß auch nicht, weshalb wir hier eine Diskussion führen. So oft waren wir einig über die Bedeutung von: Die Philosophie entspringt erst aus der Dichtung und wird dann auch wieder Dichtung. Wir haben nie gestritten darüber, daß Romantik trotz alledem nie christlich-religiös zu definieren ist. Puh! Und jetzt kommst Du mit Kant und seinem Dualismus. Er, der für alles benötigt ein Etikett. Er, der auf den Menschen geklebt hat: Unmündig durch eigene Schuld ... Prompt folgt Dein Protest: «Unmündig meint, nicht selber denken zu wollen oder zu können.»

Aber ich muß fragen: Ist daran ist der Mensch selbst schuld? Ist er nicht Knecht gewesen von anderen Menschen, von gottgesandten Menschen, in Europa von Christen? Dann wieder Du: «Deshalb sprach Kant ja von Aufklärung. In diesem Zusammenhang.» Und ich muß dagegenfragen: Um wieder zu einem neuen Dualismus zu kommen? Das ist gut, weil es vernünftig ist. Das ist schlecht, weil nicht reine Vernunft. Was bleibt einem Menschen dann noch, das er denken kann? Oder Descartes. Oder — wer immer. Und auch: Alle zusammen sie haben gesehen die Frauen als Schmuck an ihrer Seite. Dieses nebenbei. Und dann schimpfst Du gegen mich: «So'n alter, nebenfeministischer Hut. Außerdem bist Du kerzengerade von der Frühromantik in die Hochromantik und wieder zurück gerauscht.» Das ist mir egal! Ich wollte auch nicht nur einen Austausch mit Dir über Romanismus oder Romantik! Doch ich meine, der Rationalismus, zum Beispiel der Dualismus der Vernunft von Kant, diese Abwehr gegen Phänomene, gegen eine Kraft der Imanigation, gegen einen nicht geordneten Traum, überhaupt den Traum. Er hat mit eine große Last auf uns geladen. Warum kommst Du in diesem Zusammenhang nicht mit Hegel? Hegel und seine Philosophie der Freiheit! Freiheit als ein weit oben stehendes Recht. Er hat das Recht des Ich in eine Gesellschaft integriert. Jedoch keinen Absolutismus von Selbstbewußtsein! Nicht nur das Ich! Das Leben: «eine alle einzelnen Systeme der Natur übergreifende Bestimmung»! Und er hat dem Wissen große Bedeutung gegeben, diesen auch heute gerne von vielen Politikern gezielt falsch gebrauchten Unsinn unter sein Messer gelegt: Volkes Meinung. Wie Du es auch immer sagst — ohne Wissen keine Möglichkeit der Reflexion. Gut, er hat das Wort Reflexion nicht geschätzt. Heute haben wir etwas mehr Wissen. Heute er würde es mögen. Ich hoffe es. Ah! Nun schreibe ich Unsinn. Denn das Volk ist genauso dumm wie damals. Es will gar nichts wissen. Es will das, wie ich es einmal bei Dir gelesen habe: ein neues Automobil und einen zweiten Kühlschrank und einen dritten Staubsauger und einmal für das Jahr die schönste Zeit ...

Ich gehe jetzt faire du shopping, mir ist das ganze Jahr die schönste Zeit ...

Zwei Tage • Eine sentimentale Reise • Erzählungen
 
Fr, 01.05.2009 |  link | (1943) | 0 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Zwei Tage















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Jean Stubenzweig motzt hier seit 5806 Tagen, seit dem Wonne-Mai 2008. Letzte Aktualisierung: 22.04.2022, 10:42



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