Ankunft l'Estaque Ich steige aus aus dem Entenfluggerät. Direkt vor der Tür haben wir einen Parkplatz gefunden. Na gut, die Uhrzeit. In einer Stunde wird's hier anders aussehen, wenn alles angerollt kommt und in die Läden geschoben wird, was die Lüstlinge von l'Estaque so in ihre Körper hineinzuschieben und zu -gießen gedenken. Auch gibt es einige, die beispielsweise vom sechsten Arrondissement hier rausfahren, um einzukaufen. Tatsächlich ist das Café bereits geöffnet. Nichtmal die Tür ist geschlossen, obwohl es doch sehr frisch ist an diesem dieses Jahr im Mai eher märzischen mittleren Meer. Es befinden sich sogar schon einige Leute darin. Einer weicht im Äußeren ein wenig von den anderen etwa fünf oder sechs Männern ab, unter ihnen zwei oder drei Frauen. Ein angenehmes Gesicht. Doch auch das ist hier keine Seltenheit. Die heterogene Freundlichkeit dieses Städtchens ist legendär. Dennoch kommt mir dieses Gesicht irgendwie bekannt vor. Was soll's. Ich bin so oft hiergewesen. Dann ist das keine Geisterscheinung, sondern nur normal. Der mir bekannte Wirt — er hat die kleine, sehr schlicht resopalveredelte Bar wohl von den Eltern übernommen — schaut wie immer unbeteiligt sympathisch oder sympathisch unbeteiligt. Man kann's drehen, wie man will. Mit solchen Menschen kommt bei mir immer Wohlwollen heraus. Gerade mal, daß er mich wahrgenommen hat. Aber er hat. Er nickt. Wir beide stellen uns nebeneinander an den Tresen. Uns gegenüber stellt der angenehm ruhige Enddreißiger, na, vielleicht hat er auch schon die Vierzig erreicht, eine Flasche hinter die Theke und schickt sich an, sie zu öffnen. Also weißt du, eröffne ich meiner göttlichen Nachbarschaft, du scheinst recht zu haben — die fangen aber tatsächlich früh an mit dem Nektar hier. Und dann gleich Champagner. Vielleicht gäbe es einen Anlaß, entgegnet sie mir mit einer Lapidarität, die jedoch offensichtlich ein zumindest kleines Geheimnis nicht verbergen will. Der Thekier dreht sich um und geht zu seinem CD-Spieler. Offenbar beabsichtigt er, mit diesem Gerät zu musizieren. Ich will aufbegehren, gehe ich doch in dieses Café unter anderem deshalb, weil es ansonsten darin garantiert kein Musik genanntes Gedudel gibt, doch da donnert es auch schon los. Ach du meine Güte — die Marseillaise. Es scheint wirklich was los zu sein hier. Nun, an örtliche Gegebenheiten werde ich mich anzupassen haben. Ist ja sowieso pausenlos Krach in der Stadt. Nix zweiundzwanzig oder meinetwegen auch dreiundzwanzig Uhr Hochklappen der Bürgersteige wie in München. Am Cours Belsunce spielen die Kinder bis morgens um drei Fußball gegen das Gittertor des Centre Bourse, an dem das Hotel dranhängt, in das meine persönliche Tourismus-Dame mich irgendwann übersiedelt hatte, weil sie meinte, daß ich in ein solches Etablissement nicht hineinpasse, in dem überwiegend Grand Cru trinkende, very british wirken wollende deutsche Halstuchträger nächtigten. Nun gut, darin hatte ich lediglich ein Blick über den Alten Hafen, im neuen Quartier konnte ich bis nach Afrika schauen, da meine Dame der Réception für mich grundsätzlich die oberste Etage befohlen hatte. Aber kurz nach der Balltreterei kommt der Chauffeur der Straßenkehrmaschine. Man gewöhnt sich daran. Aber er hier läßt's schon arg dröhnen. Auf einmal singen alle mit. Sehr, sehr laut. Ich stehe unwillkürlich und unwillentlich patriotisch stramm. Und drehe mich um. Da steht der Männerchor mit Frauen und schaut mich beim Grölen grinsend an. Allons enfants de la Patrie, Le jour de gloire est arrivé! Contre nous de la tyrannie, L'étendard sanglant est levé! L'étendard sanglant est levé! Entendez-vous dans les campagnes Mugir ces féroces soldats? Ils viennent jusque dans nos bras Egorger nos fils et nos compagnes! Aux armes, citoyens! Formez vos bataillons! Marchons! marchons! Qu'un sang impur Abreuve nos sillons! Alles hat ein Ende. Auch die erste Strophe samt Refrain des Kampfliedes, das die Truppen von Marseille 1792 beim Marsch auf Paris sangen. Jetzt lächelt meine Dame mindestens so breit, wie dieser Volkschor steht. Es kracht. Es war jedoch kein Schuß, das war der Champagner. Jetzt spricht der Chor auch noch. Ich muß heftig lachen. Und dann heulen. Dann beides zusammen oder abwechselnd. Sie befinden sich immer noch im Vollrausch glorreicher Siege. Wenn's sonst keine Kolonialisierung mehr gibt, dann eben der Fußball. Obwohl: «Auch wenn England als das Mutterland des Fussballs gilt, gab es auch schon in Frankreich ...» Trotzdem wird mir ganz anders. Nicht, weil ich ein Anhänger dieses Spiels wäre. Sondern dieses Empfangs wegen. Jetzt seh ich durch meinen Heulschleier, daß da oben auch noch Transparent hängt mit dieser Begrüßungsrede. Ich flüchte mich in in die Halsbeuge meiner Mutterfigur der Internationale. Nun fließt alles Wasser aus mir heraus — auf sie. Aber wie. Sie hält mich im Arm, als ob der Nachwuchs bereits angekommen wäre. So klein fühle ich mich aber auch. Kaum, daß ich mich aus der schützenden Behausung herauswage. Ich spüre, daß sie nichts dagegenhätte. Doch ich ziere mich sehr. Muß man mich derart heulen sehen? «Didier. Komm heraus aus mir. Hier freuen sich die Menschen, wenn man weint — vor Glück. Deinetwegen ist man sehr, sehr früh aufgestanden. Didier — hast du das verstanden?! Um dich in deiner Heimat zu begrüßen!» Langsam entwirre ich mich aus meiner zarten Fluchtburg. In Distanz zu mir steht dieser sich etwas von den anderen unterscheidende Herr. Naziza schnieft ein wenig, nickt, lächelt und dreht sich um. Sie nimmt drei gefüllte hochstielige Gläser mit Champagner, reicht eines mir und eines unserem Gegenüber, das nun herantritt. «Didier — ich glaube, du kennst ihn? Unser Freund Paul.» Ich hebe erstmal mein Glas, proste allen zu und bedanke mich. Naziza ist mit unserem Freund ein Stückchen unterwegs. Wahrscheinlich heckt sie das nächste Ding aus. Solange es weiterhin derart Angenehmes ist, soll es mir wahrhaftig lieb sein. Und tatsächlich, je länger ich ihn so anschaue, um so genauer beginne ich mich zu erinnern. Dann habe ich das Bild vor Augen, das uns beide in der Wohnung zeigt, die wir uns angeschaut hatten, die unser junges Glück ummanteln sollte. Genau — dieser Mann hatte uns damals einen geradezu unglaublich guten Vertrag gemacht. Das war kurz vor meiner Flucht vor einem Heimathafen, die nach fast vier Jahren offensichtlich jetzt hier enden sollte. Mit einem Mal erinnere ich mich, daß er gesagt hatte, ihm sei es lieber, gute und zufriedene Mieter zu haben. Letztlich profitiere er davon, weil sie sehr viel sorgsamer damit umgingen. Werterhaltungsmaßnahmen durch Behutsamkeit im Umgang mit Menschen. Solche Weisheiten haben sich noch nicht unbedingt herumgesprochen. Doch nun gehört ihm die Wohnung nicht mehr. Er hat sie verkauft. Und noch ein paar Zimmer mehr. Er hat alles meiner Hafenmeisterin verkauft. Na ja. Es gehört ihm schon noch. Solange es noch nicht abbezahlt ist. Doch das werden wir ja wohl auch noch hinkriegen. Zwei Jahrzehnte lang habe ich von so etwas geträumt. Bis ich nicht mehr wollte. Weil ich überhaupt keinen Besitz mehr wollte. Weil er einen nur festnagelt. Und vor diesem Kreuz bin ich wohl auch geflüchtet. Aber nun bin ich doch festgenagelt. Allerdings möchte nicht behaupten, daß mir deshalb die Tränen kämen. Es sei denn, es wären die schrecklich glitschigen des glücklich Angekommenen. Ich beuge mich den ungeschriebenen Blog-Gesetzen gegen elektrische Bleiwüsten und setze diese unglaubwürdige Geschichte morgen fort. Oder übermorgen. Auch hier gilt: Keine der Abbildungen steht in unmittelbarem Zusammenhang mit der Geschichte, jedenfalls nicht zur hier erzählten. Zwei Tage • Eine sentimentale Reise • Erzählung
Ein tiefer Blick
in die Seelentiefe des JS. Interessant zu lesen, weil wieder jede Menge Kopfkino dabei. Dank für den Genuß. Bin auf die Fortsetzung sehr gespannt.>> kommentieren Alors, enfants de la patrie Ich darf kurz meinem Wunsch Ausdruck verleihen, dass wir einer >> kommentieren Spamming the backlinks is useless. They are embedded JavaScript and they are not indexed by Google. |
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