Resonanzkörper Gerade bescherte mir france musique mit Gerd Albrecht eine Geschichte. Zu Zeiten war's, als das Leben dem jungen Mann noch übel mitspielen konnte. Aus der noch recht frischen Ehe war er geflohen, einfach so, sich ins Auto setzen, wie zum Zigarettenkauf, und nicht mehr wiederkommen. Bis hin zur Vermißtenanzeige durch die Verlassene. Was er sehr viel später erfuhr. Tagelanges zielloses Herumfahren. Quer durch Nordeuropa. Immer auf der Suche nach Gründen. Für ein verpfuschtes Leben. Endlose Trauer. Oder Selbstmitleid. Damals wußte er noch nicht, daß es so etwas gab. In einer Backfischehe lernt man solches nicht. Das Bedürfnis, sich mitzuteilen, vielleicht eher, etwas über sich zu erfahren. Aber wem gegenüber? Freunde hatte er keine. Deshalb hatte er ja wohl geheiratet. Dann fiel ihm, irgendwo frierend am Skagerak stehend und die Kopulation von Ost- und Nordsee beobachtend, die Dame ein, die ihm mal Blumen geschenkt hatte. Einfach so. Ihm, einem Mann, Blumen. Für solche Ereignisse hatte er keine Vase parat. Mit schlichten Blumen wußte er nichts anzufangen, die kannte das Großstadtkind nicht. Zuhause gab es nur edle exotische Gewächse zur standesgemäßen Dekoration. Sie aber hatte auf einer Wiese einen bunten Strauß gepflückt und ihm diesen mit einem liebevollen Lächeln in die Hand gegeben. An sie erinnerte er sich mit einem Mal. Er fuhr ins winterlich vereinsamte Städtchen und radebrechte, unter Zuhilfenahme von scheinbar dänisch parlierenden Händen und Füßen, die Frage nach einem Telephon zusammen. Es war schwierig. Entweder gab es nur im Sommer Fernruf oder man schätzte seine leicht mitgenommene Anwesenheit nicht. Oder es lag am Sand, den er überall hineintrug in die gewohnt blitzsauberen Stuben. Dann fand er ein kleines Hotel. Da er sich nicht getraute, einfach nur nach einem Telephon zu fragen, mietete er ein Zimmer. Von dort aus rief er in die fast tausend Kilometer entfernte Ferne. Er hatte den Eindruck, mit seinem Anruf nicht unwillkommen zu sein. Fast sah er durch die Leitung dieses Wiesenblumenlächeln, das ihn dann auch noch daran erinnerte, daß sein Geburtstag bevorstünde. Schon damals überraschte es ihn, wenn Menschen sich so etwas merken konnten. Das Gespräch floß so dahin. Es würde sicher sehr teuer werden, war kurz sein Gedanke, der jedoch hinweggewischt wurde von ihrer Frage, ob er sie nicht besuchen wolle. Er setzte sich über die Frage hinweg, woher sie denn wissen könne, worum es ihm ging, und antwortete, durchaus gerne, aber er habe noch einiges zu erledigen und wann es denn recht sei. Komm halt her, kam es weich und warm aus dem Telephon, sie sei immer da, sie müsse sich ja um die kranke Mutter kümmern, und der Vater sei auch nicht mehr der Jüngste mit seinen siebzig. Und Platz genug sei auch im großen Haus. Er erneuerte seinen Hinweis auf zu erledigende Dringlichkeiten, ging an die Rezeption, zahlte Zimmer und Ferngespräch, achtete nicht auf die Kosten, setzte sich ins Auto und fuhr in Richtung Süden. Wieder wurde er mit Blumen empfangen, keine von heimischer Wiese, denn dazu war nicht die Jahreszeit. Er brauche gar nicht groß auszupacken, eröffnete sie ihm nach einem oder zwei Gläsern Weißwein, es mögen auch mehr gewesen sein, denn morgen ginge es direkt weiter in südlicher Richtung. Sie müsse dringend in ihr Haus nach San Valentino alla Muta. Und er würde doch sicherlich gerne mitkommen. Sie legten sich schlafen, und nach einem wohligen Traum fuhren sie los. Die weiteren achthundert Kilometer schreckten ihn nicht. Er war seit frühester Kindheit an Entfernungen gewohnt. Sie kamen den Hohlweg gerade noch hinauf, und das, obwohl er seit frühen Jugendtagen ein geübter Schnee- und Eispilot war. Dann würde man das Auto nicht mehr benötigen, meinte sie erleichtert, denn ab sofort erledige man alles zu Fuß. Zwar würde der Bauer den Weg morgen so gut es gehe freiräumen für die weiteren Besucher, aber insgesamt werde man die nächsten drei Wochen so leben wie die Menschen, die vor dreihundert Jahren dieses Haus aus Holz zwischen die Felsen gesetzt hatten. Die am nächsten Tag Anrückenden schafften es dann doch nicht, mußten ihre Autos unten im Ort stehen lassen und zu Fuß den Hohlweg hinaufgehen. Aber der Bauer lud das Gepäck, die wertvollen Musikinstrumente vorsichtig lagernd und alles kälteschützend abdeckend, auf den Anhänger und zog den mit seinem Traktor hinauf. Er war etwas verstört angesichts der vielen Musikanten, hatte er doch auf das ruhige Vorspiel der Cellistin gehofft. Doch allesamt waren sie angenehme Menschen. So kam er zwar nicht dazu, seinen Lebensschmerz loszuwerden, aber die allgemeine Fröhlichkeit heiterte ihn dann doch irgendwie auf. An einem der nächsten frühen Abende bat seine Gastgeberin ihn, hinunterzugehen zu den beiden Alten vom Wirthaus. Der Wein sei ausgegangen, und ohne ginge ja wohl gar nichts hier, das wäre ja wohl einzusehen, und die anderen seien alle so beschäftigt, da müsse er wohl ... Zwar war er nicht eben begeistert, aber weniger der knapp zwei Kilometer langen und recht kalten Strecke, sondern ihrer Dunkelheit wegen. Er fürchtete sich. Aber dann nahm er allen seinen Mut zusammen sowie die große Weinkanne und stapfte hinunter ins Dorf. Dort stellte man ihm zunächst mal ein Glas Wein hin, es würde etwas dauern. Es dauerte dann doch drei Gläser lang, bis das bucklicht Männlein, der jüngere Bruder der beiden Schankwirte, es geschafft hatte, wieder aus dem Keller hervorzukommen. Der kräftige Südtiroler Rote gab ihm Kraft, das sich hinauf zu den Felsen ziehende Dunkel zu besiegen. Nach etwa der Hälfte des Weges vernahm er für die nächtliche Natur ungewöhnliche Klänge. Er schaute hinauf zu den Lichtern des abgelegenen Bergbauernhauses, von dorther schienen sie zu kommen. Und tatsächlich, als er davorstand, meinte er vor einem riesigen Klangkörper zu stehen, die kleinen Fenster wirkten wie die Schallöffnungen des Korpus einer Violine, eines Cellos oder einer Bratsche. Wie verzückt fühlte er sich, umgeben vom dunkelbläulichen Schnee und dessen Klängen, alle Kälte war gewichen, die Musik wärmte ihn, als ob sie direkt aus dem jahrhundertealten Kamin käme. Dann endete das Spiel, aus einer der Öffnungen des Resonanzkörpers lehnte seine Gastgeberin sich heraus und bat ihn, ins Haus zu kommen. Dort angelangt, erhob sich das kleine Orchester, die erste Geige streckte kurz den Bogen nach oben, gab einen Ton vor, dann sangen sie ihm a capella zum Geburtstag, dirigierten ihn zu einem Stuhl mittendrin und begannen wieder zu musizieren. Er war Musik.
Eine wunderbare Geschichte, das ohnehin, und dann die Formulierungen. Ich verneige mich. Das ist vom Feinsten. Es neigt sich hin,
es (ver-)neigt sich zurück. Nennt man das dann Neigung(en)?Das ist nichts mit Zwei Tage und so. Das sind ganz frische Eifersuchtsreaktionen auf Ihnen gegenüber, gleich nach der Lektüre nach dem französischen Frühstück. Oder nennt man das more fun with competition? (Kenne ich von Flippern; als ich sowas noch tat, starrte ich immerzu darauf statt auf die Kugel ...)
Und diese Dame verneigt sich vor beiden Herren und dankt für eine wunderbare Lektüre! Ich komme kaum noch zum Bücherlesen bei all den Kostbarkeiten, die es im Netz zu entdecken gibt.
Allerdings freue ich mich auch schon auf die nächste Folge des belgischen Adels. Ich habe mich immer gefragt, wie es wohl war, als Romane noch in Fortsetzungen in Zeitungen erschienen und vermutet, daß mir ein gebundenes Buch doch lieber ist, bei dem ich das Tempo selbst bestimmen kann. Meine Oma hingegen sagt immer: Vorfreude ist die schönste Freude, und damit hat sie recht. Also werde ich weiter die Vorfreude genießen... Zustimmung,
Madame. Man kommt kaum noch zum Bücherschreiben. Aber die Vorfreude ...! Auch hier neige ich zurück. Aber was ist denn mit Ihnen? Sie sind so schweigsam, zuhause bei Ihnen. Oder bei sich? >> kommentieren apostasia (27.05.09, 15:21) (link) Dänemark. Italien.
Sicher, mal Abwechslung. Aber was ist mit Belgien? Dem Adel?Für Belgien
fehlt mir zur Zeit die Lust. Der Adel hat zwar für meine Verhältnisse viele Besucher, aber die meisten kommen nur, um Bildchen zu gucken. Ich denke darüber nach, einen Aufsatz über den Bildersturm zu verfassen. Oder vielleicht doch besser ein großes Werk über Dosenöffner.Mit Ihnen habe ich
fest gerechnet bei der Thematik. Allerdings schwebte mir dabei Exkursiveres vor, etwa in dieser Art. Man hat schließlich mal was ordentliches gelernt.Die diffizile Problematik
des Dosenöffnens vielleicht dann doch nicht, fällt mir eben ein. Die gibt es reichlich bei weiterblättern, wo unter anderem das Laubacher Feuilleton archiviert wird, womit ich dienlich bin. Dosenöffner wurden dort die Editorials auf Seite 1 genannt. Besser über Entenausflüge. Die sind hier nach Herrn Karajan mit großem Abstand zu allem anderen am beliebtesten, und es werden täglich mehr. Tierliebhaber gibt es demnach hier offensichtlich sehr viel. Wie im Fernsehen. Erstaunlich. Ich hätte nicht gedacht, einmal so populär zu werden.angstfreies Dosenöffnen
in der Toskana. Ein sehr, sehr gutes Seminar. Vielleicht aber auch auf Gomera!?Sie haben vielleicht recht, den Gedanken zu verwerfen. Ist der Begriff "Dosenöffner" doch auch als Bezeichnung für ein seichtes Musikstück geläufig. Da muss man aufpassen... ;o)
Eine Freundin verwendete mal den Ausdruck "angstfreies Töpfern in der Toskana" - jetzt frage ich mich gerade, ob es da irgendwo einen Zusammenhang gibt... die Formulierung ist ja wirklich nicht alltäglich, oder? Jedenfalls mußte ich damals wie heute herzlich lachen...
Gomera, Toskana und Tessin
Prieditis: Gomera?Weshalb denn dort? Wird dort der Wein (und auch das Bier) nur noch in Dosen gereicht, also nicht nur in homöopathischen? Damenwahl: Ein Witzchen über das überall sprießende kreative Denken bzw. die zu Geld kommenden Achtundsechziger aus den Siebzigern, hauptsächlich gebraucht in den Achtzigern (als Gomera Mode geworden war), das sich lange gehalten hat, bis in die Neunziger (offensichtlich bis heute). Da wurde im Laufe des wöchentlichen jour fixe, der dem fröhlichen Beisammensein und dem nicht minder heiteren Themenfinden diente, aus dem Töpfern das Dosenöffnen. Nebenbei: Der «gastgebende» Professor der Psychologie hatte sein dortiges Haus bereits seit den Sechzigern, also einige Zeit, bevor Klaus Staeck vor der SPD warnte, die den Arbeitern ihre Villen im Tessin wegnehmen wolle. >> kommentieren Spamming the backlinks is useless. They are embedded JavaScript and they are not indexed by Google. |
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