Rot glüht der Wein

Seit mein Herz samt dem Appendix des einen Beines in den Sümpfen des nordischen Barbaricums steckengeblieben ist (immer wieder aufs neue überrascht mich die Vielzahl der darin lebenden Franzosen), zwingt mich die Verursacherin dieses angenehmen Debakels dreimal jährlich auf einheimische Märkte, jedenfalls auf das, was man kurz vor hinter Sibirien, aber auch anderswo darunter versteht: einmal auf den der Handwerker zum Frühjahr, einmal auf den der Handwerker zum Herbst und auf einen zum Advent. Allen dreien gleich ist das Angebot und daß weit und breit kein Handwerker zu sehen ist, jedenfalls nicht als Anbieter. Die angebotenen Waren, vermutlich auch das Interieur kommen überwiegend aus chinesischen Fabriken. Sieht man vielleicht beim letztgenannten vom von der Kirche überwachten Glühwein ab.

Photographie: frollein 2007 CC

Dieser Herr Gott scheint ohnehin einer der wenigen, die noch ein bißchen auf Qualität achten, und das, obwohl der Meßwein abgeschafft wurde; wenn auch nicht für seine Stellvertreter oder andere Privilegierte. Zumindest in in seiner angerührten Mischung kommt in unserem Fall der punschrote innere Heizpilz aus Büchen im südlichen [sic] Herzogtum Lauenburg, hart an der Grenze zu den ehemaligen deutschen Ostgebieten. Der zum Glühen gebrachte Rebensaft stammt nicht von dort und auch nicht aus Wien oder von der letzten Auswaschung des Tankwagens vom anderen Kontinent, sondern von jüngeren Winzern aus der Pfalz, die ihn selber trinken, wenn und auch nicht vorgeglüht. Das alleine ist beachtlich. Deshalb wohl harren bereits während des Aufbaus der Verteilstation bestimmte Menschen seiner Öffnung. Wie früher bei den Freibänken, als es die noch gab und eine suizidäre (nicht suizidante!) Kuh den ständigen Windecker-Herzbuben-Schall im Stall nicht mehr aushielt und seine Ankündigung umsetzte, noch vor der Schlachtreife zu gehen, wenn das kein Ende hätte.

Zur Freibank gingen keineswegs diejenigen, die man später mit dem Prekariat umhüllen sollte, sondern manch einer in feinem Linnen unter schlichterem Umhang und leicht gesichtsverbergender Krempe wurde dort gesichtet. Aber nicht, weil die ohnehin bereits Besserverdienenden durch Kostensenkung oder Sparen am Essen reich werden wollten, sondern weil sie wußten, daß es das Fleisch von Tieren war, die sich beispielsweise auf dem Weg zum Tod ein Bein gebrochen hatten und deshalb qua Gesetz notgeschlachtet werden mußten. Keine Leber gab es frischer, und sie war, wie das Gulasch auch, beaufsichtiger als jedes andere Stück. Fünfmal umetikettiertes, drei Jahre altes Gekröse oder Seperatorenfleisch hatte keine Chance, die Schwelle zur Freibank zu erklimmen und mußte mit dem billigeren Discounter vorlieb nehmen. Diese deutsche (?) Institution wurde abgeschafft, da durch die ständig sinkenden Marktpreise kein Bedarf mehr vorhanden war. Damit war dann alles im europäischen Lot, wie gemeinhin bekannt ist.

Auf einen solchen Adventmarkt gesamtdeutscher Ansicht hatte mein Herz mich also vergangenes Jahr einmal mehr verschleppt. Nicht sonderlich einladend war's, nicht nur der im Norden üblichen feuchten Kälte wegen. Aber die Blicke und der Hinweis auf die lieben, schließlich von Opas Portemonnaie abhängigen drei Kleinen hatten mich auf- oder auch dahingerafft. Dafür gab dann einen original französischen Fiete's Crèpes Shop, wo wir die Süßen mit eingeklapptem Brotaufstrich aus, wie Wikipedia verrät, «Zucker, Pflanzenöl, gerösteten Haselnüssen, Kakao, Milchpulver, Sojalecithin und Vanillin» versorgten. Ich machte die Frau vom Shop auf einen kleinen Fehler aufmerksam. Jaja, sie hätte das zwar richtig auf-, aber der Handwerker, ein staatlich geprüfter Meister der Schildermalerei, habe das nicht abgeschrieben gekriegt.

Dieses Jahr mußte ich wieder hin zum Advent, er findet nur zwischenzeitlich statt im vielleicht nicht ganz so heimeligen Städtchen im Landkreis Stormarn, der bis nach Lübeck reichenden Speckfalte Hamburgs. Drei Stunden von der Ostsee her herübergeblasener Dauerregen, aber von allen Seiten, auch von oben, 1.800 Liter pro Sekunde auf einen Quadratmillimeter. Vier kleine Kinder, eines war gegenüber dem vergangenen Jahr hinzugekommen, und was sonst noch so dazugehört an Verwandtschaft, die vor nichts zurückschreckt. Die lütten und auch die etwas längeren hatten Hunger nach soviel Hüpfbungee und Kinderkarusell und Heino in Discoklängen und aus der Kirche heraus den Herrn anrufenden echtem stormarner Südstaatengospelsound und Glücksloseziehen für die Charity und die aus kurz vor Kiel angereisten Cheerleadergirls vom Tabellenführer FC Wacker-Grätsche-Plön, auch vor Gottes Haus eingenäßt trotz des Leadings der örtlichen Frau Paster, die auch den Rock'n'Roll-Kurs des protestantischen Karnevalvereins leitet, und dann auch noch glühendem Wein mit Schuß aus dem Ofen, weil man einen Stand ausgesucht hatte, an dem es auch Bratwurst gab und ohne die die Oma nicht leben kann. Die mochten die vier Mädchen aber nicht, sie waren von zuhause besseres gewohnt als Schweinereien aus chinesischem Kommunismus.

Pfannkuchen? fragte die ein unendliches Herz für Kinder, aber nicht für leidende Altersliebe habende Großmama. Ja, leuchteten alle Augen feucht, auch die meinen, wenn auch vom Wasserschwall, der, angetrieben von einer zielsicheren Bö, vom Dach des Zeltes über dem um einiges feiner glühenden Wein aus dem Nachbarkreis über mich gekommen war, unter das ich mich eigenschützig geflüchtet hatte, ich aber unglücklicherweise einen Schritt zurückgetreten war, um den herrlichen Regenhimmel zu betrachten. Und als ich wieder einigermaßen durchblickte, da sah ich ihn, den Stand mit der Erlebnisgastronomie. Er war es wieder, der mit diesen original französischen, von Ferraristicrème bestrichenen Fabrikfladen vom letzten Jahr. Und der handwerkende Schildermaler hatte seinen Fehler umgemalt, nun stand dort:

Fiete's Crepês Shop

Mit assoziativem Dank an Wurst & Frite's. Aber um der lieben Wahrheit willen mußte ich das hier so umfassend ausführen.
 
Fr, 11.12.2009 |  link | (3135) | 2 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Geschmackssache


nnier   (11.12.09, 12:55)   (link)  
Kruzifix Zirkumflex! Jetzt bin ich aber froh, dass das doch noch gekommen ist. Ich konnt's am Ende ja kaum noch abwarten.


jean stubenzweig   (11.12.09, 14:49)   (link)  
Etwas länger brauche
ich nunmal. Als ich im nordischen Barbaricum angelandet worden war, wunderten die Büddenwarder sich. He is jo heel pük, aver draddeld en beten rum bem snaken.

Als ob's da noch auf den sauber gesetzten accent circonflexe ankäme.















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Jean Stubenzweig motzt hier seit 5812 Tagen, seit dem Wonne-Mai 2008. Letzte Aktualisierung: 22.04.2022, 10:42



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