Bewegung

Der Geschichte Ungleiche Brüder erster, zweiter, dritter Teil.

Wie sollte er sich verhalten? Bereits die Küsse für die Mutter, auch wenn sie landesübliche auf die Wangen waren, hatten ihn Überwindung gekostet. Und nun dieses grizzlyartige Wesen, aus dessen rötlichbrauner Behaarung etwas Grau durchblitzte, womit die Farbigkeit der Person sich erschöpft hatte. Bestimmt dreißig Kilo hatte er zugenommen seit der letzten Begegnung, es konnten auch vierzig sein, es verlor sich ein wenig bei diesem Hünen, der ihn um zwei Köpfe überragte und die ihn immer wieder einmal hatten rätseln lassen, welche verwandtschaftliche Erbmasse dafür verantwortlich zu machen sein könnte bei elterlichen Formaten wie auch dem eigenen, die weniger Altnormannisches assoziierten als mehr mittelasiatische Reiterei. Der ein wenig an Thor erinnernde Koloß nahm ihm seine Nachdenklichkeit ab, indem er ihn umarmte und ihm anschließend heftig auf die Schulter klopfte. Wie in alten Zeiten, als er ihn unzählige Male gebeten hatte, das zu unterlassen, er sei schließlich kein Römer. Frühstück gebe es später, bei den Freunden. Hierbei regte sich massiver Protest in ihm. Nein, ohne einen Kaffee verlasse er dieses Haus hier nicht. Kaum hatte er es ausgesprochen, stand eine geradezu widerspenstig gelockte Blondine vor ihm, die dem Aussehen nach die frische Tochter eines Sammlers von Pferdefüßen oder ähnlichen Feinheiten aus der Bretagne oder der Normandie sein konnte, und reichte ihm lächelnd eine Tasse mit seinem südlichen Lebenselexier. Hastig schüttet er das passable Gebräu hinunter. Er würde noch einige Tassen benötigen. Das war vermutlich das einzige, das er von der Mutter hatte: Kaffee, zu jeder Zeit und wo auch immer man sich aufhielt. Den Bruder hatte er nie welchen trinken sehen. Seine Hoffnung lag nun alleine bei seiner Schwägerin und deren Ankündigung, ihm den Aufenthalt so angenehm wie möglich zu gestalten. Ohne Kaffee würde er auf dem Absatz umdrehen und das Haus verlassen. Aber das auch für den Fall, daß man extra für den Kaffeekauf nach Deutschland führe, «der Qualität wegen».

Sein Wagen stand in der Hotelgarage. Er durfte ihn dort stehen lassen, das hatte er mit dem Direktor des Hauses vereinbart. Es waren nicht sonderlich viele Gäste anwesend zur Zeit. Er hatte kein Bedürfnis, mit seinem Bruder über Autos zu sprechen. Dazu käme es zwangsläufig, sähe er die Type. Einen solchen Franzosenschrott könne man nicht fahren, allenfalls schnell verkaufen, die Neger da unten in Afrika nähmen sowas gerne, hörte er den begeisterten Anhänger des deutschen Sterns sagen, ihn anheben zu einem sicherlich seit Jahrzehnten gehaltenen Vortrag. Deshalb ließ er es lieber gleich und sich in guter rechtsrheinischer Wertarbeit herumkutschieren. Das schließlich war des Bruders Profession, die sich leidenschaftlich seines Leben bemächtigt hatte, über die ging bereits in jungen Jahren nichts, auch daran dürfte sich nichts geändert haben. Als er eingestiegen war in das schwarze Gefährt, das auch in seinem Herkunftsland gerne als Traktor bezeichnet wurde, fragte sein Chauffeur ihn, wie er eigentlich in die Heimatstadt gekommen sei.

Er gab vor, bis Paris geflogen zu sein und von dort aus seine Reise mit der bummeligen Bahn fortgesetzt zu haben. Diese abwertende Bemerkung über ein von ihm nicht sonderlich geschätztes Verkehrsmittel würde ihn milde stimmen, und da der Bruder früher schon nicht geflogen war, weil er unter anderem die Sicherheit des Transportmittels Flugzeug stark anzweifelte, dürfte der die Umständlichkeit einer solchen Reiseroute nicht bemerken. Frankreich verfügte über ein dichtes Netz regionaler Flugverbindungen, und so gab es von allen möglichen Flughäfen aus raschere Wege nach Metz beziehungsweise Nancy. Als Taxifahrer sollte er das wissen, aber Paris klang einleuchtender. Und die Frage nach dem Fahrzeugtyp war damit rascher vom Tisch. Zumal die Autofrage auf andere Weise schnell wieder aufkommen sollte. Auf dem Weg zu den Kollegen waren sie. Denen habe er heute früh zu Schichtbeginn bereits von seiner Ankunft berichtet, und einige unter ihnen seien ihm sicherlich noch bekannt, er ihnen auf jeden Fall. Daß das zwanzig Jahre zurücklag, kam ihm in seinem mikrokosmischen Blick auf die Welt nicht in den Sinn. Er ahnte, worüber gesprochen werden würde oder auch gestritten. So war es denn auch, nachdem ein paar der Herren, an die er sich allesamt nicht erinnerte, ihn begrüßt hatten wie einen in der Fremde verlorenen Sohn. Doch bald kam man zum die Welt bewegenden Thema. Einmal mehr ging des Bruders Stern als Minderheit unter. Doch das focht ihn nicht an. Bei dieser Thematik war er gerne Exot. In anderen Bereichen war man sich schließlich einig. Beim Essen beispielsweise. Da herrschte der regionale Patriotismus vor.

So war er dann doch auch recht bestürzt, als er sah, was seine Frau an argen Exotereien eingekauft hatte. Vermutlich dachte er zunächst an die Kosten, etwa, daß man dafür sicherlich vier neue Pneus bester Qualität erwerben könnte. Aber vorrangig dürfte gewesen sein, daß ein Teil des Einkaufs sich noch bewegte. Da die Gattin, ein zartes, geradezu filigranes Geschöpf, diese Bewegung offenbar vorausgesehen hatte, beeilte sie sich, ihm mitzuteilen, eigens für ihn habe sie eine Hure besorgt, auch das sei letztlich eine südostasiatische Spezialität. Damit sei er nicht ganz so ausgegrenzt von der heutigen, zu Ehren des Gastes etwas orientierteren Küche. Das kulinarische Mitbringsel für den Bruder wollte er gar nicht so recht anschauen, doch auch auf die anderen, ihn in all ihrer Farbigkeit schon eher beindruckenden Köstlichkeiten vermochte er sich trotz seiner eigentlichen Wahrnehmungsfähigkeit nicht recht konzentrieren. Um ein Haar hätte er laut ausgerufen: Wie kommt solch ein grober Klotz inmitten dieser Umgebung maschinell gestrickter röhrender Hirsche zu einem derart feinen Gebilde?! Mit einem Mal erinnerte er sich an die wie nebenbei einfließenden Worte der Stiefschwester, denen er keine Beachtung geschenkt hatte, was sie nicht davon abhielt, weitere Charakteristika zu liefern, die ihm nun im eigenen, von leichter Garstigkeit geprägten Wortformat präziser aufschienen. Es sei, nach einer über eine Art Wettbüro gekauften Philippina, die nach einem knappen Jahr gen London entschwunden sei, die dritte, über die erste wisse sie nichts, Ehefrau des Bruders. Diese staatlich sanktionierte Verbindung habe nun bereits seit drei Jahren Bestand. Über Katalog hätten sie sich kennengelernt. Kurz nach ihrem Eintreffen, eine Visitation in ihrem Land habe er aus Verkehrssicherheitsgründen abgelehnt, hätten sie geheiratet. Mit ausschlaggebend dürfte gewesen sein, als sich herausgestellt hatte, daß ihr Vater ein in Indochina stationierter Soldat aus einem lothringischen Dorf nahe der Grenze zu Deutschland war, der in thailändischen Urlaub geflohen und gleich dort geblieben sei. Sieben Kinder habe er hinterlassen. Jedes Jahr eines. Dann sei er erschöpft dahingegangen. Dem Bruder würde das sicherlich nicht passieren. Denn es habe den Anschein, als sei er derjenige, der nicht so recht zugange komme und nicht, wie zuvor gemutmaßt, seine Ehefrauen.

Er traute seinen Augen nicht. In dem kleinen Zimmer, in dem vermutlich ansonsten die Wäsche aufbewahrt und geplättet wurde und das für ihn aufgeräumt worden war, lagen auf dem zur Seite gestellten Bügelbrett Photographien. Sofort hatte er sich darauf erkannt. Es waren Bilder ausschließlich von ihm und, bis auf eines, aus einer Zeit, als er sämtliche Familienbande längst gekappt hatte. Dieses eine konnte er seinem Bruder aus Höflichkeit geschickt haben. Es zeigte ihn als jugendlichen Bräutigam neben seiner Braut, die ihm an der Universität in Kopenhagen aufgefallen war, da sie grundsätzlich in Tracht erschien und immer in seiner Nähe Platz nahm. Zwar kam sie aus Südwestfinnland, akzeptierte jedoch, wenn auch widerwillig, seinen Wunsch, in diesem etwas anderen Rathaus zu heiraten, dessen Baumeister er sehr verehrte. Man hatte sich kurz danach in Freundschaft getrennt, sicherlich auch, weil sie ihre Heimatverbundenheit gar zu ungern ablegte. Auf den anderen Photographien war er als agil wirkender Redner in einer Umgebung zu sehen, die Hochschulcharakter hatte. Höchstens anderthalb Jahre alt konnten sie sein, denn zu diesem Zeitpunkt hatte er seine Gastprofessur im Südwesten Frankreichs angetreten, zugeschanzt von einem Freund mit Lehrstuhl. Wie zufällig lagen sie dort, als hätte man vergessen, sie wegzuräumen. Das bewegte ihn durchaus, machte ihn aber vor allem nachdenklich.


Über eine Fortsetzung wird noch nachgedacht. Aber zunächst einmal habe sogar ich den jahreszeitlichen Ereignissen gemäße Verpflichtungen: Erma mam (das ist kleinmoritzisch und heißt in der Übersetzung: Erstmal was essen. Alles andere ist unwichtig.) Ich wünsche allen die dafür erforderliche Ruhe.
 
Sa, 19.12.2009 |  link | (2978) | 4 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Ungleiche Brueder


vert   (20.12.09, 14:35)   (link)  
dann guten appetit und auf bald.


jean stubenzweig   (20.12.09, 15:10)   (link)  
Den Appetit verschlagen
hat's mir. Für das legendäre vorweihnachtliche patchworkfamiliäre Großvater-Essen kurz vor Kiel benötigte der winzige fünfköpfige Teil der Großkommune viereinhalb Stunden für die Anreise – mit der bewußt genutzten Bahn. Zurück dann, bei Zuständen wie in der Tokyoter Metro zur rush hour (Reservierungen sind im Regionalverkehr nicht möglich, auch dann nicht, wenn sich babies on board befinden), noch einmal genauso lang. Für 80 Kilometer. Ab minus ein Grad fällt bei der deutschen Bahn die Elektronik (inclusive der Fahrkartenautomaten) – und bei den Fahrgästen das Gehirn aus.

Ich verschwinde in den Süden. Da ist's zwanzig Grad wärmer.


vert   (21.12.09, 00:34)   (link)  
trösten sie sich. ich hatte gestern 800km mit eingefrorener scheibenwischflüssigkeit (gepriesen sei die autoverleihbranche und insbesondere die firma ent*rpris*!) und durfte alle dreißig km zum scheibenwischen anhalten.
zurück bei schneesturm. autofahren wird überschätzt.

aber sie haben recht. die besagte bahnverbindung ist in jeder hinsicht ...verbesserungswürdig.


jean stubenzweig   (21.12.09, 03:43)   (link)  
Seltsam klingen die ...
Allzu oft in ihrer Selbstdarstellung heißt es: «... ausgezeichneter Kundendienst, Respekt vor den Mitarbeitern und Aufstiegschancen innerhalb des Unternehmens». Das macht nachdenklich. Oder vorsichtig?















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