Angesichts und mittendrin

von Kirchen und Friedhöfen gerate ich immer wieder in Gefühle der Zwiegespaltenheit. Besonders im deutschen Raum, der nunmal gut vierzig Jahre meines Lebens in Beschlag genommen hat. Allen voran gewisse protestantische Örtlichkeiten, die auch ich immer wieder einmal aufzusuchen mehr oder minder gezwungen bin. Ob Taufe oder Totenfeier, das ist dort alles überwiegend von einer Tristesse, die mit Traurigkeit nur unzureichend übersetzt ist, da sie ästhetische Hintergründe hat; wobei letzteres nicht das Formale meint. An keinen Jubel, an keine Klage kann ich mich erinnern, die mich in solcher Umgebung tatsächlich ergriffen hätte. Eine Ausnahme mögen meine Besuche, ich war gerade intensiver mit Bayern in Berührung gekommen, der Konzerte des Münchner Bach-Chores gewesen sein, wobei ich mir nicht mehr sicher bin, ob es die durch Karl Richter interpretierte Musik war oder die Rothaarige in der ersten Reihe, deren Stimme ich meinte herausgehört zu haben. Sicher bin ich mir auf jeden Fall, daß es nicht des evangelischen Heiligen Markus wegen war, daß ich die Kirche aufgesucht habe. Die stand meines Erachtens im krassen Widerspruch zur Musik und der inbrünstigen, nachgerade altgläubigen (Sanges-)Schönheit einzelner Damen. Glücklicherweise sind dann gewisse Empfindungen in der Lage, Ansichten auf graues Grausen zu verdecken und die Sinne zu fokussieren. Völlig anders hingegen meine Ergriffenheit, als ich zum ersten Mal Notre-Dame-en-Saint-Mélaine in Rennes betrat. Kaum hatte ich mich ein wenig staunend umgesehen, auch hinaufgeschaut, was aber der architektonischen und keiner anderen Höhe geschuldet war, als der Organist begann, das noch neue Instrument zu bespielen. Da habe sogar ich mich auf eine Bank gesetzt, habe nur noch hineingelauscht, mich in diese Umgebung sinken lassen.

Nun ließe sich hier herauslesen, ich sei dem Katholikentum zugewandt. Das bin ich ganz sicher nicht. Auch die Orgel gehört nicht zu meinen Lieblingsinstrumenten. Sie erinnert mich immer irgendwie an Bach und an diesen angewandten Protestantismus (gegen den beispielsweise Ennoch zu Guttenberg immer wieder andirigiert hat). All das gehört nicht eben zu dem, dem ich zustrebe, womit Religionen, welcher Art auch immer, gemeint sind. Aber ich bin mir im klaren darüber, daß es ohne diese Vergeistigung diese Bauwerke, die Musiken nicht gäbe. Sogar dem Fliegenfänger Henryk Górecki bin ich einst auf den Leim gegangen. Nein, das wäre jetzt ungerecht. Denn der Pole ist wohl tiefgläubig, das muß der Maßstab sein, auch ein historischer, aber nicht im Sinne von Rückblick, sondern in dem eines anhaltenden Zustandes. Außerdem war es vermutlich nicht er, sondern wiederum eine Sängerin, deren Stimme ich hingebungsvoll verfallen war und es in gewisser Weise bis heute bin, nicht zuletzt deshalb, da ich sie anderenorts und zu anderen musikalischen Ereignissen erleben durfte: Dawn Upshaw. Dennoch war sie es, die eine Grundstimmung vermittelt hat, ohne die es eine nicht nur europäische Kultivierung nicht gegeben hätte.

Aber daraus ging eben auch dieses Protestantische hervor, bei dem ich ästhetisch fast austrockne, weil mir offensichtlich dann doch etwas von dem fehlt, das die tiefe Einkehr kennzeichnet. Da müssen Rudimente in mir vorhanden sein, anders kann ich es mir nicht erklären. Am anschaulichsten wurde das, als ich in den Achtzigern auf einem Friedhof nahe der schweizerischen Grenze einen Verwandtenbesuch machen sollte. Im unteren Bereich war er von einem herauspolierten Glanz, der tausende Jahre Geschichte hinfällig zu machen schien. Sogar die Grabsteine hatten eine Formenrichtung angenommen, wie sie ein ostholsteinischer Steinmetz im Akkordlohn anstreben dürfte, wenn auch mit etwas weniger Applikation. Je weiter ich allerdings den Friedhofshügel hinaufging, um so mehr fanden sie zurück in ihre alte Sprache, die auszusterben scheint.

Photographien: Christian Reuther (aus Laubacher Feuilleton 5.1993, S. 1 und 16)

Vollends wiedergefunden hatten sie sie erst weiter oben, von Bäumen umstanden, in der unverrückbaren Vergangenheit einer Kultur, die sich, wie alle anderen Kulturen auch, aus dem Glauben entwickelt hat, an welche Götter auch immer. Und denen ich, obwohl ich nicht an den Glauben glaube, diese Wirklichkeit zuzugestehen habe. Aber protestantisch gegen die Kirche protestieren, das hätte ich mit Sicherheit nie getan. Ach, was bin ich doch für ein herrloser Ästhetizist.
 
Fr, 26.02.2010 |  link | (4678) | 6 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Ansichten


terra40   (26.02.10, 19:38)   (link)  
Ungerechte Vorwürfe
Irgendwo bespüre ich dass Sie den protestantischen Glauben verantwortlich machen wollen für das Fehlen ästhetischer Gefühle. Und auch die Bachschen Triosonates auf der Kirchenorgel vermögen nicht Sie etwas milder zu stimmen. Glauben Sie mir: die Kirche ist nicht dazu dar Ihnen nicht-religiöse Empfindungen zu vermitteln.

Im wirklichen Ernst: Auch ich, protestant wie Sie, bespüre die Tristesse (wie Sie sagen) in den Gottesdiensten. Und ich freue mich doppelt wenn ich hören kann wie wunderbar eine Sopranistin singt: "Er hat uns allen wohlgetan." Und noch mehr wenn ich weiß, dass es keine losen Worte sind. (Elly Ameling, jetzt 75 Jahre alt geworden, war so eine.)
Gruß, T.


jean stubenzweig   (27.02.10, 04:23)   (link)  
Seltsam ausgedrückt
muß ich mich da mal wieder haben, daß Sie annehmen müssen, nein, geradezu fest davon ausgehen, ich gehöre der protestantischen Kirche an. Davon mal abgesehen, daß ich ohnehin gewisse Unterschiede sehe, das aber nur nebenbei, zwischen der deutschen und der niederländisch reformierten (wobei ich nicht verfolgt habe, ob sich da in letzter Zeit etwas geändert hat): Ich gehöre nicht nur keiner Kirche an, ich bin auch nicht getauft, gefirmt oder ähnlichen Maßnahmen anderer Religionen unterworfen gewesen, den Nachwuchs in die vermeintlich einzig richtige Richtung zu fixieren. Mein Vater wußte das zu verhindern, weil er nicht wollte, daß seinem Sohn das gleiche passiert wie ihm, dessen Kindheit und frühe Jugend in extremer Orthodoxie verlaufen war. Mein eher gegenreligöses Aufwachsen hat sicherlich bewirkt, daß ich mich mit Religionen beschäftigt habe; das war auch im Sinne meines Vaters: Möge das Kind später selbst entscheiden, was es für richtig hält. Das habe ich getan.

Ich wollte da oben niemanden oder etwas verantwortlich machen für irgendetwas. Ich habe Empfindungen beschrieben und mögliche Ursachen angerissen, die für kulturelle Entwicklungen stehen. Die sehe ich eben unter anderem, indem ich Friedhöfe oder Kirchlein oder Kathedralen aufsuche. Auch mache ich keinerlei Vorwürfe. Mit religlösen oder nicht-religiösen Anwandlungen hat es ebenfalls nichts zu tun. Dazu habe ich ausreichende Distanz, wie zu in Kirchen vereinigten Religionsgemeinschaften im allgemeinen. Gegen die bin ich glücklicherweise gefeit, auch gegen alle erdenklichen weiteren Glaubensarten. Was nicht heißt, daß ich nie damit konfrontiert wurde. Ich habe mich damit beschäftigt; ein Teil davon ist nachzulesen in Den Zahn ziehen .... Wobei jede Auseinandersetzung mit Kirchenvertretern mich in meiner undogmatischen Gegenposition bestärkt hat. Dabei waren, das sei festgehalten, die Gespräche mit denen des Katholizismus trotz aller himmlischen Festlegung am kurzweiligsten. Der Rabbi an sich, dessen religiöse Überzeugung ich aus meiner Familie kenne, schmunzelt sich ohnehin eins und versucht nicht weiter zu überzeugen, weil er eben nicht missioniert. Was man vom protestantischen Pfarrer nun wirklich nicht behaupten kann. In einer Runde mit katholischen Priestern ist er – ich spreche hier, um das klar und deutlich zu machen, von persönlichen Einzelerfahrungen, erhebe also keinerlei Gültigkeitsanspruch! – zudem beim rhetorischen Missionslauf obendrein eindeutig der langsamere. Zum islamischen Geistlichen kann ich überhaupt nichts sagen, da ich keinerlei Begegnungen hatte. Menschen dieses Glaubens kenne ich einige, aber darunter befindet sich niemand, der wie jeder dritte Schlüsseldienstleister versucht, mir einen Koran zu verkaufen und der sehr ungläubig wird angehörs meiner Ablehnungsbegründung: ich hätte bereits drei unterschiedliche Exemplare und Sekundärliteratur obendrein.

Das heißt nicht, daß ich den Islam ablehne. Ich lehne alle Religionen ab. Was wiederum nicht heißt, daß ich grundsätzlich Menschen ablehne, die an irgendetwas glauben. Ich bin von ihnen umgeben. Und wir kommen im wesentlichen ganz gut klar miteinander. Es sei denn, man versucht, mich zu missionieren. Dann wird ihnen auch ihr Rhetorikkurs an der Volkshochschule nichts nutzen. Und wenn sie, wie das bei einigen Gruppierungen der Fall ist, einer Gehirnwäsche unterzogen worden, also auf Argumente einzugehen nicht in der Lage sind und weiter ihren Sermon runterbeten, dann müssen sie mit einem baldigen Platzverweis rechnen. Oder aber mit meinem raschen Abgang.

Es geht um Empfindungen, die ich verspüre, wenn ich mich in diesem oder jenem Umfeld aufhalte. Ob ER dabei wohlgetan hat, das sei jedem selbst überlassen. «Allen» stimmt dennoch nicht. Mir nämlich nicht. Was andererseits auch wieder nicht stimmt, denn IHM zu Ehren wurden Kunstwerke geschaffen, die ich genießen darf. Oder eben auch wieder nicht, weil sie mir nicht zusagen. Dabei will ich es mal belassen.


terra40   (27.02.10, 11:53)   (link)  
Klar und deutlich
Vielen Dank. Die Luft ist wieder rein. Die Klarheit in den Standpunkten ist wieder eingekehrt. Aber, so frag ich vorsichtig, erklären Sie mir bitte dann auch noch die Sache mit Dawn Upshaw. Oder im allgemeinen die Glaubwürdigkeit eines Sängers. Sie wissen wie ich es meine.
Gruß, T.


jean stubenzweig   (27.02.10, 14:56)   (link)  
So genau weiß ich
es nicht, wie Sie das meinen mit Dawn Upshaw. Ich nehme also die Glaubwürdigkeit. Weshalb sollte sie diese nicht haben? Ich habe sie beispielsweise in Salzburg erlebt bei Kaija Saariaho. Dabei habe ich eine ungemein konzentrierte, in jeder Hinsicht auseinandersetzungsbereite, für jedes Argument offene Sängerin kennengelernt, die beileibe nicht nur ihre Partie abspielt, sondern sie zu leben scheint, weil sie tief eindringt, eben nicht nur in den Stoff. Das Gefühl habe ich bei ihr immer, ob sie nun Debussy singt, Fauré, Messiaen, die mich geradezu beglückenden, weil in die von mir geliebte Landschaft bettenden Lieder der Auvergne von Canteloube oder, eine etwas andere Richtung, Strawinsky. Selbst dort, wo ich mich musikalisch nicht so gerne aufhalte, etwa beim mir allzu US-amerikanischen Bernstein, wenn sie anfängt, mir diesen schrecklichen Charles Ives, ihre mir Ohrenschmerzen bereitende Heimat, Tennesee und den mittleren Westen, wo sie ausgebildet wurde, zu besingen, halte ich sie ein paar Minuten aus, weil sie in ihrer Aufrichtigkeit auf mich glaubwürdig wirkt. Das mag damit zu tun haben, daß sie glaubt, an was oder wen auch immer. Ich gehe durchaus davon aus, daß es einer gewissen Gläubigkeit bedarf, um diese Glaubwürdigkeit zu erreichen – an der dann gottlose Menschen wie ich partizipieren dürfen. Von daher paßte sie auch vermutlich besser als jede andere zu Górecki. Man mag zu dieser Musik stehen, wie man will, aber sie vermittelt auch mir als Nichtkatholiken das Thema: Schmerz, Trauer, da Trennung (von Mutter und Kind) durch Tod, letzten Endes durch Krieg und KZ. Mit Sicherheit nicht zuletzt dank Dawn Upshaw.

Nicht vergessen sollte ich vielleicht, daß sie mir wie wenige eine Beziehung zu Frankreich herstellt, zu einer von dort stammenden Musik, die mir nahe ist. Und das als US-Amerikanerin. Da wird man auch schonmal gezwungen, seine Urteile zu überarbeiten.


terra40   (27.02.10, 15:53)   (link)  
Unglaublich gläublich
Zitat "...... es einer gewissen Gläubigkeit bedarf, um diese Glaubwürdigkeit zu erreichen".
Das ist es was ich meine. Es gibt sie: Sänger die diese gläubliche Glaubwürdigkeit ausstrahlen. Vielleicht is Dawn Upshaw ein gutes Beispiel, aber dafür kenne ich sie nicht genug. Es gibt allerdings auch Künstler die entweder (semi)-Religiösität vermitteln wollen, oder solche die bei Passionsarien und Bruckner-Messen keine Ahnung (Ahnung hier verstanden mehr als Wissen alleine) scheinen zu haben wovon sie singen.
Gruß, T.


jean stubenzweig   (28.02.10, 00:43)   (link)  
Oh sicher gibt's die!
Das sind diese Olympioniken: höher, weiter etc. – sportliche Übungen im Konzertsaal. Ennoch zu Guttenberg hat solche Sänger mal als diejenigen bezeichnet, die mit ihrem Gesang einst still mäandernde Bäche begradigten. Ganz schlimm wird's, wenn sie dann noch heucheln, wie die Experten aus der Politik ...















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