Herbstgeflöte

«Lesen, lange Briefe schreiben»? Weshalb denn? Jede Fernsehanstalt zeigt bis zum erneut beginnenden Tag vierundzwanzig Stunden lang das pralle Leben — in Bildern. Ach du Gute Alte Zeit. Wir kehren — endlich — in sie zurück. Die Vorkommnisse der Weltgeschichte werden uns, da wir des Lesens — geschweige denn des Schreibens — nicht mehr mächtig sind, wieder über die Bilder mitgeteilt; wie bei der mittelalterlichen Armenbibel.

«Wachen», das schon. Es ist ein allerdings nicht das des sanften, melancholisch In-sich-Hineinhörens, es ist jenes, das die Berliner Freundin, die noch keinen Fuß auf den Pfad der Weisheit gesetzt hat, so despektierlich «senile Bettflucht» nennt. Nun gut: Wer nächtlich auf der Flucht vor sich selbst ist, kann sich immerhin sportlich betätigen. Surfen zum Beispiel. Im Internet. Das ist wie Fußballspielen auf der Couch, mit feingeschnetzelten Kartoffeln. Da ich jedoch kaum geeignet bin für Mannschaftssportarten, dauerlaufe ich mit Knopf im Ohr. Ich höre Radio.

Meine zu diesen Stunden auf Sanftheit und -mut programmierten Synapsen klöppeln mir dann solche Damen wie Frau Moll zurecht. Viele ihrer Art und zarten Weisen gibt es nicht im Äther. Sie hat eben nicht dieses nach verknacksten Knochen klingende T oder B der nach einem sich aus dem frühen Mittelalter in die Neuzeit geretteten fränkischen Kollegin der Frühnachrichten im Sprachduktus, der man deshalb zu Sprechunterricht geraten und die dann auch tatsächlich welchen genommen hat. Wobei sie an einen dieser immer mehr werdenden quer eingestiegenen ehemaligen Fischmarktpropagandisten und zum rasenden Börsenreporter auf- und nach einer Saison wieder abgestiegenen Lehrer geraten sein dürfte, der ihr dann in enormer Geschwindigkeit vermitteln konnte, daß der Begriff Kleinanleger seine Wurzel aus dem Kleingärtner zieht. Er konnte verständlicherweise ebenso nicht wissen, daß das g nach König ch zu sprechen ist, der Könich und die Könige. Bühnendeutsch wird das außerhalb Europas gern genannt. Nun ja, es tummeln sich schon ordentlich leicht fehlgesteuerte Adepten der einst geheimen Wissenschaften auf dem Mediengelände. Schließlich lassen sich nicht alle Berufsbezeichnungen schützen. Gleuropa wird's schon richten. Vom Tellerwäscher zum Senator.

Andererseits gibt's dann diejenigen, die ab sechs, also mitten im Tag und schrecklich wach, mir das Deutschradiohören verleiden und mich deshalb endlich ins Bett zwingen, weil sie sprechen, wie sie in gewissen Kreisen gerne gehört werden, Ann-Sophie oder Marc-Aurel, ein wenig wie von der Werbephotographie Erleuchtete — sozusagen ideal sprechend für Faltenröcke tragende, sich ständig über die Reeperbahn rettende oder über die Elbe ins Musical schwimmende lebenslange Töchter. Und die dann alle drei Minuten fröhlich ins Mikrophon rufen: Bleiben Sie dran! Sie sagen das so, wie ich früher gepfiffen habe, wenn ich in den Keller hinuntermußte. Nur hatte ich Angst, daß jemand da ist. Sie aber haben Angst, daß niemand da ist. Weshalb man auch dranbleiben soll. Schließlich kommen gleich die nächsten gut gelaunten Werbeklingeleien. Wie im Fernsehen.

Aber das eine ist ja das eine und das andere das andere. Die klassische Funkjournaille morgens ab sechs wägt der Welt Wichtigstes ab. Meine Moll-Damen aber wiegen und besummen den nächtlich Einsamen. Diese Stimmen werben nicht, sie umwerben. Nicht nur im werbefinanzierten Radio, auch im öffentlich-rechtlichen. Für den einen lohnt sich das nicht. Ihm zum Glück.
 
So, 29.08.2010 |  link | (2851) | 2 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Ohrensausen


heim_weh   (31.08.10, 15:18)   (link)  
Bleiben Sie dran!

Wen die damit meinen? Die, die zuhören, haben einen Grund dafür und die, die es nicht tun, auch.

Das ist übrigens das, was ich an nächtlichen Autofahrten damals mit den Eltern sehr geliebt habe: diese Ruhe - auch im Radio. Draussen dunkel, drinnen schwach armaturbeleuchtet. Nur ganz wenig Gesprochenenes und sogar das Radio scheint ein wenig andächtig zu sein. Und ja, Sie haben Recht: Zwischenrufe sind unnötig und störend.


jean stubenzweig   (31.08.10, 20:08)   (link)  
Zwischenruf aus dem Asyl
Meine Moll-Damen rufen nicht. Sie säuseln mir etwas vor. Das ist so angenehm zum einschlafen. Ich brauche das seit meiner Kindheit. Wenn ich brav war, durfte ich nach dem Essen nach nebenan aufs Canapé und den Alten beim magenschließenden Brabbeln lauschen. Dann kam das sanfte Sandmännchen. Nächtliche Autofahrten kannte ich damals nicht. Später mußte ich dann selber fahren. Das war nicht ungefährlich. Denn auch dann hörte ich am liebsten beim verbalen Flöten zu.

Wen die damit mein(t)en? Na, mich, ihren einzigen Hörer.















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Jean Stubenzweig motzt hier seit 5813 Tagen, seit dem Wonne-Mai 2008. Letzte Aktualisierung: 22.04.2022, 10:42



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