Distanzen

Geographische, US-amerikanisch gefühlte Längen und Weiten wurden in der Feldpost skizziert. Eine Freundin aus Jersey habe ihr geschrieben, sie befände sich Ende Juli auf Grönland, da ergäbe sich ja sicherlich Gelegenheit für einen Wochenendabstecher nach Deutschland. Die Adressatin wunderte sich ein wenig über das Entfernungsempfinden: «auch wenn man grönland mit island verwechselt», schreibt sie, «ist es von dort aus noch ein ganzes stück bis germany.» Kommentatorin Pollymere meinte daraufhin: «... als ich weiland 1995 nach 10 Monaten USA wieder zurück kam, hatte ich auch eine komplett andere Einstellung zu Distanzen.»

Das war dann das Moment, in dem bei mir die Erinnerung einsetzte, an den Cousin, mit dem ich ein spätjugendliches Jahr an einem entsetzlich tristen, nur von Sonne und nichts als Sonne belebten Ort verbrachte, beherrscht von Menschen, deren überwiegende Aktivitäten darin bestanden, sich die Haare silberblau färben oder sich mit der Sackkarre an Löcher fahren zu lassen, in die sie dann kleine weiße Bälle hineinschubsten. Vermutlich, weil sie nur Zahlen und sonst nichts zu lesen gelernt hatten und schon gar nichts von Tucholsky wußten, der ihnen gesagt hätte, dieser sogenannte Sport sei ein verdorbener Spaziergang.

Damals konnten wir nicht ahnen, daß dieses Krematorium kurz vor Ende der sogenannten zivilisierten Welt einmal von der Jeunesse und deren Kulturfolge(r)n in Besitz genommen werden sollte. Doch selbst oder gerade dann, wenn man uns über diesen Wandel der gesellschaftlichen Strukturen vorab informiert hätte, hätten wir die Flucht ergriffen. Bereits die Abscheu vor dem beschriebenen damaligen und mit Sicherheit dem dann folgenden way of life trieb mich, der ich wußte, daß ich dort mit Sicherheit keinerlei Studien betreiben wollte, zurück unter die Fittiche von Glucke Europa und den Cousin hoch in den Nordwesten, wo er als freizeitgetriebener Küstengardist lieber in die Kälte des Pazifik hüpfte statt sich im Atlanticbeach noch mehr aufzuheizen, ansonsten behielt er kühlen Kopf bei der Betreuung sogenannt schwererziehbarer Kinder, indem er ihnen des öfteren die Köpfe streichelte. Man sah sich erst wieder, als er die Freiheit des Westens gegen die Bedrohung aus dem Osten zu verteidigen hatte. In dieser Zeit lernte er die Alte Welt schätzen, von deren östlichem Rand auch er abstammte. Deshalb besuchte er sie und auch mich nach seiner Zeit als Friedenskämpfer gerne immer wieder mal. Es lag allerdings nicht so sehr am soldatischen Romantic Old Heidelberg und wohl auch nicht an meiner Person, die ihn so oft wie möglich über den Atlantik rudern ließ, sondern das europäische (Musik-)Theater, das es ihm angetan hatte.

So verabschiedete er sich oft mit der Bemerkung, er fahre mal eben nach Amsterdam, Berlin, Mailand oder Paris. Fünfzehn, zwanzig, zu dieser ICE- und TGV-losen Zeit durchaus übliche Stunden Fahrzeit mit der Bahn waren nicht der Rede wert, und nie und nimmer wäre er wegen der paar Miles in ein Flugzeug gestiegen. Auch in die königliche Oper von Kopenhagen wäre er eher geschwommen als zu fliegen.

Das sind eben keine Distanzen für einen US-Amerikaner. Und genau hier setzt die nächste, nicht ganz so weit zurückliegende Erinnerung ein: Als die Freundin in den Neunzigern mit Familie in ein pennsylvanisches Provinznetz zog, wo der Gatte zu forschen hatte, kam auf Manuskriptanmahnungen alle drei Wochen (öfter schauten viele Menschen damals noch nicht in ihren elektronischen Briefkasten) eine eMail an mit der Antwort: Komme doch zu nichts! Hier benötigt man für die Shopping-Anfahrt nach New York doch immer zwei bis drei Stunden.

Nun gut, auch Europäer fahren schonmal fünfzehn, zwanzig oder noch mehr Stunden mit dem Auto. Aber nur einmal im Jahr, den halben Hausrat in der Voiture und, wenn noch Platz ist, auch ein paar Kinder und deren Häschen. Doch fahren ist wohl nicht die korrekte Bezeichnung für diese Tätigkeit. Denn die meiste Zeit stehen sie auf dem Weg zum spanischen Grill in der Ostumgehung von Lyon und schauen sich, bevor Arno Schmidts Helios den Wagen in die Garage schiebt, ein ganzes Weilchen die Plattenbauten im Westen an. Deshalb fühlen sie sich in diesem Stau vermutlich auch so wohl: Es sieht aus wie in der DDR. Da hat man dann Gesprächsstoff während der Standzeit. Mit der Oper von Lyon hat man eher weniger was im Sinn.

Und unsereins stöhnt schon, wenn er vierzig Kilometer fahren muß, um von der Stadt ins Dorf und wieder zurück zu gelangen. Deshalb brauche ich für die Autofahrt (wenn's denn unbedingt sein muß!) nach Marseille auch in der Regel gerne eine Woche. Den Weg um Lyon meide ich ohnehin. Es gibt angenehmere Wege — den mittenrein und -durch.


25.05.08 | 159
 
Mi, 20.10.2010 |  link | (3259) | 12 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Unterwegs


damenwahl   (20.10.10, 23:40)   (link)  
Ich bin während meiner Abstecher in die USA nie zum Reisen gekommen - die Entfernungen sind so weit. Ich erinnere mich jedoch gut, daß ich nach der Heimkehr von der europäischen Reisearroganz kuriert war: die Amerikaner können im eigenen Land so unendlich weit reisen und dabei (durchaus!) drastische kulturelle Unterschiede erleben - da braucht es kein Ausland mehr.


jean stubenzweig   (21.10.10, 20:48)   (link)  
Ein Kontinent eben.
Wie von der Kultur der Samen bis hinunter zu der der Andalusier kurz vor Afrika. Und wie wir wissen, gibt es neben den eingewanderten Europäern und Afrikanern usw. in den USA noch ein paar unterschiedliche Völker sozusagen einheimischer Natur. Sicher doch, da gibt's viel zu kucken und zu staunen zwischen den Alaskianern und den Rentnianern in Florida.

Trotzdem verstehe ich den Begriff der «europäischen Reisearroganz» nicht so recht.


damenwahl   (21.10.10, 22:16)   (link)  
Europäer lachen doch gerne über Amerikaner, die nicht mal einen Reisepass besitzen und noch nie außerhalb der eigenen Grenzen waren. Nicht immer zu recht.
Durchaus zu recht bei Personen, die sich aufgrund der alaskischen Aussicht auf Russland außenpolitische Kompetenz anmaßen. Darüber lachen einige Freunde von mir bis heute.


prieditis   (23.10.10, 00:51)   (link)  
Der feine Sinn für subtilen Humor
der Amerikaner gefällt mir außerordentlich gut. Mein Lieblingsbeispiel: Das Kaff Die Metropole Kotzebue in Alaska. Dort liegt nämlich Sand. ... Verstehen Sie? Hahaha...Sand liegt vor Kotzebue...köstlich...


jean stubenzweig   (26.10.10, 19:08)   (link)  
Bei Kotzebue
denke ich in Europa teilintegrierter Siberianer weniger an das sicherlich zauberhaft gelegene alaskische Kaff als an einen Herrn selben Namens, den ollen Kotzebue («Hahaha, Sand», toter). Aber vielleicht kenne ich mich doch nicht so gut aus und meine am Ende gar den Katzwinkl.


prieditis   (27.10.10, 08:41)   (link)  
Jawohl, den Dieter Bohlen seiner Zeit. Der Amerikaner hat darum sicherlich den Namen des Oberzentrums in Alaska gewählt.


jean stubenzweig   (27.10.10, 20:04)   (link)  
Bohlen und Kotzebue,
den Vergleich kann ich nicht so recht nachvollziehen. Kotzebue war ein vielleicht ziemlich durcheinandriger Schmachtfetzendramatiker, aber er hat Bücher und Zeitschriften zuhauf auf den Weg gebracht, seine lustigen Spiele wurden ständig, auch international aufgeführt. Gut, er war ein Fürstenfreund, ein reaktionärer zudem. Aber ein Höfling war Goethe auch, ein vergleichsweise verlogener Moralist obendrein. Man muß ihn wahrlich nicht unbedingt schätzen, aber er ist mit «Krähwinkel» sogar bei denen bekannt, die noch nie von ihm gehört haben. Läßt sich irgendeine ähnliche Leistung auch von diesem Hitparadenstänkerer aus Hamburg behaupten?

Ich komme deshalb darauf, da Kotzebue als Antiromantiker mich vor langer Zeit mal beschäftigt hat. Zugestanden, von Herrn Bohlen weiß ich gar nichts. Vielleicht tritt er ja nur unter diesem seinem Pseudonym im Dschungelcamp Privatfernsehen auf, ist im richtigen Leben promovierter und gar habilitierter Psychologe und eigentlich Lehrstuhlinhaber an der Universität von Kotzebue.


prieditis   (28.10.10, 23:44)   (link)  
Holz Bohlen
Nun, ich glaube, er hat mal BWL-ähnliches studiert. Mir fiel bei beiden die unglaubliche Massenkompatibilität, und damit verbunden der wirtschaftliche Erfolg, auf. Überall vertreten und daher wohl auch sehr polarisierend.

Goethe begegnete mir überraschenderweise während meines Weimar-Rollerns.
Man mokierte sich dort (natürlich nur im engsten, konspirativen Kreise) über den Dilletanten Goethe, der alles besser zu wissen glaubte und sogar den umliegenden Gemeinden gutgemeinte Ratschläge über unterirdisch gelagerte Salzvorkommen zukommen ließ. Aber dies erfuhr ich nur hinter vorgehaltener Hand.
Wie wichtig Goethe für Weimar ist, bemerkte ich gleich am ersten Abend. Ich kam in der Dunkelheit an. Sehr müde und hatte ein wenig die Orientierung verloren (in Weimar!). Ich fragte ein nachtwandelndes Pärchen, wo sich denn das Nationaltheater befinde. Man versicherte mir mit bayr. Akzent, daß man das nicht wisse, man käme nicht von hier (Weimar). Ich ließ indes nicht locker: "Da, wo der Schiller und der Goethe stehen."
Da war aber ein großes Hallo, dieses wisse man, gleich ums Eck... (Exkurs)


gloiman   (22.10.10, 21:21)   (link)  
und ich lese das hier zum ersten mal und bin begeistert von ihrem distinguiert-verschrobenen stil.


pappnase   (23.10.10, 00:29)   (link)  
ich lese viel und schreibe selten.
ihre beschreibung ist ausgesprochen treffend.
was auch eine huldigung an den betreiber dieses blogs darstellt.


charon   (23.10.10, 01:01)   (link)  
Des Müllers Lust
ist das Reisen doch erst seit es ihn zu Zielen führt, die ihm ein noch schöneres Zuhause bieten. Schon bei den KdF-Fahrten durch norwegische Fjorde musste/durfte man ja nicht einmal das Schiff verlassen und stattdessen brav Eintopf essen und deutschen Morgensport treiben.



jean stubenzweig   (24.10.10, 12:46)   (link)  
KdF-Fahrten? Sie?
Ein Südwest(l)er auf Abwegen in den Osttourismus? Sie erheitern mich. Vor allem wegen dieses Morgensports, der offenbar den Einheitseintopf vergessen machen sollte.















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