Pisa und Bologna, Rom und Mekka

In meinen jüngeren Autorenjahren, da meinte mir gegenüber ein erfahrener Redakteur als höfliche Reaktion auf meinen leicht bürokratisch verklausuliert geratenen Bericht für die Hörermassen des Rundfunks, ich solle es doch besser vielleicht mal als Lehrling bei der Presseabteilung mit dem Ziel eines -sprechers des Bauernverbands versuchen. Das versetzte mir einen derartigen Hieb in die Mördergrube, daß mein Herz davonlaufen wollte. Ich hielt es fest und nahm mir vor, über meinen Leisten zu springen. Ich landete in einer Flickschusterei, die man heute vielleicht als Life-Style- oder auch Arsch-und-Tittenblatt bezeichnen würde. Dort lernte ich Texte schmieden, solange, bis sie heiß wurden. Dann ging ich wieder zurück zum Radio und wurde Redakteur und Autor. Dort schreibt man aber völlig andere, eben ins Ohr gehende und keine verschrobenen Texte, die man zweimal lesen muß; die Welt ist schließlich so zeitlos geworden. Daraufhin bin ich zurück in die Branche, derentwegen man heute auch schonmal angeklagt wird, man sei mit Verursacher der Grünen; davon, daß Bäume vermehrt in Kuscheligkeit produzierenden Öfen landen oder anderen, tiefergelegten Baumaßnahmen weichen müssen, wird in solchen Fäällen eher weniger gesprochen. Unverdrossen machte ich also weiter, gab in der beruflichen Zeit den Überwacher von Büchern und machte in der freien Zeitung. Für alle Zeit geblieben ist mir, nie Pressetexter für den Bauernverband oder Quotenjäger werden zu wollen.*

«Manche», schrieb Roland Barthes in seinem Le Plaisir du Texte, «wollen einen Text (eine Kunst, eine Malerei) ohne Schatten, der getrennt ist von der «herrschenden Ideologie»; aber das wäre ein Text ohne Fruchtbarkeit, ohne Produktivität, ein steriler Text (siehe den Mythos von der Frau ohne Schatten). Der Text braucht einen Schatten: dieser Schatten, das ist ein bißchen Ideologie, ein bißchen Darstellung, ein bißchen Subjekt: notwendige Geister, Luftblasen, Streifen, Wolken: die Subversion muß ihr eigenes Halbdunkel hervorbringen.»

Multikulti ist tot, heißt es. Ich bin gegenteiliger Meinung, war immer, auch aus eigener Erfahrung, ein Befürworter der Bastardisierung der Menschheit, da sie frisches Blut in sklerotische Domaines bringt. Wir, die einen früher, die anderen später, sind weltweit seit Jahrhunderten ein einziges Konglomerat, nur die gesellschaftlich Zurückgebliebenen oder an den Rand Gedrängten leiden unter den Defiziten, die ihm die (mittlerweile) vermeintlich Gebildeten oktroyiert haben. Wer gelernt hat, so zu lesen und zu schreiben und zu hören, daß ihm auch Zwischentöne nicht nur nicht entgehen, sondern auch als der Gesang der Sirenen in seinem Gehör ankommen, der wird wissen, daß sogenannter Klartext ihm häufig als ein monokulturelles, beruhigendes Kardinalsmäntelchen über den Kopf gelegt werden, das ihn bereit machen soll, so zu funktionieren, wie andere das wünschen. Gegen alle diese (Rechtschreibhör-)Schwächen hilft nur eines: über die Türme von Pisa und Bologna, Rom und Mekka hinaus zu schauen, von denen zu lernen, die das Denken, nicht das Glauben erfunden haben. Das waren nicht unbedingt diejenigen, die den geleerten Knast von Paris gestürmt haben, gedacht hatten bereits zuvor ein paar andere. Gut, das hatte Folgen, nicht nur für Europa. Aber wir können gut und gerne noch einige Jahrhunderte oder auch Jahrtausende in der Geschichte zurückgehen. Dann landen wir am Ende bei denen, die das Rad und noch ein paar andere nützliche Dinge mehr erfunden haben, auf die wir uns heute stützen, wenn von Wirtschaftswachstum die Rede ist. Dessen Erfinder und Erdenker aber, die wollen wir allesamt nicht haben bei uns, denn das sind allesamt Wirtschaftsflüchtlinge, die obendrein unser Blut durcheinanderbringen, unser edles, reines, rassiges.

* Ich bin Ihnen beiden sehr verbunden, daß dieses Streben nach vierzig Jahren angekommen ist, wahrgenommen wurde. Mein Dank sagt Ihnen: Lieber klein und wenig als reine Masse und nach draußen drängende Übersättigung.
 
Sa, 23.10.2010 |  link | (2127) | 14 K | Ihr Kommentar | abgelegt: lingua franca


gloiman   (23.10.10, 18:14)   (link)  
mir wurde heute vorgeworfen etwas als "distinguiert-verschroben" zu bezeichnen sei auch kein besseres kompliment als die schändliche kunstkategorisierung durch ausdrücke wie "skurril" und "speziell". ich finde aber dass das wort "verschroben" in einer ganz anderen liga spielt. ebenso diese texte hier.


jean stubenzweig   (23.10.10, 20:54)   (link)  
Skurril und speziell
aneinanderzureihen in gleicher Bedeutung, das ist schon sehr speziell. Und was soll am Skurrilen «schändliche Kunstkategorisierung» sein? Davon mal abgesehen, daß es Skurrilitäten überall gibt. Ich möchte annehmen, der- oder diejenige hat zuviel spracheingedampfte Sekundärliteratur gelesen. «Distinguiert-verschroben» charakterisiert durchaus präzise. Ich meine jedenfalls genau verstanden zu haben, wie es gemeint ist. Gefreut hat's mich. Und irgendwie stimmen tut's auch.


gloiman   (24.10.10, 14:02)   (link)  
derjenige hat eigentlich schon damit recht dass solche seltsamkeiten beschreibenden wörter oft (!) nur den beschränkten kulturellen horizont ihrer benutzer widerspiegeln und man sie deshalb vermeiden sollte.


ilnonno   (23.10.10, 21:12)   (link)  
Ich habe den Text heute vormittag gelesen. Und habe immer noch Tränen der Rührung in den Augen, weil da "oktroyiert" ohne "auf" steht...


jean stubenzweig   (24.10.10, 12:51)   (link)  
Dieser seltenen Schreibweise
ist Herr Prieditis bereits einmal verunsichert auf die Spur gekommen.


prieditis   (25.10.10, 03:54)   (link)  
Und seither ist es nicht besser geworden. Ich werde mich damit abfinden, jeden Nutzer des "aufoktroyierten", einen weißen Schimmel zu nennen. Gedanklich, meine ich.


ilnonno   (25.10.10, 21:55)   (link)  
Aber bitte nur, wenn Sprecher oder Schreiber nicht bebetrunken oder ververrückt sind.

War das mit dem Schimmel nicht ein Stilmittel und das "aufoktroyiert" ein schlichter und depperter Fehler?


damals   (25.10.10, 00:30)   (link)  
Mir hat ja besonders die Formulierung mit den Türmen gefallen - ganz recht: Türme sind Machtsymbole. Das erklärt auch, warum bologna-seitig alles untertänigst europaweit genormt sein soll, sobald aber die Rede auf die Barbarenhorden aus der Türkei oder gar Afrika kommt, zieht die Kanzlerin sichrheitshalber schnell ein paar nationalistische Sprüche aus dem Hut.


jean stubenzweig   (25.10.10, 17:28)   (link)  
Zielen Sie am Ende
gar in Richtung dieser anderspigmentierten Sarrazinen? – Oder wie auch immer diese ganzen Halbmondritter heißen mögen, die den Un- oder Nichtgläubigen den Heiligen Gral der guten neuen Wirtschaftsordnung rauben – die dann auch noch ihre spitzen Türme errichten wollen. Dabei hat doch kürzlich erst dieser oberste bundesrepublikanische Priest-Rebbe verkündet, sie seien ebenso Bestandteil seiner Kultur. Ob er deshalb mehr Christenkirche im osmanischen Reich gefordert hat, weil mittlerweile immer mehr gebildete(re) Andersgenetisierte mit deutschem Paß nach Istanbul entschwinden, da es dort mehr gemeinsames und fröhliches Durcheinander gibt als in Berlin oder Köln oder anderswo?


damals   (25.10.10, 21:42)   (link)  
Auf die natürlich auch. Aber beispielsweise die schiefen Türme von Pisa und Bologna sind nicht weniger spitz.Ich mag all die Ritter nicht, die gegen das Multi zu Felde ziehen, egal, woher sie kommen. (.. jetzt muss ich aufhören, bevor ich mich völlig in den Bildern verlaufe ...)


jean stubenzweig   (25.10.10, 22:19)   (link)  
Die rührige Kopfschüttlerin
hat auf ihrer Seite dazu einen Text verlinkt, bei dem sie mir kryptisch Taumelnden so kerzengerade aus dem sprachlichen Labyrinth herausgeholfen hat: «Genußlektüre», nicht Pflicht (die da am Ende lautet: «etwa so»).


sabinef.   (26.10.10, 11:12)   (link)  
»Vor Ort« entdeckt:
»Es hieße: ein Körnchen Salz geben in eine Sprachsuppe, die ohnehin zunehmend fader schmeckt, da sie mit immer weniger Inhaltsstoffen auskommen muß.«

Lapsi linguae


prieditis   (26.10.10, 11:15)   (link)  
Eine Suppe,
in die weitaus mehr Augen hinein- als hinaus schauen... hätt min ömmke immer jesacht


jean stubenzweig   (26.10.10, 15:04)   (link)  
Weil zu wenige rausgucken?
Aber zu viele (Fett-)Augen sollen ja demnächst ohnehin via Brüssel beziehungsweise Strasbourg gesetzlich streng geahndet werden. Wer übermäßig hinschaut, egal ob raus oder rein, bringt doch das gesamte (Wirtschafts-)Gefüge durcheinander. Demnächst gibt's als Ingredienz nur noch Hefeextrakt. Das verhält sich dann in etwa so wie die dänische Rechtschreibreform von 1947, von der mir gegenüber ein Spötter mal behauptete, es seien im aktiven Wortschatz insgesamt fünfhundert Wörter übriggeblieben.

À propos Fett als Geschmacksträger: Überall wird für die Erhaltung oder genauer gar die Wiedereinführung von Dialekten als eigenständigen Sprachen geworben und diese auch umgesetzt – so sehr ich das begrüße, aber es ist meines Erachtens ein über die allgemeine euroglobale Plattmacherei oder auch Vereinheitlichung gehängtes und als solches kaum wahrgenommenes Feigenblättchen (Erklär mir Europa!). Ein Grüner, also einer Partei zugehörig, die sich Vielfalt aufs Banner geschrieben hat, der aber schon Worte und Wörter nicht unterscheiden kann, meint, was zu machen wäre: «[...] Also könnte man dann gleich eine große Sprach- und Rechtschreibreform machen, in der alle Minderheiten und Menschengruppen gleichberechtigt behandelt werden und nicht für jeden seine sogenannte Extrawurst. [...]»















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