Langsame Fortschreitung

Sport ist Mord (des Versuches erster Teil)
«Wir wollen die Liebe zur Gefahr besingen, die Vertrautheit mit Energie und Verwegenheit [...] Ein Rennwagen, dessen Karosserie große Rohre schmücken, die Schlangen mit explosivem Atem gleichen ..., ein aufheulendes Auto, das auf Kartätschen zu laufen scheint, ist schöner als die Nike von Samothrake.»
So kopflos wie die griechische Dame von gleichermaßen Krieg und Frieden, die sogar noch etwas älter ist als das Buch zum Film des tolstoischen Stoffes zu den gesellschaftlichen Auswirkungen der Großschlachterei und die sich im französischen Kolonialgefängnis Louvre befindet, liest sich dieser Satz. Aber er ist von derart aktueller Brisanz, daß er wie auf DIN-A-0 aufgezogen oder hochplakatiert wird in allen öffentlichen wie privaten Kanälen. Denn solch ein geradezu mythischer Sturmwagen fuhr durch ein Städtchen an der immer zuallererst blühenden lieblichen Bergstraße kurz vor der in Heidelberg du Feine aufgehenden, also absolut historikfreien Romantik, darin einer sitzend, der einem Volk einstiger Erfinder angehört, das nach wiederholter Aussage sehr, sehr vieler Politiker mittlerweile von Fortschrittsverweigerung gekennzeichnet ist. Vermutlich hat er sich deshalb noch vor seinen kommenden Siegen bis hin zum Endsieg über die, besser mit der Technik aus seiner Heimat in so eine gute alte Mühle eines Nachbarlandes abgesetzt. Das interessiert allerdings die wenigstens der den jungen Helden frenetisch Bejubelnden, von denen ansonsten nicht wenige am liebsten alljene sofort in den Knast stecken würden, die auf dieser Insel der Glückseligkeit inmitten Europas ein Konto haben. Aber wer zu den heiligen Celebritäten zählt, der ist von diesem Urteil selbstverständlich ausgenommen. Hauptsache, er ist Deutscher. Das ist wie bei Flugzeugunglücken in Südostasien, zu denen es am Ende der allenfalls zweimal aufgelegten Meldung dann heißt: Fünfhundert Tote, aber zum Glück keine Deutschen. Hauptsache, Deutschland ist mal wieder Weltmeister.

Nun, dieser Streitwagen, der da mit behördlicher Sondergenehmigung langsam durchs beschauliche Heppenheim gleich der Anrufung Thors donnern durfte, hat zwar nach wie vor explosiven Atem, aber auf Kartätschen scheint er nicht mehr zu laufen. So etwas kennt heutzutage kaum noch jemand. Nike, ja, der ist bekannt, dieser in der Shoppingtour in der Elektrobucht günstig geschossene Sportschuh, der hauptsächlich beim abendlichen Balztanz auf dem Laufsteg getragen wird; aber, nun ja, auch Schach oder Autorennen gehören schließlich zu den Leibesübrungen. Eine Kartätsche, das ist mal wieder so'n oller Kram aus der Vergangenheit, der bereits Auslaufmodell wurde, als sich massenweise Deutsche freitodwillig in den ersten Weltkrieg stürzten, um die Franzosen und noch ein paar andere wegzukartätschen. Unter ihnen befanden sich nicht wenige Künstler. Auch Intellektuelle werden dabei benannt, wobei ich diese Art von geschichtsschreibender Begriffsauslegung ablehne, denn welcher Fachmann für Unterscheidung läßt sich fürs sogenannte Vaterland oder gar einen Kaiser freiwillig totschießen?

Aber diese Sätze da oben, die hat schließlich ein Italiener geschrieben, in dessen Sprache das natürlich noch viel rasanter klingt:
«Noi vogliamo cantare l'amor del pericolo, l'abitudine all'energia e alla temerità. [...] Un automobile da corsa col suo cofano adorno di grossi tubi simili a serpenti dall'alito esplosivo ..., un automobile ruggente, che sembra correre sulla mitraglia, è più bello della Vittoria di Samotracia.»
Und bereits einige Zeit vor dem erwähnten Krieg hat er das geschrieben, dieser Filippo Tommaso Marinetti, und zwar in seinem 1909 in der französischen Tageszeitung Le Figaro veröffentlichten Manifesto del Futurismo. Daran erinnert wurde ich durch eine Fernsehserie, die zu denen gehört, die im Gegensatz zu den vielen Wiederholungen gar nicht oft genug wiederholt werden kann, nicht nur, weil sie dem zwar vielzitierten, aber letztendlich doch arg vernachlässigten Bildungsauftrag entgegenkommt. Die 1994 eingestellte Sendereihe trägt den Titel 100(0)Meisterwerke. Darin wurde ein Gemälde von Giacomo Balla titels Velocità astratta vorgestellt.


Aber jetzt wird mir diese abstrakte Geschwindigkeit zu rasant. Meine Muse lahmt wie mein Döschwoh, der diese novembrigen Feuchtigkeitstemperaturen überhaupt nicht mag und sich an die südlich beschienene Sommerbadewanne sehnt. Also lege ich mich erstmal in die Hängematte und denke später darüber nach, wohin das führen kann, wenn der Fortschritt zurückschreitet.
 
Di, 23.11.2010 |  link | (1320) | 7 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Form und Sinn


diplomuschi   (23.11.10, 21:38)   (link)  
Eben gelesen: Geistige Kriegspropaganda.
Der Aufruf von Wissenschaftlern und Künstlern ...


jean stubenzweig   (24.11.10, 09:35)   (link)  
Auf diesen Krieg alleine
will ich nicht unbedingt hinaus, wenngleich auch in meiner Intention Zusammenhänge bestehen. Hinzu kommt, daß die jungsten Begebenheiten im Gesellschaftsspiel schöne neue Welt Analogien assoziieren: «[...] gründet sich auf die vollständige Erneuerung der menschlichen Sensibilität als Folge der großen Entdeckungen [...].»
Filippo Tommaso Marinetti: Die drahtlose Einbildungskraft

Alles weitere morgen. Oder übermorgen. Oder überübermorgen. In der Zukunft halt. Wenn die Muse wieder anspringt.


nnier   (24.11.10, 09:37)   (link)  
Diese Reihe habe ich, wie so vieles aus dem Fernsehen, doch tatsächlich vergessen. Und sie wirkt in der Erinnerung so anachronistisch wie minutenlange Standbilder ("Gleich geht's weiter ...") oder so etwas wie ein Sendeschluss: Ein abgefilmtes Bild, an das langsam heran- und von dem dann wieder weggezoomt wird, dazu langsame Kamerafahrten von links nach rechts oder umgekehrt - und einige, manchmal erhellende, Worte zu Künstler und Werk.


jean stubenzweig   (24.11.10, 11:49)   (link)  
Ja, aus der Zeit gerutscht
scheint sie. Aber an meinem Verständnis von Lust am Wissen hat sich ohnehin bis heute nichts geändert; und das wird auch so bleiben, solange mir keine besseren Angebote vorliegen. Diese zunehmenden Geschwindigkeiten allüberall tragen doch keinesfalls zu mehr Gehalten bei. Auch im Spielfilm bevorzuge ich nach wie vor Ihre Aussage: «Ein abgefilmtes Bild, an das langsam heran- und von dem dann wieder weggezoomt wird, dazu langsame Kamerafahrten von links nach rechts oder umgekehrt.» Und am ehesten unterhält mich dabei auch noch, wenn ständig gequasselt wird, etwa wie bei Eric Rohmer (dessen Wintermärchen übrigens dieser Tage bei arte wiederholt wurde, ich es mir angeschaut habe, obwohl es sich in meinem Regal befindet; und ich war so angetan wie vor fast zwanzig Jahren).

In dem oben angesprochenen Fall kommt hinzu, daß ich mich bei dem vortrefflichen Beitrag (ja, da gibt es enorme qualitative Unterschiede) über das Bild von Balla tatsächlich im Siècle des Lumières, erhellt wähnte, da er den mittlerweile auch bei mir unter der Asche dieses sozusagen fortschreitend spuckenden Fortschrittvulkans verschwindenden Bereich ausgeleuchtet, mir die Erinnerung zurückgebracht hat an das, womit ich mich mal intensiv beschäftigt habe, etwa in der Weise:

«Wer ist noch nicht der Faszination perfekt, perfektionistisch gestalteter Produkte erlegen?! Einer eleganten Hochhaus-Spiegelfassade etwa, einer ‹schwerelosen›, gelassen gespannten, kilometerlangen Autobahnbrücke, der ‹Erotik› einer Concorde oder eines anderen Flugkörpers — einer Rakete möglicherweise. Der Kontrollturm eines Kernkraftwerkes, das Röhrengewirr einer Raffinerieanlage (vielleicht auch das des Céntre Beaubourg in Paris), das kinetische Spiel von Computerbändern oder gleisendes Neonlicht können schön sein, können Reize ausüben. Oft werden sie ästhetisch genannt und sind jedoch nicht mehr als ästhetizistischer Überschwang.»

Diese ganze Debatte um die Ästhetik, bei der die weitesten Teile der Bevölkerung(en) nach wie vor ohne jede Irritation im 19. Jahrhundert leben und davon auch offenbar nicht abrücken wollen. Ich hab's ja oft genug erwähnt: bloß keine Verletzungen dieser alten Wassermühlen, es lebe der jahrhundertealte Markt bis zurück ins Mittelalter, aber bitte mit fließend warm und kalt Wasser.

Diese Gedanken an Veränderungen, die einerseits angestrebt, aber genauso häufig abgelehnt werden, also der Stillstand im Fortschritt und andersherum sind es im wesentlichen, was mir den obigen Stoff geliefert hat, neue Überlegungen zu einem alten, sich in irgendeiner Weise wiederholenden, scheinbar lediglich in der Form der Wiedergabe variierenden Thema. Ich bleibe dran, aber, wie kurz zuvor erwähnt: morgen. Oder übermorgen. Oder überübermorgen. In der Zukunft halt. Wenn meine Muse Döschwo wieder rundläuft.


Im übrigen habe ich mich gefreut, Sie mal wieder zu Besuch gehabt zu haben.


jagothello   (25.11.10, 09:14)   (link)  
Pädagogischer Auftrag
Die Entschleunigung öffentlichen Wahrnehmungsverhaltens ist durchaus im Gange, wie ich zu beobachten meine. Die Zeiten rasender Filmschnitte und immer knapperer Sequenzen bsp. gehen zuende, jetzt, da MTV im Grunde pleite ist bzw. auf die "Digital-Plattform" von Sky (die nennen das wirklich so, ich kann es nicht ändern!) abwandert. Man stelle sich mal vor: Die Buddenbrooks stehen auf dem aktuellen NRW- Abitur-Lehrplan und zwar in epischer Breite und Länge. Surrogate sind da ganz tabu. Da brauchts langen Atem und tagelange Lektüre unterm Weihnachtsbaum. Verharren im Gedanken, aktiven Stillstand. Solche Mentalität herzustellen ist nunmehr pädagogischer Auftrag, nachdem sonst eher Kurzprosa angesagt war, gerne Lyrik und hier und da mal ein zügig zu rezipierendes Lust- oder Trauerspiel. Und: Tatsächlich 5 Sterne allerorten aus vollen Kinosälen für "social network"- geradezu provozierend dialoglastig, einfühlsam, langsam und actionarm. Vielleicht bin ich aber auch nur zu optimistisch!


jean stubenzweig   (25.11.10, 17:23)   (link)  
Über den Himmel
auf Fernseherden lästern Sie? Ich hab's auch bereits vergessen, wie der vor noch gar nicht so langer Zeit hieß. Aber ich bin ohnehin kein Abonnent von gar nix, und da ich auch nie MTV schau, entzieht sich auch diese Senderpleite meiner Kenntnis. Tatsächlich? Oder so herum gefragt: Sind die wirklich so maßgeblich bei der ästhetischen Erziehung? Ich stelle ja innerhalb deutscher Sendegrenzen nahezu ausnahmslos, also ausgenommen TV5 Monde oder wenn ich mich beim familiaren Gernsehabend klappehaltend unterordne, öffentlich-rechtlich fest, wie da rumgeaast und -gerast wird. Da scheint mir nun wirklich niemand auf die Bremse zu treten, allenfalls bei serieller Langeweile; aber das ist vermutlich nicht mit Entschleunigung gemeint oder eine Mißinterpretation. Und da ich überhaupt ziemlich dumm oder auch massenmedienpsychologisch ungebildet bin und nicht wirklich weiß, was «social network» bedeutet: «Volle Kinosäle, dialoglastig, langsam, actionarm»? Ernsthaft? Ich weiß das nicht, weil's mich vorm Kino graut. Mein schadhafter Kopf macht bei diesem Lärmbrei nämlich nicht mit (Überbleibsel von Trommelfellschäden der Kindheit, weshalb der vielen ununterscheidbaren Nebengeräusche wegen Kino mittlerweile für mich krachendes Höchstleid darstellt, dem ich mich deshalb seit etwa acht Jahren nicht mehr aussetze, da dort der Krachpegel immer weiter nach oben auszuschlagen begann, nicht nur beim Mampfen aus der Tüte; und ich das gemütliche Pressekinolein mit den paar Leutchen drin gewohnt war).


jagothello   (25.11.10, 19:33)   (link)  
Ja, das geht nicht!
Das sind böse Bildungslücken! Also: MTV ist/war in den 90er Jahren absolut stilbildend- da gibt es überhaupt kein Vertun. Der Sender hat den Videoclip zur Kunstform erhoben, weshalb dieser dann, ebenda, stetig weiterentwickelt wurde. Es gab sehr schöne Ergebnisse, z.B.Peter Gabriels sledgehammer, das Ende der 80er nichts weniger als revolutionär war, produziert, wie so vieles, für die sich bildende MTV-Gemeinde. Das war schon alles recht einflussreich, viel rezipiert. Ich hatte damals das oft genug zweifelhafte Vergnügen, unter den RTL plus (so hieß das ja mal)- Kreativen zu dilettieren und hier war solche "Lektüre" eine der Pflicht. In der Jugend sowieso. Tja, und "social network"?! DAS social network ist natürlich facebook und so erzählt der Film den Gründungsmythos- das aber eben doch sehr, sehr unaufgeregt. Trommelfellschäden sind hier nicht unbedingt zu befürchten.















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