Charon, alter Schwerenöter.

Luca Giordano: Die Barke des Charon, Palazzo Medici Riccardi, Firenze; Abbildung: Wikipedia


Nach der vollständigen Solarisation wurde die Revolutionskate nun auch fernsehisch revolutioniert. Seit einigen Tagen ist auch mein TeVau digitalisert. Ich wollte das nicht, von ein bißchen Französisch vielleicht abgesehen. Aber offensichtlich sind die ursprünglichen Fernsehverweigerer Madame Lucette samt Gatten nach der Betriebsübergabe an den äußerst vitalen Sohn nicht mehr so reisefreudig wie früher und wollen deshalb wenigstens hin und wieder mal nachschauen, was es so gibt an linksrheinischen Nouvellen des Tages. Über die Schrecklichkeiten dieses TV-Angebots lasse ich mich möglicherweise später mal aus, aber zunächst stelle ich die Partizipation fest: Nun kann auch ich in die Welt von TV5Monde schauen, einmal nur für Europa, also Belgien, Frankreich und die Schweiz, aber über einen weiteren Kanal auch mondial, und als einen außerordentlich überraschenden Randgewinn möchte ich Telesur bezeichnen. Da gibt's Sachen zu sehen, die auch in der Wiederholung fernab liegen vom US-amerikanischen TV-Kolonalisationsideal.

Eine wunderschöne Frau kroch zu mir ins Boot, kam über mich. Nein, nicht so direkt auf mich drauf, eher kroch sie in mich hinein. Archäologin, Tochter eines Juden aus Prag und einer vermutlich andersgläubigen peruanischen Mutter von möglicherweise inkaischem Blut, stand in der Wüste nördlich von Lima und erzählte. Anfänglich bekam ich gar nicht so recht mit, wovon sie sprach, einfach nur anschauen wollte ich sie, diese Vollendung der Schönheit, wie sie meines Erachtens nur eines zuwege bringt: die Durchrassung. Nein, das darf man nicht mehr schreiben, nenne ich's also Multikulti, das ist obendrein historisch Jahrhunderte älter, nicht nur als das Gestöhne von dessen Tod. Nun, ich kam, zu mir, zur Besinnung und hörte der etwa sechzig-, möglicherweise fünfundsechzig- oder auch siebzigjährigen Ruth Shady auch zu. Über das Alter und die Schönheit referierte sie. Nein, nicht über sich. Solche Eitelkeiten dürften ihr fremd sein, dazu kam sie zu intelligent und gebildet (nicht im heutigen notenverteilenden pisianischen, also euroglobalen Verständnis, sondern eher im klassischen humanitären Sinn) bei mir an. Um die älteste Kultur Amerikas ging es, um das fünftausend Jahre alte Caral in Peru, die sie gerade am ausgraben ist. Ich war hingerissen, nicht nur von ihr. Auch die Vorstellung riß mich, was in diesen Kleingeistern an Europäern vorgegangen sein mußte, als sie sich aufmachten, die Welt zu kolonalisieren und im Namen eines Gottes zu missionieren, der nach den den heutigen Forschungen seiner Kreationisten etwa zu dieser Zeit innerhalb rund einer Woche die Erde geschaffen hat. Auf daß sie am Sonntag alle aufs Rad steigen. Das die Sumerer erfunden haben — bei denen Schriftzeichen gefunden wurden, die eine Ähnlichkeit zu den um einiges älteren von Caral aufweisen.

Überhaupt mache ich mir seit einiger Zeit zusehends mehr Gedanken über das Alter. Nicht unbedingt über das meine. Darüber denke ich nicht nach; vermutlich macht mich das zeitlos, oder ich bin längst tot. Eher über das derjenigen, die es immer wieder, gerne in Blogs, von einem leicht gequälten Stöhnen begleitet erwähnen, dahingehend, daß sie hineingekommen seien in es. Mit Mitte vierzig, aber durchaus auch bereits mit Ende dreißig. Seit längerer Zeit lese ich das ständig. Anfänglich hielt ich das für mehr oder minder scherzhafte Äußerungen von Menschen, deren Kindheit zur Neige geht. Vermutlich verhält sich das im wesentlichen auch so, aber oft genug wird deutlich, wie ernst es vielen damit ist. Zunehmend mehr Menschen dieses Alters beklagen, am Ende der Leiter in Richtung des Styx angekommen zu sein. Das sind keineswegs nur Frauen und auch nicht nur solche vom Land, wo, trotz vielfältiger Möglichkeiten Zustände zu herrschen scheinen wie im moralisch überversorgten 19. und auch noch 20. Jahrhundert. Mädchen ab etwa siebenundzwanzig starren dort nach wie vor angstvoll auf das sich schließende Tor mit dreißig. Das bleibt anscheinend haften, auch dann, wenn sie längst der anheimelnden Kleinstadt entflohen und in den Randzentren der Metropolen angekommen sind. Es sind häufig keine mit jahrzehntelanger Erfahrung an der Arbeitsfront, sondern solche, die voraussichtlich noch etwa zwei bis drei Jahrzehnte haben bis zur Rente; wenn deren Berechtigung und es sie überhaupt noch geben oder sie bis dahin nicht längst auf achtzig frische Lenze angehoben sein wird. Den Herren, deren Rippen ja Modell gestanden haben sollen, geht es jedoch nicht viel anders. Die strampeln sich, im besten Wortsinn, mächtig einen ab, um nicht nachdenken zu müssen, schon gar nicht über ihr Leid, mit vierzig oder fünf Jahren mehr, also in Kürze den Fährmann anrufen zu müssen, auf daß er sie über den Fluß setze.

Nun mag ich qua Bestimmung etwas anders geprägt sein mit meiner bei meiner Geburt vierzigjährigen Mutter und ihrem fast dreißig Jahre älteren Mann, mit dem sie obendrein noch nicht einmal verheiratet war. Zur Verdeutlichung: 1904 beziehungsweise 1875 kamen die beiden zur Welt. Diese zu dieser Zeit tatsächliche Sensation namens Gefahr für Mutter und Kind alias Stubenzweig mag ihren Niederschlag gefunden haben in der Erbmasse, habe ich doch mit vierzig erst so richtig losgelegt. Jedenfalls beruflich. Das andere hatte ich familienuntypisch bereits zuvor erledigt, stand also beziehungsweise zudem in einem anderen, weit offenstehenden «Zeitfenster». Sogar über die unmittelbare Verwandtschaft wurde mir unlängst belegt, wie problemlos das ist mit dem Kinderkriegen und dennoch vorher wie nachher beruflich im Saft zu stehen. Ein wenig mögen andere dabei auch beispielhaft mitgewirkt haben, denn auf einige meines Freundes- und Bekanntenkreises schien sich diese Erkenntnis bereits zuvor ausgewirkt zu haben. Ein nicht unerheblicher Teil der Damen bekam schon in den neunziger Jahren anfänglich des vierten Lebensjahrzehnts seine Kinder. Ich kenne es also sozusagen nicht anders. Und auch bei der fündundvierzigjährigen Inselfreundin, besamt vom Gatten und Erzeuger der mittlerweile über zwanzigjährigen gemeinsamen Tochter, schlupfte der originale Wikinger vor kurzem rascher hinaus, als ein Küken sich aus dem Ei zu hacken vermag. Aber möglicherweise macht man sich in Island andere Gedanken. Oder überhaupt keine.

Ich sollte das vielleicht auch tun, mich einfach in meine Badewanne da unten legen und schlicht ein bißchen mit dem alten Fährmann über die all schönen Frauen plaudern, die er da immer so an Bord hat in seiner ollen Jolle namens Hölle.
 
So, 12.12.2010 |  link | (2655) | 0 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Ich schau TeVau















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