Carne vale

Heute, nachdem ich vor dem Nickerchen in die Stunksitzung hineingeraten und tatsächlich gelacht habe, als Moses die Heiligen Lobbyisten anschleppte, auf daß der Liebe Gott hoch oben auf einem Turm aus Pfeffersäcken (?) stehend die zehn Gebote neu verkündete und in Stein meißeln ließ, will ich eingefleischter Anti-Faschingst mich beteiligen. Nein. Ich verstehe diese seltsamen Rituale nicht einmal annähernd. Noch immer sitzt der Schock tief in mir, den ich Anfang der Siebziger erlitt, als ich an einem Karnevalsfreitag in Aix-la-Chapelle das Hotel verließ, um gemütlich einen Kaffee trinken zu gehen. Ich hatte die abendlichen Warnungen der Dame an der Reception ignoriert. Diese verzerrten Gesichte anläßlich meines mehrfach geäußerten Getränkewunschs werde ich mein Lebtag nicht vergessen, dachte ich doch, die wollen mich, bevor sie mich runterwerfen in Charons Vorgarten, vorher noch massakrieren. Dabei hatte ich, aus London kommend, meine Bahnfahrt nach Berlin lediglich unterbrochen, um mir die heiligste Architektur dieser Stadt anzuschauen. In die war ich anschließend geflüchtet. Aber selbst dort hatte man Pappen an der Nase und auf dem Kopf und war überhaupt von seltsamer Fröhlichkeit.

Nun, ich habe auch nie dieses Cowboy und Indianer gespielt. Ich fand das immer sehr langweilig. Vielleicht, weil mein geologischer Vater sein Söhnlein ein paarmal zu den Indios hinauf in die sieben Berge mitgenommen hatte. Aber nachdem ich bei MelusineB, deren Protokolle zu ihren Gleisbauarbeiten ich ohnehin immer sehr gerne lese, heute deren Maskeraden verfolgt habe, beginne ich wenigstens so langsam zu verstehen, weshalb ich mich von klein an unter Mädchen immer irgendwie wohler gefühlt habe als unter faden Meinesgleichen:
„Warum verkleidest du dich nicht als Indianer oder als Cowboy?“, fragte meine Mutter, als ich ihr mein Leid klagte. „Ich will nicht immer an den Pfahl gebunden werden.“ Ich bin kein Mann. Warum muss ich das sagen? Sie weiß es doch. Ich will auch keiner sein. Ich will eine Frau sein, die mit der Faust zuschlägt.“
Ich danke für diese wunderschöne Auslegung des Karnevals und verleihe Ihnen hiermit den ortsunüblichen Orden für den tierischen Ernst.
 
Fr, 04.03.2011 |  link | (1970) | 3 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Gesellschaftsspiele


jean stubenzweig   (05.03.11, 08:41)   (link)  
Zu erwähnen vergaß
ich, daß ich bereits als Kind lieber lieblich mit Puppen gespielt habe. Diese Neigung setzte sich fort in meiner adoleszenten Phantasie (ich war schon immer ein Spätentwickler), mündete in die Beschäftigung mit dem Marionettentheater und hält bis heute an: Une poupée vaudou jugée attentatoire à Sarkozy mais pas interdite à la vente.


melusineb   (05.03.11, 13:27)   (link)  
Melusine Barby dankt!
Spiele: Mein Bruder und ich spielten mit Puppen und Cowboy und Indianer, beide. Der ganze Mist (mit der Geschlechtereinteilung) kam erst auf, als mein ältere Cousin einstieg. Den hatten sie schon verdorben!


jean stubenzweig   (06.03.11, 11:24)   (link)  
Dieses Spielchen an sich
empfinde ich als trotz Frühgeborenheit (wenn auch, nach deutschaltkanzlerischer Persepktive, gnädig spät genug dran) glücklicherweise verhältnismäßig ungeteilt Aufgewachsener haarsträubend in seiner Ausrichtung nach hinten. Kolonialistische Altherrenphantasien. Und die werden gerade wieder erneuert.

Aber das ist ein neues Fäßchen. Ich reiße es lediglich an, weil es auch von und bei Ihnen thematisiert wurde und eben alles miteinander zusammenhängt, nenne ich's aus aktuellen Gründen jetzt hier mal Feminismus in der Vorphase der fleischlosen Zeit. Die nächsten Tage mache ich's dann auf: die unerotische Blickesammlung eines Mannes, der seine Kindheit nicht nur mit Maria Callas, sondern auch noch mit der mütterlichen Entrückheit angesichts Josephine Baker zu leben hatte, die offensichtlich gerade aus dem Altertum heraus raubkopiert wird. Nur soviel fürs erste:

Da erzählte mir doch tatsächlich ausgerechnet der deutsch-französische Bildungssender, die «neue» Mode des Rüschenstriptease im Touristenhochquartier Sankt Pauli habe indirekt etwas mit Frühaufklärung zu tun: Das Pin-up als solches sei ein Symbol für aufkommende sexuelle Freiheit. Dabei ist das Gegenteil der Fall: ein Schritt zurück ins (nicht nur) US-amerikanische Verhüllen.















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Jean Stubenzweig motzt hier seit 6023 Tagen, seit dem Wonne-Mai 2008. Letzte Aktualisierung: 07.09.2024, 02:00



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