Europa und die Arbeit

Es sind wahrhaftig keine Schalmeienklänge, die in meinen Erinnerungsohren, aber auch im aktuellen Getöse klingen.

Da klingt einmal zwar in meiner Vergangenheit Liegendes, aber dennoch Unvergeßliches durch, als es so richtig losging mit dem definitiven protestantischen Arbeitsethos. Es gab schrecklich viel zu tun, vom oberen hanseatischen Mittelbau an aufwärts brach ein kaum faßbarer Aktionismus los, der in manchem Gesicht das Kuhglück des Vielbeschäftigen hinterließ. Die kalte Mauer war eingerissen, und alles schwärmte aus, um aufzukaufen, was es aufzukaufen gab, und sei es für eine Mark pro Liegenschaft (an der allerdings manch eine Million und auch ein bißchen mehr an tatsächlichem Wert hing). Rasch trieb der Kaufrausch den Arbeitssamen weit über die Grenzen der DDR hinaus, um unter anderem in sich abzeichnendem mittelwestlichen Neudeutsch als Joint Ventures die Märkte zu beheizen. Selbst ich, der ich mich auf Marktplätzen allenfalls dann gerne aufhalte, wenn es Leckeres zu erstehen und möglichst viel zu plaudern gibt, mußte mit los bis hinauf in die Tage meiner späten Kindheit, wo sogar im hohen Norden es als Nebeneffekt treuhänderischer Händeleien noch mehr oder minder intakte Wracks zu besichtigen gab, die sich dazu eigneten, auf irgendeine Weise vermehrwertet zu werden. In Lahti und bei Kuopio befanden sich zwei Druckereien mit angeschlossenem winzigen Verlagsgeschäft, die zwar ziemlich pleite waren, aber meinten, auch noch auf den Zug der allgemeinen Aufbruchstimmung hüpfen zu können. Die Globalisierung ist zwar Jahrtausende alte Geschichte und handelstechnisch soweit auch gelassen zu betrachten, aber die Mauerspechterei der Ostgrenzen hatte offensichtlich ein Loch geschaffen, durch das sich ein nicht mehr überblickbares Heer an Raubrittern auf den Weg machte. Als fünf Jahre nach 1985 das zweite in diesem luxemburgischen Dörfchen getroffene Abkommen unterzeichnet war, ritt alles los, bis hin zu denen, die irgendwie noch einen alten Klepper fanden, auf denen sie sich fortbewegen konnten, um an irgendeinen Handel zu kommen. Voller Stolz seligten vor allem deutsche Gesichter pausenlos ihr Glück, viel Arbeit zu haben. Sie konnten gar nicht genug kriegen, jedenfalls diejenigen, die Geschäfte machten. Die anderen gingen zunächst wie gehabt ihrer mehr oder minder gemütlichen Wege. Aber es sollte nicht lange dauern, bis auch sie das einholen sollte, was ich gerne Euroglobalisiererei nenne.

Zwanzig Jahre später bekamen sie von der Befehlshaberin der Internationalen Volksarmee des europäischen Geldes, von dieser landpomeranzigen Pastorentochter aus der Uckermark, die außerplanmäßige Glücksgefühle nur dann kennt, wenn liquidiert wird oder sie mal Küßchen auf Wängchen oder ihr offenes Herz gegeben wird, Puritanisches ins Gesangbuch geschrieben. Dabei wurde die Verwandtschaft mit den Gründern jener vereinigten Staaten deutlich, die sich einst aufmachten, nichts zu tun, als zu arbeiten und zu arbeiten, allenfalls noch das Geld anderer für sich arbeiten zu lassen. Man könnte meinen, das sei schließlich ein evangelischer oder meinetwegen evangelikaler göttlicher Befehl. Einfach nur so herumsitzen, das ging ja nun wirklich nicht. Der geschätzte Sargnagelschmied hat es vorgestern punktgenau benannt: Beispielsweise «der Grieche tanzt den ganzen Tag nur Sirtaki, schlürft den Ouzo und Retsina in sich rein, und macht ansonsten Siesta».

Gerademal gut zehn Jahre ist es her, daß sogar im gegenüber der Weltmetropole Berlin zugestandenermaßen ziemlich provinziellen Paris nicht nur der gemeine, sondern auch der gehobene Franzose mittags im Büro den Anrufbeantworter ein- und das Telefaxgerät ausschaltete, um im Bistrot seine vier Gänge zu sich zu nehmen (weitere sechs würde es am Abend geben). Heute sind dort die meisten dieser wundersamen Restaurationsstätten abgewickelt. Alleine 2002 gingen davon rund zwanzigtausend ein, weil das, was von vielen vereinigtes Europa der verschiedenen Ethnien oder auch Mentalitäten genannt wird, vom Diktat einer Ideologie plattgewalzt wurde, wie sie lebensfeindlicher nicht sein kann. Chat Atkins verdeutlichte seine oben erwähnte Anmerkung noch, indem er anmerkte: «Es wäre doch ganz einfach, Frau Merkel — [...], übertragen Sie einfach die deutsche Rentenformel, das deutsche Gesundheitssystem und das deutsche Pensionssystem auf alle anderen europäischen Länder ... »

Es scheint dieses Deutschland, vor dem viele Angst hatten, als es sich formierte, an dessen Wesen Europa genesen soll. Es ist dieses Land, in dem als einzigem noch die freie Fahrt für freie Bürger nicht nur über Grenzen gilt, in dem es noch immer keinen nennbaren Mindestlohn gibt, das die Arbeitslöhne niedrig hält, um für ungemeine Exportüberschüsse zu sorgen, die andere finanziell in die unterste Etage zwingen, die nicht den ganzen Tag mit stolzgeschwellter Brust herumtönen, sie hätten ach soviel zu tun, das mich zum Skeptiker hat werden lassen. Es gibt noch andere Menschen, die unter Markt etwas anderes verstehen als Billigheimerschnellfraß und sonstige Raserei, überhaupt Gewinnmaximierung. Und ich sehe nicht ein, warum ich den ganzen Tag an nichts anderes denken soll als an Arbeitssamkeit. Es ist schlimm genug, daß dieses Europa es zuläßt, die Sklaverei wieder einzuführen. Ich klinke mich lieber aus und mache Siesta.
 
Fr, 20.05.2011 |  link | (4210) | 3 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Ansichten


kopfschuetteln   (22.05.11, 08:55)   (link)  
ich klinke mich ein mit ein paar gedanken (in gewohnter kürze).
leben um zu arbeiten, ein ziemlich sinnloses unterfangen.
bildung? nur für den zweck.
kunst? nur, wenn sie sich lohnt.
freiheit? für den konsum und das kapital.
ich finde, das ist ein seltsamer wohlstand.


daniel buchta   (24.05.11, 22:05)   (link)  
Genieße!
Im Jahre 1849 sagte Herr Thiers als Mitglied der Kommission für den Elementarunterricht: «Ich will den Einfluß des Klerus zu einem allgemeinen machen, weil ich auf ihn rechne in der Verbreitung jener gesunden Philosophie, die dem Menschen lehrt, daß er hier ist, um zu leiden, und nicht jener anderen Philosophie, die im Gegenteil zum Menschen sagt: Genieße!» Herr Thiers formulierte damit die Moral der Bourgeoisie, deren brutaler Egoismus und deren engherzige Denkart sich in ihm verkörperte.

Als das Bürgertum noch gegen den von der Geistlichkeit unterstützten Adel ankämpfte, pflanzte es das Banner der freien Forschung und des Atheismus auf; kaum aber hatte es sein Ziel erreicht, so änderte es Ton und Haltung; und heute sehen wir es bemüht, seine ökonomische und politische Herrschaft auf die Religion zu stützen. Im 15. und 16. Jahrhundert hatte es fröhlich die Überlieferungen des Heidentums aufgegriffen und des Fleisches und dessen Leidenschaften, diesen ‹Greuel› in Augen der christlichen Moral verherrlicht; heute dagegen, da es in Reichtum und Genüssen aller Art fast erstickt, will es von den Lehren seiner Denker, der Rabelais und Diderot, der Lessing und Goethe, nichts wissen und predigt den Lohnarbeitern die Lehre von der Enthaltsamkeit. Die kapitalistische Moral, eine jämmerliche Kopie der christlichen Moral, belegt das Fleisch des Arbeiters mit einem feierlichen Bannfluch: ihr Ideal besteht darin, die Bedürfnisse des Produzenten (das heißt des wirklich Produzierenden) auf das geringste Minimum zu reduzieren, seine Genüsse und seine Leidenschaften zu ersticken und ihn zur Rolle einer Maschine zu verurteilen, aus der man ohne Rast und ohne Dank Arbeit nach Belieben herausschindet.»
Aus: Paul Lafargue, Vorwort zu Das Recht auf Faulheit, Verlag Monte Verita, Wien, o. J. , S. 5ff.


jean stubenzweig   (25.05.11, 11:05)   (link)  
Aktuell klingt es ja
nach wie vor, wie bereits seinerzeit im LF, und deshalb wohl wird es auch immer wieder gerne herbeizitiert, vor allem von solchen, die die Streitschrift von Lafargue im Gesamten nicht kennen, wie diejenigen, die ständig Beau-père Marx erwähnen, ohne je mehr als einen Absatz gelesen zu haben, die die documenta niedermachen, ohne sich je mit Kunst beschäftigt zu haben. Und so weiter. Diese Assoziationen vermiesen mir die ohnehin vomArbeiterkampf, des Elends des 19. Jahrhunderts geprägten, allerdings obendrein nicht ganz so konsequent belegten Gedanken meistens ein wenig. Das mag damit zu tun haben, daß sich gerne solche mit auf dieses Trittbrett schwingen, denen geschichtliche Zusammenhänge ansonsten sonstwo vorbeigehen und diesen unter Ismus firmierenden Begriff letztendlich doch wieder in eine irgendwie untergründig geheime religiöse, meinetwegen andersgeartete spirituelle Mission umformulieren. Und ein wenig gestört hat mich daran auch immer, daß ausgerechnet Diderot und Rabelais für eine Kritik an den «Fürstenknechten» herhalten müssen. Ohne ersteren beispielsweise wären die meisten doch heute noch ahnungslos (ach was, sie sind's ja). Genießen? Rabelais zum Beispiel wäre ein Fall dafür. Gut, auch er war ein von den (Kirchen-)Fürsten Begönnter. Aber wer war das nicht in dieser Zeit? Und verspottet hat er sie auch noch, seine Gönner. Wofür er als Ketzer auch (ein bißchen) verfolgt wurde. Nun ja, ich mag das. Aber ich fühle mich auch nicht eben in einem romantizistischen Ismus geborgen.















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