Deutschland braucht Arbeitslose

Der Rückgang der Bevölkerung in Deutschland beschleunigt sich. In den vergangenen zwei Jahren habe der negative Trend endgültig eingesetzt, hieß es in einer 2007 in Berlin vorgestellten Studie zur demographischen Entwicklung. Die ohnehin schon niedrige Geburtenrate sei weiter gesunken. Derzeit bringe jede Frau in der Bundesrepublik durchschnittlich nur noch 1,36 Kinder zur Welt.

«Damit ist Deutschland Spitzenreiter im negativen Sinn», sagte der Direktor des Berlin-Instituts für Bevölkerung und Entwicklung, Reiner Klingholz. Sein Kollege Hans Fleisch ergänzte: «Die negative demographische Entwicklung Deutschlands nimmt an Geschwindigkeit noch zu.» Die Zahl der in Deutschland geborenen Kinder wird nach den Erwartungen des privaten Instituts bis 2050 immer weiter abnehmen. Dann würden in der Bundesrepublik nur noch etwa halb so viele Kinder geboren wie heute.
Colloquium in utero
Ein trüber Herbsttag im Mutterleib. Zwei Stück Zwillinge, Erna und Max, legen sich bequem und sprechen leise miteinander.
— «Mahlzeit!»
— «Mahlzeit! Na, gut geschlafen ... ?»
— «Soweit man bei diesem Rummel schafen kann — es sind bewegte Zeiten. Ich träume dann immer so schlecht.»
— «Was hast du bloß?»
— «Du bist gut! Was ich habe! Hier, hast du das gelesen, im Reichsverbandsblatt Deutscher Leibesfrüchtchen?»
— «Nein. Was steht da?»
— «Da steht: Warnung vor dem juristischen Studium. Fünfzigtausend Primaner legen die Reifeprüfung ab. Hundertunddreißigtausend stellenlose Akademiker, es kann auch eine Null mehr sein, ich kann das bei der Beleuchtung nicht so genau unterscheiden. Warnung vor dem Veterinär-Studium. Warnung vor Beschreitung der Oberförster-Laufbahn. Warnung ... und so geht das weiter.»
— «Na und?»
— «Na und ... du dummes Keimbläschen! Willst du mir vielleicht sagen, was man denn eigentlich noch draußen soll? Nun fehlt nur noch die Warnung vor einem Beruf!»
— «Vor welchem?»
— «Vor dem eines Deutschen. Aber, wenn das so weiter geht: ich bleibe hier.»
— «Ich gehe raus.»
— «Warum?»
— «Weil es unsre Pflicht ist. Weil wir heraus müssen. Weil im Kirchenblatt für den Sprengel Rottenburg und Umgebung steht: Das Leben im Mutterleibe ist heilig. Lieber zehn Kinder auf dem Kissen als eines auf dem Gewissen, steht da. Und die Präservativ-Automaten sind auch aufgehoben. Wir stehen, mein Lieber, unter dem Schutz der Staatsanwaltschaft und der Kirche!»
— «Draußen?»
— «Nö, draußen nicht. Bloß drin.»
— «Na, da bleib doch hier!»
— «Wir haben nur für neun Monate gemietet, das weißt du doch!»
— «Es ist, um sich an dem eignen Nabelstrang aufzuhängen! Ich für mein Teil bleibe drin!»
— «Du bleibst nicht drin. Sei froh, daß wir nicht dreie sind, oder vier, oder fünf, oder sechs ... »
— «Halt! Halt! Wir sind doch nicht bei Kamickels!»
— «Es ist alles schon mal dagewesen, Deutschland kann keine Kinder ernähren, nur Kartelle. Deutschland braucht Arbeitslose!»
— «Ich bleibe drin.»
— «Ich geh raus!»
— «Du gehst nicht raus! Streikbrecher!»
— «Pergamentfrucht!»
— «Dottersack!»

(Gestrampel)
Die Mutter: «Was er nur hat —?»
Kurt Tucholsky: Zwischen Gestern und Morgen, Rowohlt Verlag, Reinbek 1952, S. 136 und 137; Gesammelte Werke Band 10, S. 56 f.; Erstveröffentlichung 1932
 
Mi, 08.06.2011 |  link | (3002) | 3 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Kinderkinder


kopfschuetteln   (09.06.11, 11:07)   (link)  
das ist einfach herrlich, herr stubenzweig.
auch wenn es nicht schön ist, es könnte zumindest beruhigen: es ist alles schon mal dagewesen
danke fürs nachlesen!


prieditis   (09.06.11, 12:17)   (link)  
Mir gefiel
vor allem der hübsche Sinnspruch mit Kissen und Gewissen...


jean stubenzweig   (09.06.11, 14:29)   (link)  
Das waren Zeiten,
als man fürs Lesen noch bezahlte (und auch fürs Nachdrucken nahm Rowohlt vor gut fünfzehn Jahren auch von Kleinverlagen wie von den Großen). Aber man tat's gerne, und ich tät's auch heute noch, denn wer hätte im schillerschen Sinn je so listig, also unterhaltsam die Wahrheit (vorausblickend) verbreitet? Auch nach Jahrzehnten bin ich immer wieder überrascht. So manches Mal stehe ich in Frankreich mit Tucholsky in der Hand, gehe ihm nach und staune über seine Aktualität. Alleine seine Beschreibung des kleinen, zwischen Quai du Port und Quai de Rive Neuve pendelnden Schiffchens Ferry Boat läßt den Eindruck entstehen, er habe sie gerade eben in ihr sitzend geschnipselt.

Hier jedoch sein Weitblick auf Deutschland in der Nacht, fast hundert Jahre voraus und fast (etwas despektierlich als aktuell [blind]därmlich assoziiert), also korrekt: die Appendix zu den obigen geplanten Arbeitslosen:
Angestellte
Auf jeden Drehsitz im Büro
da warten hundert Leute;
man nimmt, was kommt — nur irgendwo
und heute, heute, heute.
Drin schuften sie
 wies liebe Vieh,
sie hörn vom Chef die Schritte.
Und murren sie, so höhnt er sie:
«Wenns Ihnen nicht paßt — bitte!»
Mensch, duck dich. Muck dich nicht zu laut!
Sie zahln dich nicht zum Spaße!
Halts Maul — sonst wirst du abgebaut,
dann liegst du auf der Straße.
Acht Stunden nur?
Was ist die Uhr?
Das ist bei uns so Sitte:
Mach bis um zehne Inventur ...
«Wenns Ihnen nicht paßt — bitte!»

Durch eure Schuld.
Ihr habt euch nie
geeint und nie vereinigt.
Durch Jammern wird die Industrie und Börse nicht gereinigt.
Doch tut ihr was,
dann wirds auch was.
Und ists soweit,
dann kommt die Zeit,
wo ihr mit heftigem Tritte
und ungeahnter Schnelligkeit
herauswerft eure Obrigkeit:
«Wenns Ihnen nicht paßt —: bitte!»

Kurt Tucholsky (oder auch Theobald Tiger), im oben angegebenen Werk, hier mal noch genauer, in: Die Weltbühne Nr. 4, S. 127, verfaßt am 26.01.1926
















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