Umhüllungen musikalischen Begehrens

Es wird in unserer Überflußgesellschaft außerordentlich viel Überflüssiges dokumentiert, und das oft genug mehrmals. Nahezu jeder Verlag, der mit seinem Programm irgendwann einmal die bildende Künste streifte, meint, unbedingt noch ein Verzeichnis des Pablo Ruiz, am liebsten die (noch) guernicaferne blaue Periode, oder den zigtausendsten Jahreskalender nach dem allergrößten Baumeister des 20. Jahrhunderts auf den Markt bringen zu müssen. Schwer hingegen tut sich, wer Kleinode für die Nachwelt erhalten möchte und dafür einen Verlag benötigt, der für Produktion und Vertrieb verantwortlich zeichnet, also ein Risiko einzugehen bereit ist. In der Regel zucken vor einem solchen Wagnis die renommierten Verlagshäuser zurück.

Die schweizerischen Lars Müller Publishers in Baden haben dies nicht nur nicht getan, sondern sich hingegeben. Sie haben der edlen und hochwertigen Solitaire-Sammlung des Münchner Musik-Produzenten Manfred Eicher und seiner Firma ECM ein angemessenes Behältnis geschaffen und es unter dem Titel Sleeves of Desire — A Cover Story der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Lars Müller selbst hat dieses Unternehmen mit dem — dem Objekt der Begierde vieler adäquaten — Satz begründet: «Die Übersicht über die ECM-Covergestaltung der vergangenen 25 Jahre begeistert mich.»

Er ist es auch, der in der darauffolgenden Sentenz die Irritation vieler ausspricht, die vor diesem Faszinosum stehen: «Vor dem Hintergrund einer einschlägigen beruflichen Erfahrung als Gestalter macht sie mich in gewisser Hinsicht auch ratlos: Da breitet sich etwas aus, was doch offensichtlich visuelle Kommunikation darstellt und sich trotzdem einer Beschreibung nach den Kriterien der Disziplin widersetzt.» Dem letzten Teil der Müllerschen Aussage sei jedoch widersprochen: So manches Mal wird auch schon vor zehn, fünfzehn oder mehr Jahren ein anderer Begeisterter auf den abendlichen Kneipenbesuch verzichtet haben.


Einen kenne ich persönlich sehr gut. Wenn ich mich recht erinnere, war es 1973 (da existierte ECM Records bereits vier Jahre), als ich in einem Aachener Plattenladen Chick Coreas LP Return to forever in der Hand hielt, sie erstand — und so die fulminante Stimme von Flora Purim kennenlernte. Ähnlich ging es mir mit Ralph Towners Old Friends, New Friends, eine Platte, mit der ich verschiedene Besucher nervte, da sie immerfort kreiste. Und so manch ein Plattenkauf, zu dem mich häufig zusätzlich das Cover inspirierte, animierte mich zu einem Konzertbesuch — später vor allem zu den glorreichen Jazzer-Auftritten im Münchner Amerika-Haus, die der ehemalige Bassist mit Studium der klassischen Musik Manfred Eicher veranstaltet hatte.

Das Durchblättern dieses Kataloges bzw. das darin Verweilen fördert einen verblüffenden und doch zugleich logischen Effekt zutage, der die Brillanz dieses Design-Konzeptes unter Beweis stellt: den des Wiedererkennens. Auf Anhieb weiß der Freund der ECM-Produkte, welches er im Plattenschrank, im CD-Regal stehen hat und möglicherweise, welches er noch erstehen muß von den über 500 erschienenen Titeln, bespielsweise diejenigen, die einen Keith Jarrett mit dem Hilliard-Ensemble vereinen, Arvo Pärt und/oder ...

Es hat einige Versuche gegeben, diese Gestaltungs-‹Philosophie› (die mit dem Diktum von Paul Celan «alles ist weniger, als es ist, alles ist mehr» im Buch so treffend unterlegt ist) zu übernehmen. Doch dürften sie von der Konsequenz und der Stringenz, mit der Barbara und (dem verstorbenen) Burkhart Wojirsch sowie, seit 1978, Dieter Rehm die ECM-Cover ‹komponieren›, in die Schranken verwiesen worden sein. (So, wie man vielen Buchumschlägen ansieht, daß ihre Gestalter das Innenleben ihrer Produkte nicht studiert haben, ist bei vielen Plattenhüllen offensichtlich, wie wenig sich ihre Gestalter in die Musik einzufühlen vermochten; sie sind Designer, die das Produkt, die den Anspruch ihrer Profession nicht verstanden haben, der nach Ganzheit verlangt.)

Zu Recht schreibt Lars Müller in seinem Katalogbeitrag ‹Was zählt, ist der zweite Blick›: «Diesen Schallplattenhüllen ist eher mit der Sprache der bildenden Kunst beizukommen. [...] Einige dieser Cover zeigen Arbeiten von Burkhart Wojirsch oder gehen auf solche zurück; strukturale Malerei, minimalistische Interventionen auf der Fläche, einschliesslich deren Verletzung. Das Aufbrechen der Oberfläche macht die Hülle zu einer visuellen Membran, die das Hören und Sehen von Musik zwingend in Zusammenhang bringt. [...] Die [...] Cover sind Prototypen eines bis heute erfolgreichen Gestaltungsprogrammes; dessen Merkmale einer auf Reduktion beruhenden Bildauffassung lassen sich auf typografischen Cover ebenso nachweisen wie auf fotografischen oder auf frei künstlerischen. Das Fehlen von grafischer Effekthascherei und unbedingtem Informationszwang bestätigt das ECM-eigene Verständnis der Covergestaltung als künstlerische Disziplin.»

Entscheidend für diese ‹Musikumhüllungen› ist jedoch, daß, wie Müller in seiner Skizze der Arbeitsweise von Dieter Rehm anreißt, sie «nie ausdrücklich einen musikalischen Inhalt» andeuten. Es ist immer «das Ahnungsvolle, das Hinter-dem-Bild-Liegende, das die Gestaltung auf die Absicht zurückführt, Verpackung für Musik zu sein».

Diese Aussage erleichtert es auch, für dieses Werkverzeichnis die richtige Zuordnung im Bücherregal zu finden. Es wird seinen Platz unter den Design-Standards haben — auch oder gerade weil Peter Kemper (‹An den Rändern des Lauschens›, Peter Rüedi (‹Die hörbare Landschaft›), wie bereits erwähnt Lars Müller (‹Was zählt, ist der zweite Blick›) sowie Steve Lake (‹Looking at the Cover›) mit ihren Texten Verbindungen herstellen zwischen den Disziplinen, die in und um das Thema Musik greifen.

Im Hinblick auf die internationale Verkaufbarkeit eines Buches, das Standard sein will (und soll!), ist es nur richtig, die Texte in deutscher und englischer Sprache zu drucken. Um so unverständlicher wird es aber dann, wenn ein Text wie der von Steve Lake lediglich in Englisch erscheint. Hat der Autor sein Manuskript so spät geliefert, daß keine Zeit mehr war für eine Übersetzung durch Catherine Scheibert, die alle anderen Texte ins Englische übertragen hat? Sollte der (italienischen) Druckerei das Papier ausgegangen sein; hat sie sich in der Bogenkalkulation vertan?

Eine deutliche Grußadresse wegen ‹Typesetting and production› bzw. Layout soll an das Atelier Lars Müller bzw. an ihn persönlich gehen: Für eine Groteskschrift einmal Anführungen aus ebensolchem Fundus und zum anderen aus dem der Serifenschriften? Das ist eine unschöne Mischung. Wie man auch ein wenig sorgfältiger auf die teilweise häßlichen Sperrungen hätte achten sollen bzw. sie beseitigen; was ein Computer-Layout-Programm nicht mehr bewältigt, schafft ein selbst durchschnittlicher Lektor alle Male (wie es ihm überhaupt gelingen dürfte, die Einheitlichkeit von Schreibweisen et cetera herzustellen).

Genug der Erbsenzählerei. Es ist ein ansonsten sorgfältig gemachtes, übersichtliches, ja teilweise schönes Buch mit guten Farbabbildungen, das nicht nur Dokumentation ist, sondern dem Faszinosum ECM-Cover inhaltlich und formal durchaus verwandt ist.

Und deshalb lege ich jetzt, als CD (auch das Problem der Verkleinerung auf das CD-Format hat das ECM-Cover-Team gemeistert), auf: I Took Up The Runes mit Jan Garbarek, Rainer Brüninghaus, Eberhard Weber, Nana Vasconcelos, Manu Katché, Bugge Wesseltoft und Ingor Àntte Àilu Gaup und fahre ab — durch südliche Landschaften.

ECM — Edition of Contempory Music
Lars Müller Publishers, CH-Baden 1996
© Abbildungen: ECM

Flohmarkt: savoir-vivre, 1996


Nachtrag viele Jahre später, im Juli 2011: Längst wird das Buch selbst als edle Rarität gehandelt. Etwa von 200 Euro an aufwärts möchte manch einer dafür haben. Daß die Nachfrage auch nach so langer Zeit vorhanden ist, versteht sich angesichts der, wie Manfred Sack 1996 in der Zeit schrieb: «537 Titel in 37 Jahren, jedes Jahr also 14 Platten und manchmal eine mehr: ein kulturelles Wunder in einer profitgierigen Welt.» So verkaufe ich also ein kulturelles Wunder. Von 200 Euro an ist es zu haben. Wer möchte, der biete.

Wem das zuviel Geld sein sollte — es gibt ja noch die ECM-Webseite (die in ihrer unaufdringlichen Präsenz bereits eine Attraktion darstellt). Da sind sie dann unverhüllt zu sehen, die Hüllen des Begehrens. Na ja, nicht so ganz unverhüllt, sind die Texte doch ausschließlich in englischer Sprache verfaßt. Aber es geht letzten Endes ja um Musik. Und die muß nicht übersetzt werden ...
 
Mi, 20.07.2011 |  link | (3781) | 4 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Form und Sinn


bosch   (20.07.11, 16:07)   (link)  
Danke, ganz wunderbar. Wieder einmal mehr bedauert, mit kleinformatigen CD-Covern aufgewachsen zu sein. Künftigen Generationen, die mit Downloads groß werden, bleibt nicht einmal das.

Ich bin auch ein großer ECM-Freund. Dieses Label hat wirklich Großes geleistet und kann gar nicht genug gewürdigt werden. (Auch wenn ich der modale Skandinavienjazz in seiner Sterilität zuweilen langweilt.)


jean stubenzweig   (20.07.11, 20:07)   (link)  
Ein Kulturpilger bin ich
nun nicht gerade, so daß ich auf der Suche nach dem heiligen Gral ECM für das Santiago de Compostela halten würde, wie das bereits vor rund zwanzig Jahren die Appleianer getan haben (die sich heute so nennen, sind nichts als Markenfetischisten ohne Formfunktionsbezug; Hauptsache «Designermöbel» oder so). Aber durch die Freundschaft zwischen dem Jazz und mir kam es sehr früh quasi zwangsläufig zu dieser Begegnung, die mir überdies von Anfang an großen Respekt abforderte, da sie von Beginn an das Gesamtbild im Blickfeld hatte, das Kultur ohne Zusammenhänge nicht kennt. Spätere Gespräche mit Gestaltern haben mein frühes (Vor)Urteil bestätigt.

Ich bin schon gar kein Mensch eines Glaubensbekenntnisses im Sinn irgendwelcher religiöser Richtlinien, vor allem dahingehend, daß ich nun wirklich nicht unbedingt alles wieder rein vinylisch-elysisch, also Predigten aus lateinisch weihumrauchter Kanzel hören müßte. Dazu fehlt mir ohnehin das Gehör, womit nicht nur mein schlechtes gemeint ist. Ich verfüge noch über alle Gerätschaften von früher wie Spieler samt Platten et cetera; gleichwohl ich selbst den fünfundzwanzig Prozent Restgehör meines linken Ohrs den Schneewitchensarg nicht mehr zumuten möchte.

Mit «modalem Skandinavienjazz» zielen Sie vermutlich auf Jan Garbarek. Verbuchen wir's unter Geschmackssache. Was nicht heißt, daß ich darauf verzichten möchte. Aber ich esse ja auch Frosch- und schon gar keine Hähnchenschenkel aus Massenproduktion. Der Norweger hat für mich ohne jeden Zweifel einen besonderen, im Weltorchester durchaus für die Vielfältigkeit beispielhaften Klang ins ECM-Konzerthaus gebracht, und ich gehe davon aus, daß Eicher ihn deshalb so gepflegt hat. Ohne das erwähnte «kühle» Old Friends, New Friends mag ich mir eine Floßfahrt im Auto vom Doubs hinunter in den Mund der Rhône gar nicht vorstellen. Aber auch hier gilt, ähnlich dem oben, nicht in sich hineinlassen, was an «Mißbrauch in zahllosen Norwegen-Diavorträgen so abgegriffen» wurde. Es spielten James Galway und die Academy of St. Martin-in-the-Fields unter der Leitung von Sir Neville Marriner. Erstgenannten hat ein Freund mal «den André Rieu der Querflöte» genannt. Welche Grenzen des guten Geschmacks ...


bosch   (21.07.11, 00:43)   (link)  
Und dann diese Bilder zu dem Garbarek-Video. Da schmerzen einem gleich noch die Augen. Habe Garbarek seit Jahren nicht gehört, aber um bei weit hergeholten Vergleichen zu bleiben: Er ist der James Last von ECM.


jean stubenzweig   (21.07.11, 02:33)   (link)  
Diese Bilder entsprechen
eben genau dem «Mißbrauch in zahllosen Norwegen-Diavorträgen». Vergleichbar ist das mit der Geräuschkulisserie, in der Edward Grieg auch über die sanfte thüringische Landschaft streicht, weil der Fernsehreportageautor dort auch schon mal Wald, Wasser und Romantik gesehen hat. So gerät dann Jan Garbarek auch schonmal zum James Last.















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