Muttersöhnchen Martin

Da ich anderen ihre Schiffstagebücher nicht unentwegt vollkritzeln möchte, plaziere ich nach beinahiger Themenverfehlung meine ohnehin verspätete Antwort in die eigene Kladde.

Zur Rezeption seiner Bücher, vor allem dem vorletzten (?), habe ich mich nach der Elegie schonmal geäußert; das sollte reichen. Doch ich will ohnehin zunächst einmal die Gelegenheit für eine Retourkutsche nicht ungenutzt lassen, ein bißchen was aufzuwärmen, vor allem, nachdem ich dieser Tage mal wieder dem litarischen Quartett gelauscht und zugeschaut habe: Auch oder gerade der «Heim-ins-Reich-Ranitzky», wie Udo Steinke ihn mal nannte, mit seinen nicht weniger mehr oder minder zwischen Buchdeckeln versammelten Postghettodünkeln («Bäckersohn»; der Metzgersohn Franz-Josef Strauß: Haben Sie überhaupt Abitur?), mit seinen von kaum jemandem ernsthaft gebremsten oder auch zu stoppenden Vorliebereien zu einer seinerzeit noch recht jungen, aber geistig bereits seit langem verbeamteten Lyrikerin, deren egotherapeutischen Ergüsse (für mich) mindestens so langweilig zu lesen waren (es gab eine Zeit, da mußte ich das tun) wie andere sich von Walsers Spermaprosa anjejackert fühlten:
«Hat Goethe es verdient», fragt Laura, «daß man ihm so etwas an den faltigen Hals dichtet: ‹Aber da zwischen den weich und nachgiebig werden wollenden Lenden, sein Geschlechtsteil, das ein Leben lang den Ehrgeiz hatte, das Ganze zu sein. […] Er sollte nur noch wünschen und tun, was dieses Teil wollte.› Warum meint ein alter Mann, er könne sich prima in Goethe hineinversetzen, seine Gedanken denken, seine Ideen, seine Sprache nachformulieren? Soll Herr Walser doch ein Buch über seine eigene Altersgeilheit schreiben!»
Dieser Kritikerfürst oder -papst oder -könig mit seinen um ihn gereihten Hofschranzen, allen voran diese bereits als Adoleszenter zum Herrenwitz tendierende, Jungfleischeslust gewordene Humorlosigkeit, dieser unaufhaltsam Eitelkeiten ausspuckende Zeremonienmeister des Guten, Wahren und, meinetwegen, Schönen — ich weiß nicht so recht.

Ich habe meine Gedanken nochmal ein paar Runden durch meine Hirnschale drehen lassen: Warum soll ein altgewordener Mensch nicht lieben und übers Jenseits schreiben, weshalb soll er sich nicht, offenbar scheint das ohnehin in der Natur vieler Menschen zu liegen, über Glaubensfragen, über eine gegebenenfalls damit verbundene Theologie der Hoffnungslosigkeit Gedanken machen und die festhalten? Allein die Tatsache, ein berühmter Schriftsteller zu sein, zwingt ihn ja nachgerade dazu. Zum einen wäre da die Frage, ob er ausreichend geklebt hat, und zum anderen wäre eine Verlagsleitung betriebswirtschaftlich schlecht beraten, einen bekannten Namen nicht zur Mischkalkulation zu nutzen.

Mich interessiert das nicht sonderlich, hinzu kommt. daß in meiner Gedankenwelt sprituelle Bedürfnisse und aufgeklärte Menschen ohnehin Widerparts sind. Aber ich, der ich alles andere werden wollte als ein Muttersohn und es auch nicht wurde, nicht zuletzt, weil die Mutter dem Sohn ausreichend Gründe dafür lieferte, es nicht zu werden, kann mir durchaus vorstellen, daß ein lebenserfahrener Mann zu diesen Themata etwas umfassender beizutragen vermag als ein jungenhafter Pirat.

Ich habe Walser eine Zeitlang recht gerne gelesen. Aber alt bin ich jetzt selber, und das bißchen, das ich lese, kann ich mir mittlerweile selber in mein Erfahrungsbüchlein schreiben. So alt, daß ich mich wundere, wieviele junge Menschen sich trotz massenhafter Kirchenaustritte zusehends mehr für Spirituelles (und Predigten?) interessieren, obwohl Habermas mir spätestens seit den Achtzigern deutlich gemacht hat, die Moderne sei unvollendet; und damit bleiben die Fragen nach ihrer Bedeutung. Doch auch der ebenfalls im Ruhestand schaukelnde Sozialphilosophen-Papst schien bereits 2007 derart das Ende auf sich zukommen sehen, daß er in der Welt-Betrachtung kurz davor war, um einen atheistischen Rosenkranz zu bitten. Von wegen «postsäkulare Gesellschaft». Doch glücklicherweise habe ich gerade noch ein Rudiment wahrgenommen: «Ist die Renaissance der Religion eine Herausforderung für das säkulare Selbstverständnis der Moderne?» Trotzdem mag ich seither auch Habermas nicht mehr lesen, jedenfalls nicht diesen nach einem neuen (Gegen-)Theismus klingenden.

Ich scheine anders zu altern als andere. Manche nennen das gerne Altersstarrsinn. Es ließe sich jedoch auch als Haltung bezeichnen. Weshalb sollte ich mir den Rücken krummdenken lassen von Antworten derer, denen die geistige Osteoporose angesichts des herannahenden Endes das Gehirn brüchig gemacht hat, deren späte Fragen nach dieser Art von Sein mir obendrein vor längerer Zeit bereits beantwortet wurden. Aber vielleicht liegt's auch an der möglicherweise kurzsichtigen Sicht, die mir ein Spezialist vermittelt hat mit seiner nachgerade enttäuscht klingenden Erkenntnis, ich hätte die Gebeine eines Fünfundzwanzigjährigen. Dabei bin ich voller Hoffnung, nicht ständig hoffen zu müssen oder Trost zu suchen oder gar zu spenden wie Martin Walser, jedenfalls nicht so alt zu werden wie er oder Habermas. Ich habe ohnehin den Eindruck, daß die meisten das Immer-Älterwerden verwirrt. Manch einer kommt dabei auf Gedanken wie etwa das Bergsteigen, Drachenfliegen oder Gummiseilhüpfen mit neunzig oder vielleicht bald mit hundert. Andererseits gibt es in dieser Altersgruppe noch solche wie Heiner Geißler, die immerhin attac beitreten. Nun könnte ich also an Hoffnung denken. Aber ich bin eher hoffungslos wie die von mir bevorzugten Romantiker. Nach den strengen wissenschaftlichen Kriterien eines bekannten Volkskundlers und Genforschers ist das vermutlich erbmassig bedingt: Nicht nur mein Vater wurde steinalt. Jedenfalls nannte man das Mitte der Sechziger so, als ich zwanzig geworden war und er neunzig.
 
Mi, 19.10.2011 |  link | (2629) | 0 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Unglaubliches















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