Zeitlos Meine, (fast) unser aller Vorleserin hat einmal mehr auf einen Artikel «ihrer» Berliner Zeitung hingewiesen, dieses Mal von einer, die Unters Rad gekommen zu sein scheint. Der der Autorin bei diesem Unfall in den Kopf gestiegene, meines Erachtens entscheidende Satz hat bei mir hingegen bereits vor langer Zeit eine folgenschwere Gehirnerschütterung hervorgerufen: «Man wundert sich, dass es noch nicht zu Aufständen gereicht hat.» Denn ich frage seit Aufkommen des Niedergangs unentwegt: Wer ist hierzulande ernsthaft zum Aufstand bereit? Ich habe dunkel in Erinnerung, daß dieses Volk mal in Massen dazu bereit war. Sind da nicht ein paar zuviel der Meinung, Individualität schließe Solidarität aus? Sogar Reiter eines Einzelschlachtrosses kennen Gegenteiliges. Man kann auf diese Weise sogar Gesetze verhindern. Von der humorigen Perspektive mal abgesehen, aus der eine gewisse Realitätsferne durchschillert, denn beispielsweise welcher Freiberufler oder über die Maßen Verdienende («Immobilienfonds») erledigt seine Steuern ohne Berater? Das halte ich für so abwegig wie das eigenhändige Streichen der Büro- und auch der eigenen vier Wände. In der Zeit erledige ich die Recherche, für «Drehvorbereitungen zum Beispiel», die zur Arbeit gehört und nicht zur Freizeit. Währenddessen der Schuster brav seine Leisten bespannt. Und so weiter. Regine Sylvester, die mir schon einmal mit auf mich komisch, nicht als Synonym von seltsam wirkende, Betrachtungen aufgefallen ist, bezieht sich auf Hans Magnus Enzensberger, auf dessen «‹Musterkarte der gedruckten Zumutungen›, der Gegenstand war die Post in seinem Briefkasten», zitiert ihn mit «‹Schon ihre bloße Zahl ermattet die Seele und lässt Hassgefühle aufkommen›, [...] und erwähnt «eine Liste der Arten des Papierschwalls. Dazu gehören unter vielen, vielen anderen: Versandhauskataloge, Anlage-tipps, Zwangsversteigerungsbekanntmachungen, Lottoscheine, Vorsteuerberichtigungs-anträge, Geheimnummern, Manuskriptgestaltungsrichtlinien, Bußgeldbescheide. Für diese Liste muss Enzensberger lange gesammelt haben: Beim Durchzählen komme ich bei ihm auf 265 verschiedene Arten von Post.» Es gibt allerdings die Möglichkeit, sich wenigstens gegen diese Kleinigkeiten zu wehren, wenn sie auch, zugestandendermaßen, anfänglich eine gewisse Zeitinvestition erfordert. Ich habe vor etwa zwanzig Jahren begonnen, jedem radikal mit der höchstmöglichen Strafe zu drohen, der mir unerwünschte Post, per Brief oder elektronisch, hat zukommen lassen. Rigide. Sehr rigide. Man muß es nur wollen. Es funktioniert. Ich erhalte nur Post, welcher Art auch immer, die ich zulasse. Wer mir unaufgeforderte zusendet, bekommt von mir Antwort, von der Rüge bis zum, wenn's sein muß, Ärger. Den wollen die meisten nicht haben. Seit es eMail gibt, ist das im Nu erledigt. Seit vielen Jahren habe ich meine Ruhe. Ich muß also annehmen, daß die meisten Angst vor dieser Ruhe haben. Vermutlich befürchten sie, daß ihnen niemand mehr schreibt. Ich habe berechtigten Anlaß zu der Vermutung, daß den meisten auch in anderen Bereichen ein geradezu fürchterlicher Horror vacui aufs immerfort arbeitswillige Hirn drückt. In einem der saarländischen Tatorte, von denen es heute abend den letzten in alter Besetzung geben wird, sagte der auch oder gerade wegen seines Lokal- oder auch Mentalitätsbezugs geschätzte Gregor Weber zu seinem frisch aus Bayern gekommenen Kollegen, Fall hin, Fall her: Erstma werd geß, erstmal wird gegessen. Das kommt in etwa der chinesischen Begrüßung gleich: Haben Sie heute schon gegessen? Global hin, gobal her, es gibt nunmal länderspezifische Eigenheiten in Angelegenheiten des Wohlgefühls. Dennoch haben deutsche Manager Schwierigkeiten damit, wenn sie zunächst einmal zu Speis und Trank gebeten werden, weil es sie von der Arbeit abhält. Das geht, sogar im nur bedingt zu Frankreich gehörenden Paris. Sogar dort hat man vor noch nicht allzu langer Zeit mittags die elektrische Kommunikation verweigert. Bei der Gelegenheit: Slow food ist nicht aus der «Langsamkeitswelle» entstanden, sondern hat sich von Anfang an als Gegenpol zu Fast food verstanden, also gut gegen schlecht. Darüber nachzudenken, und es nicht einfach so mal eben hinschreiben, die Zeit sollte sich eine professionelle Schreiberin durchaus nehmen. Es geschah in den Achtzigern, als noch kein Mensch an diesen Geschwindigkeitwahn dachte, dem der Mensch sich heutzutage freiwillig unterzieht — ich unterstreiche das nochmal mit: «Man wundert sich, dass es noch nicht zu Aufständen gereicht hat.» Und der Begriff der Prokrastination ist auch nicht eben einer aus der Jetztzeit, von der die meisten so gerne meinen, sie hätten sie nicht, denn hätten sie sie, sie wüßten möglicherweise nichts mit sich anzufangen. Jean-Claire Bretécher und auch Marie Marcks haben die Arbeitsverdrängungsmaßnahmen bereits in den Siebzigern selbstironisch karikiert. Aber das sind ohnehin nur zwei Beispiele von vielen, die von Regine Sylvester angeführt sind, das ich als Gesamtbild recht schief hängend empfinde, da sie zwar versucht, es mit einem Anflug von Humor zu nehmen, es ihr jedoch bierernst zu sein scheint. Bierernst ist mir dabei: Das ist jammern auf hohem Niveau, meinetwegen Luxusgejaule. Wer wollte, könnte es ändern. Auch ließe sich sagen, er hätte es erst gar nicht dazu kommen lassen. Ich argumentiere gerne auf diese Weise: Stell dir vor, es gibt viel Arbeit und keiner geht hin. Nenne ich's Solidarität: Denen, die das abverlangen, es schlicht einmal zeigen, wer eigentlich das Geld heranschafft, für den Anfang sich mal einen Tag verweigern, auch streiken genannt. Aber was tun die, die es genauso hinkriegen müßten? Intellektuell sich der Problematik annähernd sind sie ja schon so weit: Sie wundern sich, daß es noch nicht zu Aufständen gereicht hat.
Ich las vor kurzem mal den recht schlichten Satz: "Wer trödelt, hat mehr vom Leben!" Das gefiel mir so gut, dass ich ihn noch einige Male im Kopf hin- und hergerollt habe. Ich gebe zu, ich hatte auch schon Freizeitstress und habe mir damit ganz fürchterlich ins eigene Knie geschossen, weil ich mich unter den Zwang gesetzt habe, in meiner Freizeit möglichst viel von dem zu erledigen, was ich mag, und es auch noch zu genießen. Wir sind so verkorkst, dass wir nicht mehr begreifen können, dass das nicht auf Rezept, auf Zeitplan, auf Agenda geht. Letztlich haben wir es in der Hand, es anders zu machen, das stimmt. Aber wer will das? Letztlich nur derjenige, der wirklich begreift, dass das Leben im Jetzt stattfindet und man nicht erst übermorgen glücklich wird. So stand ich immer wieder mal vor der Frage, ob ich mehr arbeiten würde, wenn es mir angeboten würde. Zur Zeit sind's dreißig Stunden die Woche. Und meinen ersten Reflex, "Na klar!", initiiert von der Aussicht auf mehr Geld, habe ich schnell wieder revidiert. Nein, lieber Zeit. Was die Post betrifft, stimme ich Ihnen zu. Es geht, wenn man konsequent ist. Und wenn man darauf verzichten gelernt hat, sich dem "Was gibt's Neues"-Impuls hinzugeben. Die meisten "Neuigkeiten", auf die ich ungefragt treffe, langweilen mich eher. Ich will Wesentliches. Aber filtern muss der Mensch halt selber. In der Freizeit
möglichst viel zu erledigen, dieses widersinnige Ansinnen1habe ich nie verstanden. Es sei zugestanden, daß ich, von der Zeit der Brotjobs in jungen Jahren abgesehen, in den seltensten Fällen eine Trennung zwischen privat und dienstlich vornehmen mußte, ich also über das Privileg verfügte, meine Interessen über die beruflichen Tätigkeiten sozusagen mit abzuarbeiten. Das habe ich von jungen Jahren an angestrebt, es ist mir glück-licherweise gelungen, und ich bin davon überzeugt, es würde mir, auch unter dem heutigen Diktat materieller Aneigung zu meinen Ungunsten, wieder gelingen; es ist eine Frage der Bedürfnisse. Ich war also auch nie gezwungen, zu tun, was viele, sehr viele meinen tun zu müssen, weil es quasi alle tun, zum Beispiel mich dem Streß zu unterwerfen, Barcelona, Paris, Venedig oder letzteres in Las Vegas in jeweils etwa zwei Tagen komplett zu erkunden, und das auch noch möglichst billig (dieser Freizeitwahn oder das, was aus dem einstigen verständlichen und berechtigten gesellschaftlichen Ansinnen geworden ist, steht noch einmal auf einem anderen Blatt). Aber ich hätte solches auch nicht getan, hätte mir weniger Geld sprich Zeit zur Verfügung gestanden. Ich hätte Benjamin Franklin gesagt, wenn er keine Zeit habe, dann möge er eben sein Buch behalten (allerdings hätte ich auch nicht gefeilscht, wäre also erst gar nicht in die Situation gekommen).Was mir nicht behagte, habe ich delegiert. Den eigenen Gewinn dieser Maßnahmen habe ich oben erläutert, was zur Arbeit gehörte, wurde nicht in der Freizeit erledigt. Die gehörte allein dem Baumelnlassen, von Beine oder Seele oder was auch immer. Wer anderes meint, tun zu müssen, ist selber schuld (meine Rede handelt nicht von den Bedauernswerten, die, aus welchen Gründen auch immer, nicht in der Lage sind, sich zu wehren). Wer nicht in Ruhe auf dem Hintern sitzenbleiben kann, der soll sich eben von allem erdenklichen voranpeitschen lassen. Aber er soll gefälligst aufhören, öffentlich und dann vielleicht noch öffentlich-rechtlich herumzujammern. Der Mensch an sich neigt zum Glauben: nämlich an das, was andere ihm erzählen, daß dem so sei. Wem ständig suggeriert wird, er habe keine Zeit, der verinnerlicht das irgendwann. Wer bereits im Kindergarten auf Leistung getrimmt wird, der wird ihr später nicht auskommen, etwa zu meinen, einzukaufen, anschließend zu kochen oder sich bei gemütlichem Beisammen-sitzen bekochen zu lassen, sei Zeitverschwendung. Ein wesentlicher Faktor scheint mir der: Ich habe zuviele Menschen kennengelernt, die ständig mit stolzgeschwellter Brust von den Unmengen Arbeit erzählten, die sie zu bewältigen hätten. Da waren welche darunter, die sich über meinen fast täglichen frühen Büroabgang wunderten oder sich gar darüber ereiferten, zumal die Sekretärin dann auch weg war. Es waren häufig solche, die ihren Arbeitsalltag nicht koordiniert bekamen, die oft bis in die Nacht an ihrem Arbeitsplatz saßen, weil sie in der Früh vor lauter kuriosen Verdrängungsmaßnahmen nicht dazu kamen, etwas wegzuschaffen. Ich meine damit nicht unbedingt diejenigen, die allein um des Lebensunterhalts willen gezwungen waren zu arbeiten, sondern habe die im Sinn, die sich (stolzgeschwellt) zu den Führungskräften mit Spaßfaktor zählten und oftmals meinten, alles selber machen zu müssen. Die saßen bis in die Nacht oder nahmen Arbeiten mit nachhause, derweil für die lieben Kleinen keine Zeit zur Verfügung stand, häufig nicht einmal sonntags für ein bißchen Kickerei (ja, Männer). Ich als sogenannte Führungskraft saß zu der Zeit längst in meinem Café oder in der Kneipe zusammen mit meinen Freunden und Bekannten, ließ mir vom Lauf des Dorfes oder der Welt berichten und berichtete von dem, was die anderen interessieren könnte, oder las, zu meinem Vergnügen. Ich hatte allerdings auch einen Kurs in Zeiteinteilung absolviert, der in den Schulungszentren der aufstrebenden Oberen nicht gelehrt wird. Wenn ich mich so umschaue, so finde ich nirgendwo Anhaltpunkte, daß Koordination ebenso zu einem Faktor des Gewinns zu zählen wäre. Ich meine nicht dieses fürchterliche Zeitnehmer-Geschwafel von der Effizienz. Ich meine den Willen zur Reduktion, meinetwegen Ersparnis: Spare an der Zeit, hast du keine Not. Oder auch: Weniger ist mehr. Erst gestern abend wurde mir zugetragen, die deutsche Post als eines der weltgrößten Unternehmen expandiere unaufhörlich. Die Zunahme an Versandhauskatalogen, Anlage-tipps, Billigstangeboten et cetera habe unaufhörlich zugenommen. Ein Briefträger sprach davon, alle hätten sie Aufkleber auf den Briefkästen, auf denen zu lesen sei, man wünsche keine Werbung. Aber den Katalog von schwedischen Herstellern von chinesischem Tinnef wollten sie alle. Es sei nicht mehr zu bewältigen. Aber kaum jemand schiebt dem einen Riegel vor. Doch da hätten die Berliner oder andere Zeitungen nichts mehr von dem zu drucken oder seitenweise ins Netz zu stellen, was uns wirklich bewegt in dieser Welt. Erst vorgestern habe ich dem Verlag einer kostenlosen Zeitung mitgeteilt, er bekäme Ärger, sollte noch einmal eines seiner Anzeigenblätter meinen Briefkasten verstopfen, der dies deutlich sichtbar untersage. Mir ist es egal, ob da einer dieser ohnehin fragwürdigen Arbeitsplätze etwa des Zustellers dranhängt. Richtig verdienen daran sowieso nur diejenigen, die es nicht verdient haben: die Hersteller und Vermarkter all dessen, das alle Welt kauft, vor allem das, das sie nicht benötigt. Ich meine: Es stimmt schlicht nicht, was da so feuilletonig klingen soll. Vor etwa gut zwölf Jahren habe ich den größten Teil meiner Unterlagen eingescannt und das Papier weggeworfen. Aber ach, selbst ein guter Bekannter, der immer nur mundgemalte Postkarten und keine «Emils» erhalten wollte, druckt mittlerweile seine eMails aus — und heftet sie wahrscheinlich auch noch ab. Irgendwie kriegt man es schon hin, sich Arbeit zu machen und keine Zeit mehr zu haben, weil alles so schnellebig geworden ist. «Enttäuschung», schrieb Robert Fillou, «wissen Sie, Ent-Täuschung wird immer mehr zur letzten Begründung von Leben.«2 Der Zufall will's.
Seit achtzehn Uhr sprechen teilweise recht erstaunte, aus meiner Sicht jüngere Redaktionsmitglieder von Deutschlandradio Wissen (Hirn will Arbeit) mit Karlheinz Geißler über die Zeit. Mein Staunen ist ein anderes. Er spricht aus mir. Allerdings unterfüttert er wissenschaftlich, was ich — und er offenbar auch — seit vielen Jahren lebe. Er hat ein Buch geschrieben mit dem Titel Lob der Pause. Bei Deutschlandradio Kultur ist darüber zu lesen, über allen steht: Müßiggang macht glücklich. «Höher, schneller, weiter — schon lange ist der ruhige Rhythmus der Natur der kapitalistischen Beschleunigung zum Opfer gefallen. Zeit ist Geld, heißt es, und nur genutzte Zeit ist gute Zeit. Doch welchen Einfluss hat unsere Hochgeschwindigkeitsgesellschaft auf unserer Wohlbefinden? [...]Auch Karl-Heinz Heidtmann hat ein paar Zeilen dazu geschrieben. belebender müßiggang
ist, wie vieles andere, auch, nicht nur, aber auch, eine frage des talentes, vermute ich. das muss man, wie sie ja schreiben, auch haben.die schlimmste bedrohung für dieses süsse eh-nicht:-nichts-tun aber ist heute die permanent-vernetzung, wie wir sie vor allem dank smart(?)-phones erleben. "nichts niemand nirgends nie. nichts niemand nirgends nie. schtändig schüttelte und rüttelte es". diese aus heutiger sicht den vibrationsalarm prophetisch voraussehenden, damals wie heute eine dreschmaschine, wenn auch unterschiedlicher art, beschreibenden worte schrieb arno schmidt in "kaff auch mare crisum" schon vor einigen jahrzehnten. ich muss heute immer an diese worte denken, wenn im kaffeehaus (ach ja, wien) am nachbartisch das mobiltelefon auf der steinplatte geräuschreich zur wandern beginnt. aber nur kurz, denn dann wird telefoniert als gäbe es kein morgen, und, falls das gespräch während der zeitspanne, die ein kleiner schwarzer und ein glas wasser - und ich dafür - benötigen und die auch meine geduld erträgt, beendet werden kann, wird man meist beobachten wie das gerät weiter in der hand gehalten wird, liebevoll, ehrfürchtig fast, wie ein kultgegenstand, aber nein, es ist ja ein kultgegenstand der unterbrechung geworden, längst. nicht, dass ich gegen den fortschritt spräche, ich habe selbst auch so ein ding, und geniesse es, jederzeit und überall einen fachbegriff, eine historische begebenheit, eine berufliche information oder auch das kinoprogramm yahoogeln zu können. oder auch diesen blog zu lesen. aber vorher muss ich doch, wenigstens kurz, überlegen, ob es nicht doch was wichtigers zu tun gibt. im notfall auch nichts, wie zum beispiel das buch einfach weiterzulesen, oder den spatzen zuzusehen. >> kommentieren Vielleicht
wehrt sich keiner, weil die Welt schon längst untergegangen ist. Wie verfahren Sie mit waschechter Spam, versendet von karibischen Robotern?>> kommentieren Spamming the backlinks is useless. They are embedded JavaScript and they are not indexed by Google. |
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