Sein oder Nichtsein

Wir wechseln den Aufführungsort des Geschehens. Wir gehen ans Theater, zur darstellenden Kunst Deshalb tritt die Kopfschüttlerin wiederum auf Seite 1 auf. Ich mißbrauche sie quasi als Avantgarde für mein sperrfeuriges Gemotze.

Links ich, bei der Erklärung der Welt des Geistes, gemalt von Herrn Abildgaard, kopiert von den Wikipedianern.


Den von Lubitsch als running gag inszenierten Hamlet habe ich als Symbol herangezogen, da er das statuarische Darstellungsverhältnis der Kunst seiner Zeit abruft. Allerdings hat Lubitsch den spielerischen Bruch mit der (Un-)Vergänglichkeit allen Seins oder auch nicht gleich ein wenig mit eingebaut, indem er den polnischen Offizier immer dann aufstehen, die Reihe beunruhigen und gehen läßt, wenn dieses philosophische geflügelte Wort vom Hiersein oder lieber im Dasein der Garderobe der Dame ertönt. Überhaupt hat dieser großartige Regisseur in diesem grandiosen, von intellektuellem Witz beinahe überbordendem Film vieles abgefordert, das für die Künste schlechthin erforderlich ist: Erkennen durch genaues Hinschauen, durch Wissen. Gerade an diesem Film habe ich in besonderem Maß erfahren, wie bedeutsam Bildung, also Geschmacksbildung — Geschmackssache sagte der Affe ... — ist, will man die Seife schmecken, hinter diese vielen Anspielungen steigen, die nicht erkennbar werden, hat man seinerzeit nicht täglich Zeitung und davor alle die Bücher gelesen, die zu einem Unterscheidungsvermögen verhelfen. Sein oder Nichtsein hatte ich in den Siebzigern auf Video aufgenommen.

Ein Freund selig, der ein paar Jahre später regelmäßig nach München kam, um dort vor Studenten zu reden und auch mit ihnen zu sprechen, bevorzugte meine Wohnung als Schlafstätte, und nach der einen oder anderen Flasche Wein forderte er mich ebenso regelmäßig auf, eben diese Kassette einzulegen. Alleine durch diese Tatsache ward ich so gezwungen, den Film zigmal anzuschauen. Das eher Unangenehme für mich war dabei, daß er ihn bereits hundertmal gesehen hatte und immer dann, wenn seiner Meinung nach sich besonders erwähnenswerte Passagen ankündigten, er dem Flüsterer in seinem kleinen Bühnenkuckloch von unten gleich ganze Sätze vorwegsprach. Das hatte zur Folge, daß ich Sein oder Nichtsein in Abwesenheit des Freundes noch mehrere Male sehen beziehungsweise hören mußte. Der vorteilhafte Begleiteffekt war der, aber auch die letzte Anspielung, nahezu jeden Nebenton dann wirklich verstanden zu haben, der mir ansonsten vermutlich verborgen geblieben wäre. So gesehen hat das nach heutiger Didaktik verwerfliche oder auch längst wieder aufgenommene Prinzip des einpaukerischen Drei-drei-drei, Issos Keilerei manchmal durchaus Vorteile. Ohne diesen penetranten Souffleur wäre ich möglicherweise gar nicht auf die Idee gekommen, mir das bis zur letzten Erinnerlichkeit immer wieder anzusehen und zu -hören und dann tatsächlich, exact im altertümlichen Sinn des Begriffes, zu hinterfragen.

Es geht einher mit Cyrano de Bergerac. Als ich noch aus Berufung am und später dann über das Theater tätig war, habe ich das Stück von Rostand einige Male auf der Bühne gesehen. Nie hat es mich wirklich berauscht. Meistens empfand ich es sogar als langweilig, als eine dramatische, eine durchweg dramaturgische Banalität. Dann schleppte mich eine Dame ins Kino, in Le Schmachtfetzen. Das riß mich hin, weniger die Dame, die mehr nach Liebe strebte als der Film. Er war es, der in mir das Verlangen auslöste, mehr über den von Bergerac, über dessen Aufklärung in der Zeit des siècle de la lumiere zu erfahren, von dem ich meinte, es via Studium bereits kennengelernt zu haben. Ein anderes Tor öffnete sich. Ein neues Medium half mir beim Öffnen der Augen, die eigene Schläfrigkeit gewohnten Wissens zu vertreiben.

Den oben erwähnten Hamlet wollen viele, die sich gebildet nennen, nach wie vor so sehen. Sie schauen am liebsten zurück. Das tut am wenigsten weh. Es ist so gemütlich. Bloß nicht das schöne alte Bild zerstören. In ihm muß man sich nicht bewegen. Kunst benötigt aber Bewegung, nur so können neue Sichtweisen entstehen. Hin und wieder wurde deshalb etwas zerstört, um es neu darzustellen. Dabei ist es unerheblich, ob der Inhalt bestehen bleibt und er von einer neuen Form, einem neuen Bild umgeben wird. Das Regietheater der siebziger und achtziger Jahre wird von vielen heutzutage so niedergebrüllt wie die Achtundsechziger. Viel Mist wurde gebaut. Doch es lohnt sich, in diesem pauschalisierten Scheißhaufen herumzuwühlen. Als Beispiel genannt sei der Hamlet von Peter Zadek mit dem unvergleichlichen Ulrich Wildgruber und der von mir nicht unbedingt übermäßig geschätzten, bis heute auf mich recht fade wirkenden Eva Matthes, die damals für (Jago-)Othello in Hamburg ihre Brüste über die Balustrade baumeln ließ. «Wider die Theaterverhunzer» schrien sie zu der Zeit auf, die Verhunzer der Gedanken und Ideen anderer. Als ob Herr Shakespeare oder seine von ihm geruf'nen schreibenden Geister oder auch nicht diesen Schloßspuk selber erdacht und nicht aus altnordischen Sagen abgeschrieben hätten. Der Gedanke all dieser Versteher von Alles-ist-Kunst oder Kunst-für-alle ist offenbar und bleibt unverrückbare Geschichte:
Nie sollst du mich befragen,
noch Wissens Sorge tragen,
woher ich kam der Fahrt,
noch wie mein Nam' und Art!

Mein Schirm! Mein Engel! Mein Erlöser,
der fest an meine Unschuld glaubt!
Wie gäb es Zweifels Schuld, die größer,
als die an dich den Glauben raubt?
Wie du mich schirmst in meiner Not,
so halt in Treu ich dein Gebot!

Welch holde Wunder muß ich sehen?
Ist's Zauber, der mir angetan?
Ich fühl das Herze mir vergehen,
schau ich die hehre, wonnevolle Kunst!
Von gestern. Aber nur ins Morgen zu blicken, ohne zu wissen, was hinter einem steht, zusammengepulkt worden ist, das ist nicht minder fahrlässig. Man wird, vor allem als Expertin mit Herz für Kunst, mit dieser Halbwertzeit des Wissens leicht zum Gespött der halben, sogenannt kultivierten Welt.
 
Mo, 11.06.2012 |  link | (2404) | 2 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Dramatisches


kopfschuetteln   (12.06.12, 22:43)   (link)  
herr stubenzweig, bitte.
verzeihen sie mir das-den dämlichen kommentar.
ich habe, einfach, nicht nachgedacht.


jean stubenzweig   (13.06.12, 13:10)   (link)  
Dämlich? Warum?
Weshalb? Wieso? Als Sichtweise ist das-den-der allemale zulässig. assoziiert er doch mal hierhin, mal dorthin. Außerdem haben Sie mir Maulwurf, wie oben ersichtlich, einen Eingang für weitere ausschweifende Ausholungen in meiner Kulturwiese gegraben. Ich habe also nichts zu verzeihen, sondern zu danken.















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