Fortgesetzte, sich überkreuzende Wege im Déja-vu

Er war sich nicht darüber im klaren, worauf die Frau abzielte. Er wandt sich ihr näher zu, rückte gar seinen Stuhl ein wenig nach rechts, um ihr Gesicht genauer in Augenschein nehmen zu können. Sie erschien ihm sympathisch, die Vermutung, sie könnte sich über einen vermeintlichen Grad der Bekanntschaft die seine erschleichen wollen, wurde augenblicklich auf Distanz verwiesen. Aber er konnte sich nicht an sie erinnern. Doch er ging darauf zunächst nicht ein. Es mochte schließlich sein, daß er mit seiner euphorischen Übersiedlung in den Süden bereits die komplette Vergangenheit verdrängt hatte. Doch eine Blöße wollte er sich nicht geben, die darauf hindeuten könnte, er sei ignorant. So bemühte er sich um gedankliche Annäherung, indem er sie nach dem Gemälde fragte, wo sie es denn gesehen habe. Er könne sich nicht daran erinnern, sie je als Gast begrüßt zu haben, denn es ziere seine wohnunglichen Wände. Im Original sei es ihr auch nicht bekannt, erwiderte sie. An einer Wand habe sie es dennoch gesehen, und zwar als Lichtbild. während eines Vortrags über zeitgenössische Malerei. Sie habe es wie gestern im Gedächtnis, da es sie vor allem deshalb beeindruckt habe, mit welch schlichten materiellen Mitteln ein Maler eine solche Ausdruckstärke herzustellen in der Lage sei.

Er kam ins Grübeln, heftig suchte er in seinem nicht nur im Süden, sondern auch wegen seines ein paar Jahre zuvor erlittenen Gedächtnisverlustes reduzierter gewordenen Erinnerungsvermögen nach einem Anhaltspunkt. Der Künstler war kaum bekannt, auch heute nicht. Sein Werdegang war bestimmt wie der so vieler seinesgleichen, die sich keine Zeit nahmen oder nehmen wollten oder auch wegen ihrer Zurückhaltung nicht konnten, sich auf dem Marktplatz der Kunst anzupreisen. Dabei war es sicherlich ein besonders Erschwernis, aus der DDR zu kommen und nicht figurativ zu malen wie etwa ein Bernhard Heisig oder ein Werner Tübke. Ins Land des sozialistischen Realismus war der Maler aus Israel eingewandert, wo der Kommunismus, den er im Kibbuz lebte, abzubauen drohte. Kennengelernt hatte er ihn durch einen Freund und Kollegen, der den unter freieren Geistern als stille Größe bekannte Künstler aus seiner Ost-Berliner Zeit als Kulturreferent des Amtes für innerdeutsche Beziehungen erlebt hatte, kurz nach seiner Übersiedlung in den Westen, der letztendlich doch ein wenig mehr Freiheit zu bieten schien. Seine Freiheit äußerte sich darin, in einem ärmlichen Kellerloch mit den zu großen Teilen mitgenommenen schlichten Materialien zunächst die Sujets weiterzuführen, die den einstigen Theatermaler in Anklam, Dessau und Meiningen in Atemnot hielten: die Tristesse, die dieser Staat ausstrahlte. Als er durchatmen konnte und er sich, wie zur Zeit in der späten Ostzone, einen kleinen Freundes- und Liebhaberkreis um seine Gemälde versammelt hatte, geriet er in eine quasi biblische Strömung. Es waren Kreuzwege, die der Jude fortan zu malen bereit war. Scheinbar religiöse Fragen entzweiten sie denn auch. Er hatte eine Petition unterschrieben, die für die Aufführung am Frankfurter Schauspiel des Theaterstücks Der Müll, die Stadt und der Tod von Rainer Werner Fassbinder plädierte, da er wie auch seine jüdischstämmige Gefährtin der Meinung war, Wirklichkeiten sollten bisweilen tatsächlich figurativ abgebildet werden dürfen. Der Künstler wehrte sich trotz seines an sich stillen Temperaments vehement dagegen. Der einst für seinen Freigeist Bekannte hatte sich Mitte der achtziger Jahre heiligen Sujets zugewandt und Kreuzwege gemalt. Einstige Querwege schienen nicht mehr begeh- und malbar. Zwar entstand kein Religionskrieg zwischen ihnen beiden, aber eine Freundschaft zerbrach an Glaubensfragen, weil sie politisch geworden waren. Dennoch zeigte er die Gemälde gerne.

Gil Schlesinger, Acrylfarbe auf Packpapier, um 1973, ca. 90 x 100 cm; hier leicht beschnitten. © jst

Das änderte nichts daran, sich an einer Abzweigung zu befinden, von der er nicht wußte, wohin er gedanklich gehen sollte, um dem Weg auf die Spur zu kommen, die diese Frau neben ihm zu ihm geführt haben soll. Er sah sich also gezwungen, sie zu fragen, wo sie dieses Gemälde an einer Wand habe leuchten sehen.

Mitte der achtziger Jahre sei es gewesen, antwortete sie bestimmt, genauer 1988, ziemlich genau vor vierzehn Jahren. Einen Vortrag in einem kleinen Museum Norddeutschlands, wo sie herkäme, habe er gehalten über zeitgenössische Kunst, Aufhänger sei die vergangene Documenta gewesen. Währenddessen habe er auch dieses Bild an die Wand geworfen. Es sei ihr nachdrücklich in Erinnerung geblieben, da sie ihn darauf angesprochen und er ihr bereitwillig und alles andere als in dürren Worten Auskunft erteilt habe.

Wie seit dem Ereignis, das er Umfall nannte, das sich mit Sirren, nicht Sirenen angekündigt hatte, war er einmal mehr gezwungen, heftig in seinem Vergangenheitsfundus zu wühlen. Er hatte so manchen Vortrag gehalten, auch in Norddeutschland, was daran gelegen haben mag, diesen Landstrichen seit je Sympathie entgegengebracht zu haben, in kleinen Häusern der Kunst zudem, da er dort mehr Aufmerksamkeit vorfand als in den heiligen Hallen der Großkultur, in denen in der Regel dem gesellschaftlichen Ereignischarakter der Vorzug eingeräumt wurde. Überdies wurden die oftmals auch nicht schlechter honoriert als etwa Ausstellungseröffnungen in renommierteren Museen, da häufig ein interessierter Kreis dahinter stand, dem ab und an eine örtliche Sparkasse oder gar eine Bauernbank Veranstaltungszuschüsse zukommen ließ, während bekanntere Häuser fast ausnahmlos nicht in der Lage waren, ihre Etatgrenzen zu überschreiten. Während er das gedanklich abschritt, kam etwas Licht in seine schattenhaften Erinnerung. Das niedliche Städtchen Schleswig tauchte schemenhaft auf. Dorthin hatte ihn die lieber dem Überschaubaren dienliche Direktorin einer kleinen Kunstschaubude in der Nähe Cuxhavens hin vermittelt. Ob es der Ort dieser Veranstaltung gewesen sein könnte, fragte er sie.

Mit derselben Entschiedenheit wie zuvor schon verneinte sie. Schleswig kenne sie nicht einmal. In Rendsburg sei es gewesen. Und weitaus gesprächiger sei es zugegangen damals, jedenfalls weitaus gesprächiger als jetzt gerade. Die Frau wurde ihm unheimlich in ihrer Bestimmtheit. Er war sich sicher, noch nie in Rendsburg gewesen zu sein. Er wußte nicht einmal, wo Rendsburg liegen und ob es dort eine Stätte gab, an die es ihn gezogen haben könnte. Er spürte zusehends das Verlangen, sich in sein Inneres zurückzuziehen.


Das tue ich jetzt auch. Es ist Zeit fürs Mittagsschläfchen. Morgen erzähl' ich die Einschlafgeschichte weiter.
 
Di, 24.07.2012 |  link | (2149) | 1 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Linksrheinisches


jean stubenzweig   (25.07.12, 15:36)   (link)  
Kein Musenkuß heute.
Mit ist nach Dauermittagsnickerchen. Seit Wochen diese dies Hitze. Ich kann über nichts anderes nachdenken. Also muß die Fortsetzung der Gute-Nacht-Geschichte bis morgen warten.















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Jean Stubenzweig motzt hier seit 5808 Tagen, seit dem Wonne-Mai 2008. Letzte Aktualisierung: 22.04.2022, 10:42



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