Die (Auto-)Biographie in uns

«Wenn ich mich so umsehe», lese ich, «bei den Endzwanzigern und Mittdreißigern in meiner Umgebung, entdecke ich viele Menschen, die unzufrieden sind.»

Vieles nickt man ab, weil man's kennt, anderes wird mit Staunen, auch mit Entrüstung zur Kenntnis genommen; manchmal steigt der ohnehin zu hohe Altersbluthochdruck nochmal um ein paar Werte an, treibt die leichte Verärgerung übers Gelesene an, daß man, käme man endlich selbst an die Regierung ... Dann weiß man, daß man schon aus Altersgründen nicht gewählt werden würde, aber man weiß ebenso, daß man sich erst gar nicht zur Wahl stellen würde, um nicht mitschuldig zu werden ... Faule Ausreden. Doch man bemüht sich immerhin ab und an, den Jüngeren zu verdeutlichen, daß das Alter nicht gleichbedeutend ist mit resignativem Rückzug in den Schaukelstuhl, es sei denn, jemand fesselt einen aus dem Füllhorn der notleidenden pharmazeutischen Industrie aufs Streckbett eines sogenannten Seniorenheims, bei ruhiggestelltem Blick aufs ratgeberische nachmittägliche Staatsfernsehen, das eine verängstigte Restperspektive bietet auf die, so lange ist das noch nicht her, zu knappe Rentenanhebung und heutzutage die deftige Senkung, selbst dann, wenn man hiesig oder auch sonstwo gar keine bezieht, oder die Schicksale sämtlicher in zoologischen Gärten Inhafierten proklamiert, während einem die von Guantánamo an den immer lichter werdenden und hängenden hinteren Gärten von Semiramis vorbeigehen, weil die ja schon irgendwie selbst schuld sein werden, denn sonst wären sie ja nicht dort gelandet.

Nein, Alter ist nicht grundsätzlich gleichzusetzen mit Gleichgültigkeit. Manch einer rüttelt gar heftig an den Gitterstäben, und zwar anders als in der Art von Herrn Schröder, der damals reinwollte. Viele wollen raus aus dem, was diese Schröders ff. sich da an gesellschaftlichen Gefängnissen (für andere) zurechtgebaut haben. Es gibt sie, sie sind nur seltener zu finden, vor allem im netten Netz, und wenn doch, dann, um Stützstrümpfe noch billiger zu erwerben, auf daß sie ausreichende Gründe haben für die Klage über das Schwinden des Einzelhandels und damit auch über durchaus marktwirtschaftliche Veränderungen der Gesellschaft. Deshalb werden sie auch weniger gehört, denn die wirklichen Probleme scheinen eindeutig den Anfangs- und Endzwanzigern sowie Mittdreißigern zu gehören. Hin und wieder höre ich mittlerweile sogar bereits die über Vierzigjährigen stöhnen. Sie alle haben ihre eigene — altersspezifische? — Problematik. Und nun? Sich doch wieder einmal neu auf die Gottsucherei begeben oder mittels Gehhilfe shoppen gehen? Nein. Also geht man, so gut es eben geht, hinaus und richtet die Linse auf das aus, das da noch kommen könnte an diesem bißchen Zukunft, gleichwohl scheint der Blickwinkel etwas eingeengt, wenn man auf einer festen Burg von Geist und Kunst steht, und das auch ohne Kirchen- oder überhaupt Religionsmitgliedschaft, und dennoch oder vielleicht deshalb einem so seltsame Gedanken an Bio-, gar Autobiographisches die gehirnischen Synapsen durcheinandervirulieren. Man hat seinen gefestigten Standpunkt, von dem aus man im rechten — was ist schon richtig oder falsch in der Kunst und damit auch im Leben? fragt der Rand- oder Teilromantiker — Licht steht.

Man möge mir verzeihen, daß mir das da oben durch die Windungen ging, bevor ich meine eigentliche Absicht aufschreiben konnte, ich es also als Aufhänger dafür benutzt habe, das gestern per Elektropost bei mir einging und über das ich mich köstlich amüsiert habe und über das ich heute noch genauso schmunzle und das unbedingt öffentlich zu machen ich von irgendeiner, vermutlich teuflischen Instanz gezwungen werde. Den über fünfzigjährigen Absender verschweige ich diskret, es sei denn, er gäbe mir sein Placet.
«Was Biographisches, von mir? Der ich doch immer lache, wenn Skispringer mit 25 ihre Biographie veröffentlichen, Kinder noch, nicht nur im Gesicht, als ahnten sie, daß nichts mehr kommen wird, nach dem letzten Sprung. Oder Kinderstars, die die Bühnen rocken, wie man heute sagt, zumindest eine Sommersaison lang, die, bevor sie sich den Drogen, die sie nun leicht kaufen können, völlig hingegeben haben, mit 17 ihre Memoiren schreiben, also Erinnerungsstücke, die grad mal 100 großgedruckte Seiten füllen; Gott sei Dank gibt es viele Bilder im Buch: da muß man nicht so viel erinnern dann.»
Das habe ich dabei «erinnert», es las sich zum Ende eines vergangenen Jahrtausends hin:
«Was alle Autobiographien so wertlos macht, ist ja ihre Verlogenheit» — so beklagte Freud einmal, und bereits Goethe hatte die autobiographische Dichtung als lauter ›Maskerade› bezeichnet. So daß von dieser Textsorte vielleicht gar nicht als einer ars memoria, sondern mehr von einer ars oblivionalis zu sprechen wäre, wie noch jüngst in Harald Weinrichs Buch Lethe angeregt — produziert wird damit kaum Wahrheit oder Aufrichtigkeit, aber um so mehr Text nebst allen Inszenierungsformen, die die Schrift des Ich annehmen kann.

Und doch scheint weniges ausgeprägter als das Verlangen nach der aufrichtigen, ehrlichen Lebenskonfession eines bekannten Autors oder einer populären Figur. Sieht man sich die Flut autobiographischer Texte in den letzten Jahren an, könnte man — Roland Barthes würde es so nennen — von einem neuen autobiographischen Begehren sprechen. Mittlerweile kommen bereits 30jährige mit ihren Memoiren nieder: ob Madonna oder Michael Jackson, fix und fertig das Leben für die Akten oder für die Selbstvermarktung; ob Franz Beckenbauer oder Helge Schneider, ob die Ex-Terroristin Inge Viett oder Geheimdienstchef Markus Wolf, jeder darf mal, schließlich natürlich Autoren des Höhenkamms: Heiner Müller, Christa Wolf, Ludwig Harig, Günter Kunert, Rainald Goetz und andere. In Zeiten der forcierten technischen Entwicklung scheint es so etwas wie ein Bedürfnis nach Aufrichtigkeit und Expressivität zu geben, das vielbeschworene Verschwinden des Subjekts in der digitalen Nacht steht einer Renaissance des Körpers und der unmittelbaren Erfahrung entgegen wie auch dem verstärkten Hang zur Selbstreflexion. Der avancierte Text, will er nicht bloße Unterhaltungsliteratur sein, bricht aber auch das Ich in seinem Aufschreibemedium — Federkiel, Buchdruck, Schreibmaschine, Hypertext — bis zum völligen Verlust von Authentizität. Der autobiographische Anlaß wird zur literarischen Prüfung — und umgekehrt kann schließlich das Leben durch diese Überformung zum Stil und damit selbst zum ästhetisch überhöhten Kunstwerk werden.[...]»

Ralph Köhnen: Rhapsoden des Ich.
Die Photographie des obigen Bedenkenträgers, wie man ihn lange Zeit zu bezeichnen beliebte, wurde getätigt von Martin Behr, Österreicher wie der Zitierte und Mitglied der Künstlergruppe G.R.A.M..
 
Do, 04.10.2012 |  link | (2095) | 4 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Seltsamkeiten


jagothello   (06.10.12, 11:08)   (link)  
Begehren
Da schweben dem ein oder anderen Schreiberling wohl andere als ästhetische vor! Ohne biographischen Eliten-Exhibitionismus wüsste ich jedenfalls nicht, was der Escort-Service des Bundespräsidenten nachts im Hotel so treibt. Und dass die Spesen nur für solche mit dünnen Wänden reicht. Und dass die zukünftige Ex-Gattin des Ex-Alpha-Präsidenten gern am Sylter Strand rumlungert, weil es da so scharfe Kost gibt.


jean stubenzweig   (06.10.12, 19:44)   (link)  
Die formale Ästhetik
sprechen Sie wohl an, wie oben bereits im Ansatz Köhnen es andeutet, «diese Überformung zum Stil und damit selbst zum ästhetisch überhöhten Kunstwerk», sozusagen die nach wie vor alles beherrschende des 18. Jahrhunderts: außen «schön», innen leer oder hohl, woran ich beispielsweise erinnert werde, stehe ich in der Münchner Glyptothek, wo sonntags die göttlichen Gestalten die göttlichen Figuren anhimmeln, das nicht auszurottende Ideal all dessen, das unter Schönheit verstanden wird, sondern auch die mangelnde Bereitschaft, sich auch an diesem Ort mit Neuerungen des Denkens auseinanderzusetzen, geschweige denn, sie überhaupt erst einmal wahrzunehmen. Daran sind nicht nur die Medien schuld.

Trotz alledem staune ich immer wieder nicht schlecht, was insbesondere immer jüngere Menschen zu einem derartigen Exhibitionismus antreibt. Ob das nun ein achtzehnjähriger Dschungelbuchteilnehmer oder eine noch nicht vierzigjährige, auf rosarotem Laufsteg Trabende ist, früher haben sie's allenfalls ihrem Tagebuch anvertraut, heutzutage muß es raus. Wie mir zugetragen wurde, scheinen die Verlage der selbstzahlenden Autoren Konjunktur zu haben, Internet hin oder her, es drängt auch als Buch an die Öffentlichkeit. Alle sollen alles wissen, jedenfalls das Beschönigende. Das ist offenbar die Wissensgesellschaft.


jagothello   (07.10.12, 13:06)   (link)  
Kunst, keine Kenntnis
Schrift des Ich; es ist eine Frage der Zeit. Selbstinszenatorische Seelenschau nebst Klatsch und Tratsch- solches produziert ganz sicher keine Wahrheit oder Aufrichtigkeit. Goethe wusste das nur zu genau und aus diesem Grunde, so vermute ich, verfasste er sich selbst in einer damals völlig neuen literarischen Gattung, der Autobiographie. Ihm blieb nicht mehr viel Zeit, Schiller war tot, kein Biograph in Sicht, die Einsamkeit bedrängend, die Sorge um das Vermächtnis allgegenwärtig. Deutungshoheit über das Eigene- das war wohl Triebfeder dafür, Wahrheit zu suchen; aber eben mit den Mitteln der Dichtung, nicht als Enzyklopädie und schon gar nicht als Psychologie. Dichtung & Wahrheit!
Zu Beginn des 19. Jahrhunderts ekelte sich der avancierte Text, wie Sie so schön schreiben, vor dem intimen Bekenntnis. Diese Scham ist verloren gegangen. Leider ist sie verloren gegangen. Goethes Kunst aber war eine offene, eine deutungsbedürftige. Absurde Vorstellung vor diesem Hintergrund, einen quasi-lexikalischen Text, gewissermaßen eine Synthese aus Wikipedia und Bettina Wulff, zu planen: Muss ich mich denn nicht selbst zugeben und voraussetzen, ohne jemals zu wissen, wie es eigentlich mit mir beschaffen sei, studiere ich mich nicht immerfort, ohne mich jemals zu begreifen, mich und andere? und doch kommt man immer fröhlich weiter und weiter. Eine Poetologie des Geheimnisvollen (romantisch nicht nur dort!). Der Charakter, so die Hoffnung, teilt sich zwischen den Zeilen des Lebensberichtes mit, wird spürbar- für den Leser und für den Verfasser.
Wo Poetologie fehlt, handelt es sich, in Abwandlung eines Wortes von Georg Lucács, nicht um Kunst, nicht einmal um Feuilleton. Bestenfalls um historischen Bericht, wahrscheinlich um schreiende Bedeutungslosigkeit!


enzoo   (08.10.12, 09:26)   (link)  
placet erteilt
ich hab nichts zu verbergen. ich trage auch meine glatze unbekümmert und schmerzfrei.

zwischen der lektüre der lettres und anderem ist es mir doch gelungen, den "stiller" wiederzulesen und es war mir wieder eine grosse freude. eine auto-biographie ist, soferne man nicht völlig auf das eigene sein reduziert und fokussiert ist, ja immer auch eine vorstellung von alternativen lebenswegen, die man hätte gehen können. dabei stelle ich mir die vermeintlich selbst getroffenen, sogenannten grossen entscheidungen vor, schule, studium, wohnortwechsel etwa, von denen ich mich glauben mache, sie würden den weiteren weg bestimmt haben. viele andere menschen denken wahrscheinlich auch so. ich vermute aber, dass es ganz andere dinge sind, die einen entweder bei scylla und charybdis oder bei den lästrigonen landen lassen: wie die kindergartenpädagogin reagiert hat, als man in sehr jungen jahren vor aufregung über den kasperl die kontrolle über die körperflüssigkeiten verloren hat, wie sich der erste kuss anfühlte, den man als 12 jähriger von der angebeteten auf die wange gedrückt bekam, die grossartigkeit des rundblickes nach einer anstrengenden erklimmung eines hohen berges in klarer luft. nicht dass ich für diese vermutung irgendeine evidenz aufweisen könnte. es handelt sich um eine behauptete vermutung, oder, wahlweise, eine vermutete behauptung. wenn es um so etwas schwammiges wie den blick auf das eigene leben handelt, ist das auch genug an exaktheit.















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