Fußball, Gott, Spiel und Kunst

One legged soccer club, circa 1960, aus: Laubacher Feuilleton 15.1995, S. 1 © Michael Ochs Archives

Sport ist Mord, wie man sieht, auch der Fußballsport. Auf den Redaktionsstammtisch gelegt wurde die Photographie seinerzeit von Rochus Kowallek, bis zum Ende (des Laubacher Feuilleton) daselbst unangefochtener Chefportier und einer der besten, konstruktivistischsten Kunsterklärer auf deutschsprachigen Fußballfeldern. Sein elegantes und überaus, so würde man es vielleicht heutzutage nennen, auch effizientes Spiel hatte möglicherweise seine Ursache in dessen Behinderung, in der Tatsache, daß er auf einem Bein an Krücken mit seiner Schnauze flinker und trickreicher war als seinerzeit Stan Libuda, und der kam schon an Gott vorbei. Als Deutschland noch immer an das Wunder von Bern glaubte, hatte er das Bekenntnis an den Glauben zur Kunst längst ausgedribbelt, das, was heutzutage als Moderne proklamiert oder als Neuerfindung des Spiels weltstadienweit, zur Zeit gerade im nördlichen Hessen beziehungsweise in Polen und der Ukraine transparentiert wird, noch dazu als Event, quasi antizipiert.

Eigentlich wollte ich ja einen meiner gefürchteten langen Schulaufsatzversuche verfassen. Um De- und Konstruktion sollte es gehen, auf die kürzlich in meinem Elektropostbriefkasten angelandete Bemerkung hin, es sei, ich paraphrasiere das jetzt ein wenig, immer konstruktiver, etwas aufzubauen als etwas zu zerstören. Die Arbeit von Pedro Cabrita Reis kam mir dazu in den Sinn, dieses wunderbaren Portugiesen aus dem wunderschönen Lisboa, dem dort das Leben Kunst sein darf, dem ich dort gesagt habe, ich hätte seine skulpturalen Bildnisse der neunziger Jahre aus dem Material der Zerstörung, beispielsweise aus dekonstruierten Häusern anfänglich zwar nicht verstanden, aber sie hätten eine hohe Aufmerksamkeit sozusagen gebildet, über die Form sei ich inspiriert gewesen, zu deren Inhalt vorzudringen, wie zu einem geistigen, von jeder religionsgelenkten Spiritualität freien Kleinod, das scheinbar in Abfall von der Ästhetik des Schönen verpackt wurde. Ich müsse das nicht verstehen, meinte auch er, Hauptsache sei, es gefiele mir. Verstanden hatte ich nach einigen Gesprächen bei gehaltvollem Wein und feinem, also nicht brimboriumiertem Essen, die mir eine Metapher aufdrängten: Die Kirche wieder ins Dorf zurückholen.
Wir sind seit langem an der Stelle Gottes. Und deshalb haben wir soviel Probleme. Der Umgang mit einer Gottesvorstellung ist auf seltsame Art und Weise verbunden mit Angst, Hoffnung und einem gewissen Schwindelgefühl vor dem Tod. Wenn ein Künstler eine Kathedrale schafft, dann versucht er, den Blick nach oben zu ziehen. Jeder Versuch aber, den Blick nach oben zu lenken, ist immer ein gefährliches Unternehmen, es ist immer ein Machtwille dahinter, ob theologisch oder politisch, das ist einerlei. Der nach oben gelenkte Blick setzt einen Betrachter voraus, der unten ist, der Angst hat, der das Oben, möglicherweise Gott, braucht, um seine Angst, sein Gefühl von unten sein, von Machtlosigkeit zu überwinden.»
Blick nach oben
Doch nun hat mich die Lust verlassen. Ich habe nämlich gestern, obwohl ich mir vorgenommen hatte, es nicht zu tun, es dann doch getan, wahrscheinlich wegen des Großereignisses. Im nachhinein fallen mir konstruktive Worte wie Spielaufbau dazu ein. Nach dem, was ich gestern gesehen habe, bin ich über diesem Gedankengang des Fußballextertenplapparismus vor Langeweile eingeschlafen, und die Müdigkeit läßt mich nicht los. Deshalb zögere ich noch, mir das nächste Großevent überhaupt anzutun, nach fast vierzig Jahren das erste Mal ohne wäre das. Ein Stoß in das Herz der Kunst? Ach was, diese Art wird auch ohne mich weiterleben.
 
Sa, 09.06.2012 |  link | (4745) | 14 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Ertuechtigungen


kopfschuetteln   (10.06.12, 09:22)   (link)  
also, ich versuche, das ganze event-drumherum auszuschalten, ich verzichte auch auf das geplappere der experten. weil ich, das können sie sich doch denken, nichts von fußball verstehe. ich habe spaß (mehr oder weniger) an zwei mal neunzig minuten fußball, ungekürzt; gestern bügelnd zum beispiel, was auch immer. im grunde ist mir sogar egal, wer gewinnt.

stoßen sie ins herz der kunst, auch wenn es ein event ist. oder ist es nicht entscheidend was es für sie ist, diese art?


jean stubenzweig   (10.06.12, 13:17)   (link)  
Menschen soll es geben,
die dieses Geraune um den runden Ball für höhere Philosophie halten. Philosophie mag's sein, eine angewandte Liebe zur Weisheit, vergleichbar vielleicht mit der praktischen Umsetzung des Kunstgedankens ins Handwerk, der sich von diesem nunmal entfernt hat, die sich mit dem Leben befaßt, das sich von der theoretischen Sinngebung abgewandt hat. Dieses Spiel an sich ist mir ja recht, es kann aus meiner Nichtexpertenperspektive sogar ein schönes sein, wenn es sich mir auch höchst selten so darstelllt. Als ich mich von der endgültigen Vergesellschaftung des Fußballs in die höhere Klasse, also dort hinauf, wohin die niedere, nein, erniedrigte Masse strebt, zu Ehr und Ruhm, umgesetzt durch Familienmitglieder, also Mannschaften der Nation(en), obwohl ihr ständig der Ruf nach Klassen-, nach einer zumindest moderaten Herrschaftslosigkeit durch die Hirnwindungen holpert wie der Dorffußballer übern Maulwurfsanger, als ich mich also in den Neunzigern von diesem gemäß dem Zeitgeist sich nahezu ausnahmslos nur noch um viel Geld und Macht drehenden Spiel abgewandt habe, da ging hin und wieder mein Blick gen Amateur. So geschah es eine Zeitlang des öfteren, daß ich während meiner beinahe immerwährend mäandernden Reisen über Nebenstrecken auf Dörfern anhielt, weil dort gekickt wurde. Das hat mich zeitweise durchaus amusiert, weil ich dabei die Lust am Spiel zu erkennen meinte. Dieses heutige Gefasel um das Event ist mir ein Greuel. Seinen Eingang fand das Verbalgeschwurble, wenn ich mich recht erinnere, als Kalle Rummenigge zum Coberichterstatter auserkoren wurde und der dann alle fünfzehn Sekunden davon redete, es sei glücklicherweise bis dato noch nicht viel passiert. Mittlerweile philosophieren die alle auf diese Art. Zum Kunstherz später.


enzoo   (12.06.12, 10:04)   (link)  
ich hielt
mich während der letzten tage in frankreich auf, nicht ganz, auf korsika, das für mich halt frankreich ist, auch wenn ich das dort natürlich nicht so locker sagen würde. jedenfalls hängen dort an den orten, die häufig von touristen frequentiert werden, in der hafenmeile von bonifacio zb, die seit meinem letzten aufenthalt dort vor 12 jahren zur unkenntlichkeit verbetoniert wurde, ein wahrer jammer, in den lokalen auch die neuen flachen grossen, und natürlich wurde dort fussball eingeschaltet, aber niemand sah zu oder schenkte dem geschehen auf den schirmen aufmerksamkeit, ausser ein paar einsamer deutscher reisender, die sich am weizenbier (!!!) schweigend festklammerten und deren einzige lautäusserungen "mmmmh" oder auch "uuuuuh" waren, wenn etwas ihrer meinung nach kommentierenswertes am bildschirm zu sehen war. die franzosen bzw die, die ich dafür hielt, kümmerten sich allesamt nur um ihr essen, das die kellnerInnen in rascher speisenfolge an die tische schleppten, und das gespräch über das befinden der ziege, die die milch für diesen herrlichen käse, dessen erster biss hinein ein wenig an einen toilettenstein erinnert, geliefert hat und ob ihre ziegentochter wohl einmal genau so gute milch liefern würde, interessierte die beteiligten unter anleitung des patron, der regelmässig zwischen den tischen herumscharwenzelte und wissen wollte, ob denn eh alles auch wirklich excelent sei, in einer form, bei der man dies selbst im gegenteiligen fall nicht mehr zu äussern wagen würde, mehr als irgendeines modernen fussballsklaven schienbeinschützer. das machte mich froh und erklärt auch mit, warum es dort so echtes essen gibt und hierzulande, also in deutsch-österland, dem panierten und fetttriefenden der vorzug gegeben wird.


jean stubenzweig   (12.06.12, 16:05)   (link)  
Daß Corsica nicht Frankreich
ist, wird man Ihnen nicht nur auf der Insel, sondern auch auf dem nahen Festland nachdrücklich bestätigen. In Marseille gibt es einige Bars, also Cafés, in denen alle erdenklichen Clients natürlich freundlich bedient beziehungsweise behandelt werden, nur Franzosen nicht. An der Rue de la République, die nach deren Zenit hinunterführt zum Hafen, von dem aus Sie wahrscheinlich übergesetzt sind, befindet sich eine solche Kneipe, in der ausdrücklich darauf hingewiesen wird, daß man sich dort wie ich anderswo ex terra, auf corsischem Hoheitgebiet befinde und man gefälligst corse zu sprechen habe. Andererseits versteht man sich in diesem Schmelztiegel aller möglichen Völker und damit Sprachen dann doch wieder recht gut und bringt quasi Verständnis dafür auf, denn manch einer sieht nach wie vor die Kanonen gen «Festland», sprich Paris gerichtet, auch wenn es mittlerweile immer mehr Phocéen et phocéenne gibt, die lieber Parisien wären, mit all dem metropolistischen Gehabe, das diese auszeichnet, das die aus dem Norden mitgebracht haben. Was Wunder, allzuviele Parisienne haben sich als Völkerzugewanderte eingekauft an den Rand der landesweit überaus beliebten Badewanne, seit der Jahrtausendwende, seit der TGV nach drei Stunden Fahrzeit angerauscht kommt und die Neusiedler währenddessen nicht einmal ihr Wirtschaftsmagenblatt Le Figaro durchgelesen kriegen. Darauf, daß man ursprünglich griechisch geboren wurde, also irgendwie ein Teil dieser stinkfaulen Levante ist, daran will manch einer in diesen Zeiten nun wirklich nicht auch noch erinnert werden. Man bedenke: Marseille est la deuxième plus grande ville de France. So lange ist es noch nicht her, daß man sich mit dem pfeffersäckischen Lyon um diesen Titel gestritten hat. Dabei ist man als Zentrale des Bouches-du-Rhônes schließlich mit Hamburg verschwistert. Nicht vergessen werden sollte: Gelder aus Bruxelles et Strasbourg haben zuletzt die Stadt in den Schein von Ruhm und Glanz wachsen lassen.

Zur Zeit dürfte allerdings L'Equipe der Vorzug gegeben werden, dem national gefragtesten Sportblatt. Ob das so bleiben wird nach dem zuletzt tristen Gekicke, steht in den Sternen, die manch einer gerne sehen würde, wie ich sie nach dem Triumph von 2000 erlebt habe (Sie kennen es, ich zitiere mich selbst für andere, die es noch nicht kennen): ich also von der Côte Bleue her kommend mit dem Schiffchen in Cassis angelandet worden war und dort, drei Wochen nach Gewinn der Europameisterschaft ein paar unentwegt positiv Bewegte wankend auf den Bänken saßen, die Pulle kreisen ließen und fortwährend auf die Zukunft anstießen.

Daß dort Fußball eingeschaltet wurde, aber niemand zusah oder dem Geschehen auf den Bildschirmen Aufmerksamkeit schenkte, erinnert mich an einige Hinkuckerlebnisse zur Tour de France, deren vorbereitende Medienhingabe dieses Jahr vermutlich im Europa-Kickgetöse ohnehin untergehen wird. Überall im Land waren Fernsehgeräte aufgestellt, auch auf der Straße. Davor saßen jedoch fast ausnahmslos ein paar einsame Deutsche, die eigens zu diesem Ereignis über den Rhein gerudert waren, und ich mittendrin. Ihre Schlderung mag im besonderen der corsischen Mentalität zugrunde liegen, die ich nicht näher kenne, da ich mich lediglich wenige Male quasi zum Essen dort aufhielt, ich das Reich der Inseln eher noch überseeisch, auch wegen des Essens, aber man kommt von dort eben nicht so rasch zurück aufs alte Festland, begutachtet habe als in der nächsten Nähe, warum auch immer, vielleicht sogar, um nicht gar so vielen von diesen immerwährend reisefreudigen Deutschen zu begegnen, die die allzuferne Fremde dieser seltsamen Sprache dann doch ein wenig scheuen. Diejenigen, die Sie auf Corsica gesehen haben, könnten jene Bekannte von mir gewesen sein, die dem deutschlandigen Rummel entfliehen wollten und es machten wie die Kölner, die vor Weihnachten oder dem Karneval geflüchtet waren, um dann in der Eifel ein Bäumchen zu schmücken oder die Narrenkappe aufzusetzen.

Ich sollte nach Ihrem eindrücklichen Hinweis mal wieder hinüberfahren, dort essen und mit einem solchen Akt möglicherweise auch nachdrücklich darauf hinweisen, daß panierter und gebackener Camembert einen Frevel gegen die göttliche Weltküchenordnung darstellt.


enzoo   (13.06.12, 10:55)   (link)  
es ist ja nicht so
dass man nur wegen des essens nach corsica (halten wir uns an die revolutionäre sprachregelung) fahren muss, aber man kann durchaus.

wobei leider auch dort, speziell natürlich da, wo die ganz grossen und die nicht ganz so grossen protzyachten und damit die diesbezüglichen besitzer- oder charterpersonen in die häfen einfallen, nicht mehr einfach nur gut und ehrlich gekocht wird, sondern das barocke getue mit dem essen losgeht, wo zb. eine nachspeise nicht mehr einfach auf einem schönen teller serviert werden kann, sondern auf etwas anderem dargebracht werden muss, zum beispiel quasi auf einer leibschüssel: http://666kb.com/i/c4mgfo0vsl1o5e2cu.jpg

(auch wenn es vielleicht so aussieht, es handelte sich nicht um eine kandierte und mit erdbeeren gespickte schildkröte, sondern um zugegebenermassen sehr schmackhaften überbackenen zuckereischaum mit erdbeeren und deren gefrorenem, limetten-vanille-sauce und ofenwarmen bisquite)

nun bin ich ja durchaus ein freund des schön angerichteten essens, kein teller verlässt meine küche richtung esstisch, solange ich optisch daran etwas auszusetzen habe. aber ist bei diesem leibschüssel-ding nicht die wasweissichfüreine-grenze deutlich überschritten? gibt es eine solche absolute, und wenn ja, wo liegt sie, und wie heisst sie? oder ist sie so individuell wie die geschmacksnerven? (zumal das ganze ja keine ästhetische notwendigkeit hat, ich würde sogar sagen, die schildkrötenform, deren herstellung in der weise ja die wahre kunst bei dem ganzen ist, dass man es bis zum tisch bringt, ohne dass es in sich selbst zusammenfällt, wird von dem massiven porzellanding darunter optisch regelrecht erschlagen)

(ganz abgesehen davon, welch riesige schränke für die aufbewahrung dieses absolut unstapelbaren geschirres man benötigt. aber vielleicht hat man ja eine kooperation mit dem örtlichen krankenhaus oder senioren-pflegeheim. die können mit derlei aufbewahrung umgehen)


jean stubenzweig   (13.06.12, 14:56)   (link)  
Ein sperrangelweit geöffnetes
Tor haben Sie bei mir da eingerannt. Einen blendenden Treffer sozusagen, um beim erstgenannten Thema zu bleiben, haben Sie erzielt. Das bringt mich fast an den Punkt, den ich ohnehin für meine heutige Andachtsunterweisung zu versenken gedacht habe: die Behübschung der persönlichen, unmittelbaren Ambiance, des trostlos nackten Daseins.

Ich als leidenschaftlicher Zuseher, bleiben wir im österreichischen Sprachduktus, und genauso schneller Wiederabschalter dieser ganzen Programme, die den kreativen TV-Gesellschaften der nur noch kuckenden und nicht mehr selbst rührenden Konsumenten gewidmet sind, staune des öfteren über die bisweilen seltsamen Geschirre, die den schönheitsbewußten Völkern angelegt werden. Die auf die Tische der nach Außergewöhnlichem Gelüstetenden, von ebensolchen Formalästhetikern wider form follows function für sie zurechtdesignten und via Geschmacksbildführern vorgezeigtem Tafelschmuck läßt mich immer wieder rätseln. Sie stell(t)en jedes Mal aufs neue für mich Aufgaben — um des besseren Allgemeinverständnisses willen müßte ich wohl Herausforderungen schreiben — der Infragestellung dar: Wer verklebt hier eigentlich wem den klaren Blick? Die Ästhetiker der Programme den Zuschauern oder umgekehrt? Da ich der Ursache ungewiß bin, verzichte ich vorsichtshalber auf meine weit ausholende Meinung. Sie liefe letztendlich doch wieder auf meine puristisch befleckte Ansicht hinaus, daß diese ganzen Firlefanzereien von der eigentlichen Tristesse ablenken sollen.

Angedeutet habe ich's hier bereits mal (ich finde es nicht, nichtmal auf meiner eigenen Seite und auch nicht mittels des also nur scheinbar genialen apfeligen Spotlight), daß das ach so vernunftbestimmte Frankreich, womit ich Corsica also wieder heimhole ins Reich, nach meinen Beobachtungen der ärgste Kitschproduzent zumindest Europas zu sein scheint. Man vermißt das gute alte ancien regime eben doch ziemlich, ein wenig vom Hof des Sonnenkönigs möchte man doch visuell schnuppern. Da man einen solchen nie hatte, ist Deutschland zumindest formal vermutlich wesentlich «moderner» ausgerichtet. Das Ihnen vorgesetzte Geschirr könnte deshalb, komme ich wieder auf die Geschmackssache des Affen zurück, auf den Teil der von mir erwähnten Besucher von der rechtsrheinischen Seite zurückzuführen sein, der die ein bißchen klarere Linie bevorzugt (mit einem kleinen Zugeständnis an die geliebte Tierschützerei). Aber vielleicht tue ich denen Unrecht. Es könnte schließlich sein, daß der Wirt des von Ihnen aufgesuchten Etablissements auf die Wohlgeratenen aus dem Yachthafen gehofft hat und weiterhin hofft, deren Fahrzeuge schließlich auch nicht aussehen wie Kähne des von ihnen zurückersehnten Barocks, sondern eher gestaltet sind wie beispielsweise der Erfurter Dom, der im unten abgebildeten Fall einer protestantischen, also entweihend umgewandelten oder an seine Umgebung angepaßten Kirche ähnelt. Welteinheitlich wie die globalisierte Küche. Wenn Sie wieder vorbeikommen, schlagen Sie den Wirtsleuten doch eine andere, allgemein verständlichere Symbolik vor: zum genießerischen Schlucken den immer gültigen Fisch statt (Schild-)Kröte. In der Form paßt er gleichgut aufs Geschirr. Da steht denn auch: «ICHTHYS ist das griechische Wort für Fisch. Es diente den ersten Christen als Codewort des gegenseitigen Erkennens.» Womit wir beim Fundamentalen wären.

Ach, ich höre lieber auf. Zu heizen. Bevor mir die Suppe überkocht.

Ausgeliehen bei La chose: Sur Christoph Rihs: La raison poétique

Wo haben Sie denn diese Photographie her? Klammheimlich selbst bei Tisch belichtet und via Äther eingestellt?



enzoo   (14.06.12, 10:08)   (link)  
selbst
bei tisch belichtet, aber ganz und gar nicht klammheimlich. ich meine, dass ich etwas, was mir gegen bezahlung zum essen vorgesetzt wird, auch ansehen darf, und fotographieren ist im wesentlichen nichts anderes als die belichtung einer künstlichen netzhaut, die als in meinem besitz befindlich sehen darf, was ich mit meinen natürlichen netzhäuten sehe.

leider wird in so einem falle das fotographieren derart ausgefallenen essgeschirres von den darreicherInnen vermutlich als lob und zustimmung für das dargebotene interpretiert. mein französich, so man das überhaupt so nennen kann, reicht unerfreulicher weise nicht dazu aus, so ein missverständnis zu klären. in einem lokal, dessen küchensprache ich ein wenig besser kann, würde ich schon zu erklären versuchen, was mir dazu einfällt.


jean stubenzweig   (16.06.12, 14:06)   (link)  
Haben Sie sich corsu,
also eher ein bißchen in napoleonischem Italienisch mitgeteilt? Davon gehe ich ein wenig witzelnd aus. Oder spricht man dort Österreichisch, gar Weanerisch? Denn Englisch in Frankreich? In Paris vielleicht, bei der Jeunesse des beschleunigten globalisierten Lebens. Aber Paris ist nicht Frankreich. Andererseits ist das da unten auf der Insel ohnehin so eine Art Diaspora, in der man gezwungen ist, sich Fremden in der Fremde gegenüber allgemeinverständlich zu machen. Dort spricht folglich auch selten jemand vom Ordinateur, wenn der Rechner gemeint ist.

Ich bin davon überzeugt, daß man Ihr Begehr um Ablichtung des Objekts der genüßlichen Begierde als Lob und Zustimmung aufgefaßt hat. Kitsch hat Hochkonjunktur. Wobei der wiederum eine Angelegenheit der Interpretation ist. Mir behilflich ist dabei nach wie vor Milan Kundera.
Der Streit zwischen denen, die behaupten, die Welt sei von Gott erschaffen, und denen, die denken, sie sei von selbst entstanden, beruht auf etwas, das unsere Vernunft und unsere Erfahrung übersteigt. Sehr viel realer ist der Unterschied zwischen denjenigen, die am Sein zweifeln, so wie es dem Menschen gegeben wurde (wie und von wem auch immer), und denen, die vorbehaltlos mit ihm einverstanden sind.

Hinter allen europäischen Glaubensrichtungen, den religiösen wie den politischen, steht das erste Kapitel der Genesis, aus dem hervorgeht, daß die Welt so erschaffen wurde, wie sie sein sollte, daß das Sein gut und es daher richtig sei, daß der Mensch sich mehre. Nennen wir diesen grundlegenden Glauben das kategorische Einverständnis mit dem Sein .

Wurde noch vor kurzer Zeit das Wort Scheiße in Büchern durch Pünktchen ersetzt, so geschah das nicht aus moralischen Gründen. Sie wollen doch nicht etwa behaupten, Scheiße sei unmoralisch! Die Mißbilligung der Scheiße ist metaphysischer Natur. Der Moment der Defäkation ist der tägliche Beweis für die Unannehmbarkeit der Schöpfung. Entweder oder: entweder ist die Scheiße annehmbar (dann schließen Sie sich also nicht auf der Toilette ein!) oder aber wir sind als unannehmbare Wesen geschaffen worden.

Daraus geht hervor, daß das ästhetische Ideal des kategorischen Einverständnisses mit dem Sein eine Welt ist, in der die Scheiße verneint wird und alle so tun, als existierte sie nicht. Dieses ästhetische Ideal heißt Kitsch.
•••
Der Kitsch ist eine spanische Wand, hinter der sich der Tod verbirgt.

Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins, 1984, hier zitiert nach: Fischer TB 1988, S. 237 f. bzw. 242

Anderseits, so gibt Henning Ritter via Umbätterer indirekt zu bedenken: «Da die Kultur kein schlechtes Gewissen mehr habe, sei sie auch nicht mehr so vehement an einer Abgrenzung ihrer Hochformen von ihren Niederungen interessiert.»


enzoo   (18.06.12, 09:32)   (link)  
wie
ich mich mitgeteilt habe, oder es zumindest versucht habe, vermag ich nicht zu beurteilen, da müssen sie schon die fragen, die von mir mit meinem gestammel, das ich für französisch halte, belästigt wurden. interessanter weise hatte ich aber das gefühl, dass sich nach zwei tagen eine gewisse flüssigkeit im gespräch einfand (auch abseits des abendlichen barbesuches), die nach zwei weiteren tagen wieder verschwand. vielleicht lag das aber daran, dass ich möglicher weise unbewusst versuchte, kompliziertere sätze zu formulieren, was ich nicht mit bestimmtheit sagen kann, da ich bei der konversation im französischen so konzentriert sein muss, dass ich mich nicht dabei gleichzeitig sprachlich analysieren kann. aber es kann sein, dass ich das ja nicht mal in meiner elternsprache deutsch kann.

mir ist das ja grundsätzlich egal. ich gehe davon aus und verlange es definitiv von mir und meinen gegenübern, dass man sich bestmöglich zu verständigen gibt, auch mit fetzen aus allen sprachen, über die man einen kleinsten gemeinsamen nenner ermitteln kann. daher kauderwelsche ich in allen sprachen, von denen ich ein bissl was kann, ungeniert und mit lust, weil man sich so kennenlernt, und das ist es schliesslich, worauf es ankommt. ich bin kein lehrer, der die sprachkenntnisse seines gegenübers zu beurteilen hat, und die gleiche einstellung erwarte ich mir von meinen gesprächspartnern. dabei sind die ungarn die freundlichsten: ich habe diese sprache vor einigen jahren gelernt, um auch die nur ungarisch sprechenden familienteile meiner frau besser kennenlernen zu können: da konnte ich feststellen, dass die ungarn flächendeckend in verzückung geraten, wenn sie hören (unvermeidlicher weise ist das nciht zu überhören), dass da ein mensch freiwillig das unmögliche sprachdings, das sie täglich verwenden, erlernt hat und schalten in einen einfachen und langsamen konversationsmodus, der es auch für immer zu anfängern verurteilten wie mir ermöglicht, ein halbwegs vernünftiges gespräch zu führen. davon können sich so manche sprachvölker eine scheibe abschneiden.

milan kundera muss ich wohl einer überprüfung unterziehen. als ich ihn damals, als er en vogue war, las, hat er mir nicht gefallen und ich hab auch jeden inhalt der wenigen bücher, die ich von ihm las, aus meinem gedächtnis gelöscht. gefühlsmässig würde ich ihn ins regal neben diesen coelho stellen, aber es scheint, als wäre das nicht gerechtfertigt. weniger philosophisch hat ja charles bukowski das thema behandelt: "du kannst hundert jahre alt werden, ohne je eine frau gevögelt zu haben, aber nach zwei wochen ohne scheissen bist du tot." auch vor dreissig jahren gelesen, finde ich das in seiner schlichtheit noch immer sehr elegant.


jean stubenzweig   (18.06.12, 14:16)   (link)  
Nicht nur bei Ungarn
oder in deren ferner Umgebung, sondern aller Wahrscheinlichkeit auch in Frankreich und dessen ex terra werden Sie festgestellt haben, wie ein Mensch sich freuen kann, wenn ein anderer auch nur ein wenig in seiner Sprache artikulieren kann. Ich selbst bin dabei leider leicht gesprächsbehindert, da ich durchweg meine, die grammatikalische Sortiermaschine meiner obengelagerten Festplatte anwerfen zu müssen, bevor ich den Mund aufmache. Diese fehlende Spontaneität bedauere ich sehr. Ich bin eben einer dieser verklemmten Perlenaufreiher. Fast mit Euphorie erinnere ich mich an den Abschluß eines Gespräch in einer feucht-fröhlichen Runde in einem vergangenen Jahrtausend, als mir im sonnigen Seattle nach der eigens für mich aus dem dann doch wieder nicht ganz so nahe gelegenen Quebec mühsam besorgten dritten Flasche Madiran ein hervorragendes Englisch attestiert wurde. Einige Jahre war ich mit einer Dame liiert, die ich vermutlich allein deshalb innig liebte, weil sie eine Sprache für Einheimische bereits drauflosholperte, wenn sie deren erste Töne vernommen hatte. Das ist eine Gnade, die ich manchmal neiderfüllt an mir vermisse. Durchaus am wohlsten fühle ich mich im Zusammensein mit Menschen, die sich um nichts scheren. Und lustig kann es obendrein sein. Ich denke dabei aus der Erfahrung an einen florentinischen Künstler mit Vorliebe zur englischen Sprache, dessen Ansagen auf meinem Anrufbeantworter mich beinahe jedesmal dazu brachten, mich baldmöglichst mit ihm zu treffen, auf daß er mir den genaueren Grund seines Ansinnens übersetze. Ich vermute, daß sein Radebrechen lediglich ein Vorwand für die dann folgenden Begegnungen waren. Ein Genuß war es allemale. Sie gehören also offensichtlich zu den Kindern der Sonne. Demnach haben Sie's nicht nur gut, Sie tun's auch.

Kundera beziehungsweise diesen seinen Roman habe ich vor allem deshalb erwähnt, da ich dessen Kitsch-Erklärung für außerordentlich treffend halte. Er hat in L'Insoutenable Légèreté de l'être durchaus weitere höchst interessante Passagen zur Weltdeutung geliefert, die mir in guter Erinnerung geblieben sind, in erster Linie wohl deshalb, da er seine neue Heimat Frankreich, überhaupt den Ost-West-Kontrast teilweise köstlich bespöttelt hat. Allerdings möchte ich nach dreißig Jahren der Lektüre von unerträglicher Leichtigkeit keine Garantie mehr dafür abgeben, ihn für den bemerkenswertesten Schriftsteller schlechthin halten zu müssen, zumal auch mir nachfolgende Schriften bei weitem nicht den Eindruck hinterlassen haben wie diese Frage nach dem Sein.

Zu Coelho kann ich mich nicht äußern, da ich kaum etwas von ihm gelesen habe; und das, obwohl ich Brasilien durchaus nahestehe, allerdings ohne diese volksgemischte Mentalität aus Pille versus Zauber je wirklich verstanden zu haben. Und auch der olle Bukowski gehörte nicht eben zu dem von mir bevorzugten Lesestoff. Mir war auch das zu fremd. Mit Bukowski beziehungsweise dessen Zeit, die wohl einhergeht mit den Intentionen der Beat Generation, konfrontiert hat mich erst Hans Pfitzinger; zuvor war das für mich nichts anderes als Kenntnisnahme und Pflichtübung. Aber vielleicht muß ein Normalsterblicher ohnehin erst alt werden, um sich mit Charles' Philosophie befassen zu können.


enzoo   (19.06.12, 14:49)   (link)  
gerade bei den franzosen
musste ich mehrfach gegenteilige erfahrungen machen, also bei den richtigen jetzt, nicht bei den corsaren. sowohl in paris als auch in nizza (was auch nicht ganz fronkreisch ist, zugegeben) in durchaus guten, vierfachbesternten hütten, dort, wo das fremde nichts fremdes sein sollte, antwortete man an der rezeption des hotels auf meine in englischer sprache vorgebrachte frage auf französisch! nun hatte ich keinen sticker an mir heften mit der aufschrift "on parle francais", daher konnte mein gegenüber nicht wissen, dass meine kenntnisse für das verstehen der antwort ausgereicht hätten. aber so eine unhöflichkeit in einem vierstern hotel? hallo? hier sollte das englische so flink und selbstverständlich gesprochen werden wie die muttersprache! umgekehrt konnte ich, ncht nur im hotel, sondern in alltäglichen situationen der touristischen existenz, nicht erleben, dass, wenn ich auf französisch auskunft begehrte, irgendwer, wo auch immer, einen deut langsamer oder deutlicher gesprochen hätte bei seiner/ihrer antwort (und das lag mit sicherheit nicht daran, dass ich perfekt gesprochen hätte und so für einen eigenen gehalten hätte werden können). als wäre es selbstverständlich, dass man fremdes rasantgenuschel versteht! weder mit dem spanischen, noch mit dem italienischen ist es mir je so ergangen, da sind die franzosen und -innen schon eigen.

von coelho habe ich zwei in umfang und inhalt erbärmliche büchlein gelesen, das reichte mir dann für den rest des lebens. dass seine bücher nciht umfangreicher sind, zumindest die beiden, die ich gelesen habe, dafür bin ich ihm recht dankbar: so war der zeitliche schaden nur ein geringer. von bukowski las ich als recht junger mann recht viel, und ich erinnere mich noch heute der voyeuristischen scham, die mich dabei befiel. vieles war mir viel zu hart, weniger die sex- und alkoholgeschichten, das kannte ich ja aus eigenem erleben zumindest in der form "missbrauch light", aber die gewaltszenen, die er mit der gleichen schonungslosigkeit schrieb, die verursachen heute noch unwohlsam in mir, wenn ich an sie denke, obwohl deren lekture nun schon drei jahrzehnte hinter mir liegt. antiamerikaisch indoktriniert, war er für mich wohl eine art zeitzeuge und beweismittel dafür, dass dieser antiamerikanismus begründet und vor allem berechtigt war; gleichzeitig war er, obwohl in zeitlicher übereinstimmung mit den studentenunruhen und jerry rubin und diesen kalibern immer unaufgeregt unpolitisch und nur auf sein eigenes verpfuschtes leben konzentriert in seinen büchern, was seine echtheit und vertrauenswürdigkeit als zeitzeuge ja noch unterstrich. genau so offen und pragmatisch war er auch in der beschreibung der körperlichen notwendigkeiten, und vermutlich darum habe ich mir diesen einen, oben zitierten satz gemerkt.


jean stubenzweig   (20.06.12, 15:26)   (link)  
Ein kleines Mißverständnis
hat sich da aufgetan, vermutlich, da ich mich mal wieder nicht klar genug ausgedrückt habe, weil ich als Solipsist davon ausgehe, meine Gedankengänge seien ohnehin bekannt. Ich meinte zwar, daß man sich in Frankreich darüber freuen würde, spräche man ein wenig der Sprache des Landes. Doch in Vergessenheit geraten ist dabei offenbar, zu erwähnen, wie wenig bereit man ist, eine andere zu sprechen. Der besternten Gastronomie arbeiten zwar viele Menschen aus allen erdenklichen. bervorzugt afrikanischen Ländern zu, aber die kommen überwiegend aus Regionen, in denen das Französische Amtssprache ist. Überhaupt fühlt man sich in diesem Gewerbe häufig der Tradition sehr nahe, an gute alte Zeiten zu erinnern, die sich oftmals im klassischen Chanel-Costume, also Tailleur, bestehend aus Rock und gern bestickter Jacke, des Empfangs ausdrückt, der gerne von der Madame des Maître de cuisine ausgefüllt wird. Dort kann es durchaus Erstaunen auslösen, wenn man das führende Personal fragt, ob es schon einmal davon gehört habe, daß beispielsweise Algerien nicht mehr zu Frankreich gehört. Das sind diese Menschen, die, sollten sie es überhaupt tun, tun können, denn ohne sie geht es nunmal nicht, im Urlaub das Heimatland nicht verlassen. Das wiederum ist allerdings auch kein Problem, denn schließlich ist eine Reise zu karibischen Inseln und solchen im indischen Ozean per Inlandsflug zu bewältigen.

Ich hab's ohnehin nicht so sehr mit diesen Cuisine étoile. Die bourgeoise reicht mir völlig. Sie ist allerdings auch nicht mit dem zu vergleichen, was man in Deutschland oder Österreich unter bürgerlicher Küche versteht; wobei ich auch die nicht unbedingt verachte. Die Achtung vor gutem Essen ist überall im Land so ausgeprägt, so sehr Bestandteil des Lebensgefühls, daß selten schlechtes Bauchgefühl aufkommt wie etwa im rechtsrheinischen Landgasthof, wo sich die als vom Chef persönlich gerührte Sauce hollandaise oftmals als schlichte, aber mit vielen Zusatzstoffen zur Längerhaltbarkeit aufgepeppte Masse herausstellt. So etwas ist mir in Frankreich noch nie passiert. Das würde einer Köchin dieser aus der Revolution stammenden Volksküchen nicht nur gegen die Ehre gehen, sie käme gar nicht auf die Idee, daß es solche Produkte überhaupt geben könnte.

Dorthin gehe ich also sehr gerne, wenn möglich, also in Begleitung von Einheimischen, da ich mich alleine nicht hineingetraue oder auch, weil sie ohne Ortskennisse meistens nicht zu finden sind, die Restaurationsstationen der Ärmerenspeisung, in Montendre, in der Charente-Maritime unweit der Stadt Cognac gelegen, wo der Wein bis hinauf nach La Rochelle (siehe auch das Ende des Generationheims) ausschließlich für Pineau des Charantes angebaut wird, diesem nicht ungefährlichen Gesöff, dessentwegen der Bruder des Cafébesitzers in der rue Nicolas zweimal jährlich aus Paris anreiste, um sich damit jedesmal aufs neue fürchterlich zu besaufen, weil er immer vergaß, daß dieses köstliche Stöffchen nicht eben wenig Alkhol enthält, oder bei Florence mit deren himmlischen Tierchen in Saint-Léon-sur-Vézèrc in der Dordogne oder anderswo. Höchst selten befinden sie sich im Zentrum wie in Grandrieu im Lozère, wo Madame für die Handwerker kocht, während der Kultivierer des Landes, der Fermier, zu der seinen nachhause zu trekkern hat, denn gegessen wird schließlich bei Muttern. Wobei dieses Städtchen genannte Dorf ohnehin über keine erwähnenwerte Ausdehnungen verfügt, vergleichbar wäre die dortige Bauernwirtschaft mit der ordentlichen Kneipe in Reillane in der Haut Provence, wo ebenfalls gegessen wird, was auf den Tisch kommt.

Zwar hat auch an diesen Stätten der nach wie vor bis zu zweistündigen Erholung der Euro die Preise ordentlich aufgeblasen, aber für zwanzig von ihnen erhält man immer noch ein sehr gutes Mahl, inclusive Wein, nicht gerade ein Grand Cru, aber immer ein angenehmer, schmackhafter Verschnitt. In Frankreich gibt man sich ohnehin nicht dieser deutschen Hysterie des Weines hin. Allenfalls zu einer grande Fête, wenn auch nicht nur zur nationale. Mehr als ein, zwei kleine Ballons braucht es in der Regel auch nicht zum Essen. Wasser gibt es ohnehin und überall kostenlos, jedenfalls außerhalb der überwiegend touristisch frequentierten Orte, während man beim rechtsrheinischen Nachbarn grundsätzlich scheel angeguckt wird, bittet man um Wasser aus dem städtischen Brunnen oder schlicht aus dem Hahn. Das hat allerdings auch damit zu tun, daß Eau gazeuse, mit Kohlensäure versetztes Wasser im Land nicht zu den bevorzugten Durstlöschern gehört. Dafür muß man dann nicht eben wenig bezahlen. Auch fühle ich mich an blanken Holztischen wohler als an weißgedeckten mit zudem oft unbenutzbaren, weil versteiften, nach dem Prinzip japanischer Faltkunst Origami hochgezirkelten Servietten, die obendrein meist noch mit Kerzen und bunten Blümchen zudekoriert sind, hinter denen man seine Gesprächspartner, die nunmal zum angenehmen Speisen gehören, nicht einmal mehr zu ahnen, geschweige denn zu hören vermag. Das gibt's durchaus auch großstädtisch. Banquier in Paris wäre zu nennen, wo man zwar nicht mehr so sensationell wie vor gut zwanzig Jahren zu essen bekommt, aber immer noch für deutsche Verhältnisse überdurchschnittlich gut und vor allen Dingen zu einem Preis, hinter dem so mancher Bratklopser zu rätseln beginnt.

In guter Erinnerung, wenn auch bei weitem nicht so preiswert, ist mir auch die Berliner Weinstube am Savignyplatz, die es in der Form allerdings leider nicht mehr gibt, da Yves Risachèr sich bereits vor einiger Zeit zurückgezogen hat. Er hatte es wie ich nicht so mit der Heimat Elsaß, er nannte sich lieber einen Pariser, aber der von ihm selbst ausgesuchte und dort persönlich einmal jährlich abgeholte Riesling schmeckte weitaus schwungvoller als in den dortigen Touristenbudicken, etwa in diesem unsäglichen Barr, aus dem allüberall Weinrentner quellen. Seinen Nachfolger kenne ich nicht. Er führt den Namen seines Vorgängers im Aushängeschild. Aber die Karte sieht nicht überladen aus, und auch der mir einst gereichte Moulis von Barbarin, der sich noch immer wohlig in meinen Geschmacksnerven räkelt, scheint sich noch im Lager zu befinden. Es gehörte zu den von mir an sich nicht sonderlich gemochten Ritualen, dort einzukehren, in der Gewißheit, samt gutem Wein essen zu können wie in einem dieser erwähnten französischen Landgasthöfe oder auch innerstädtischen wie dem in Nancy, ganz in der Nähe der Place Stanislas, wo man sich von den vielen Kellnern behandelt fühlt wie dirigiert von Madame aus der Kolonialzeit, die jedoch gekennzeichnet sind von blanken Holztischen und von mittäglich drei angebotenen Menus mit vier bis sechs Gängen. Am Abend ist das Angebot erweitert wie bei den Stationen der Wiederaufpäppelung für die Handwerker auch.

Auf die westliche Weltliteratur komme ich später oder morgen zurück. Auch ein Privatier hat viel zu tun, — warten wir's ab —, nicht nur im Schaukelstuhl oder auf dem Sofa fürs Nickerchen. Das Canapé hat schließlich auch noch eine neuere Bedeutung. Erst kommt die und dann die Ruhe danach.


enzoo   (21.06.12, 10:34)   (link)  
da haben sie
wohl recht. es ist mir in französischen landen noch nicht gelungen, wirklich schlechtes essen zu mir zu nehmen. selbst wenn ich einen experimentierfreudigen tag feierte (was häufig vorkommt) und abends etwa ein menü nahm, dessen zusammenstellung mir bis zum servieren aufgrund ausreichender sprachkenntnisse manchmal sogar zu 100% unklar gewesen ist, war nie etwas retournierungsverdächtiges dabei. das kann man in österreich oder deutschland allerdings recht schnell erleben, wenn man in einem abgelegenen gasthof landet, dessen stube verdächtig leer ist und man aber aufgrund hungers und grosser unlust, weiterzusuchen doch widerwillig etwas von der abgegriffenen karte, die von eintöpfen und paniert herausgebackenem fetttrieft, wählt, dass man da etwas erwischt, was nicht nur die geschmacksnerven, sondern auch die verdauungsorganerie derart beleidigt, dass man nicht nur die ehre hat, die versiffte gaststube kennenzulernen, sondern aufgrund unnatürlich sprunghaft gestiegenen körperinnendruckes unmittelbar danach auch den locus, der sich dann als ein wahrer ort des grauens herausstellt, nicht nur wegen des psychedelischen fliesenmusters in wahlweise dunkelbraun/moosgrün oder blutopferrot/orange/gelb, sondern auch aufgrund der reinlichkeit bzw. deren abwesenheit mitsamt des einhergehenden olfaktorischen faustschlages auf die nase. den wirt hinter der budel (theke) rührt das wenig, darum hat es auch wenig sinn, derartiges zu monieren. weshalb solche abspeisestätten dann auch wirtshäuser sind und nicht gasthäuser.


jean stubenzweig   (21.06.12, 14:14)   (link)  
Ein positives Beispiel
von einigen Einkehrungen der besonderen Art auch in deutschen Landen, die sich mal mit «frisch auf den Tisch» brüsteten, mag ich hervorheben. Allerdings bin ich auch dort, wie bei meinen Teilhaben an der französischen Ärmerenspeisung, hineingeraten, ohne die eigene passable Spürnase für Witterungen der gastronomischen Seltsamkeiten ingang setzen zu müssen. Ernährungstechnische Orts- beziehungsweise Regionkenntnisse von Einheimischen sind mir ohnehin nach wie vor allemale mehr wert als jeder noch so jubelige internette Hinweis, der überdies allzuoft von fast schon komischen Geschmacksverirrungen bestimmt ist. Ein Freund, allerdings einer, der von der Macht des Essen beseelt ist und der mir lange Zeit so etwas wie ein kulinarischer Blindenhund war, führte mich in seiner heimatlichen Pfalz in ein dörfliches Wirtshaus im Großraum Speyer. Spargel sollte ich beim dortigen Bauern zunächst lediglich betrachten und beschnuppern. Dann meinte er, auf einen Schoppen, das heißt dort ein riesiges Glas, fast so groß wie die bayerische Halbe, meistens von der erfrischenden Rieslingrebe, könne man ja wohl reingehen in die Stube. Um meine Abneigung gegen Interieur aus Resopalien und sonstigen derben Gestaltungsvorstellungen wissend, warnte er mich vor. Es würde mir garantiert nicht gefallen. Also Augen zu und hinein. Um nicht allzu unhöflich zu sein, öffnete ich ein Auge dann doch leicht, gab der vermutlich vom frühmorgendlichen Spargelstechen und überhaupt auch ein bißchen anders ziemlich eingedreckten, allerdings zwanglos freundlichen Wirtin zurückhaltend artig das Händchen und hörte den beiden zu. Sprechen konnte ich nicht, nicht nur, weil ich den wie aus dem achtzehnten Jahrhundert klingenden Dialekt, vergleichbar mit dem in abgelegenen Gebieten teilweise heute noch gesprochenen Français canadien — bei der Gelegenheit fällt mir das erwähnte Sprachproblem ein, wie im Land von jemandem gesagt wird, der gebrochen französisch spricht: parler français comme une vache espagnole — der Ersteinwanderer, nicht verstand, den die Frau des Hauses und mein Blindenhund bellten, sondern weil mir die außerordentliche Häßlichkeit des Raumes den Atem nahm, der mit der ersten Anschauung des Banquier vergleichbar ist, vervollständigt vom Blick in die fast genauso wie die Hausfrau verdreckte Küche.

Nie würde ich dort essen wollen, waren meine abschließend zusammenfassenden Gedanken, als mein Begleiter, der, wie unser Jüngster, der auch mit mittlerweile Mitte zwanzig noch alle zwanzig Minuten etwas Warmes in den Bauch braucht, sich nach dem Tagesangebot für den Mittagstisch erkundigte. Wortlos stand die Köchin auf, ging in ihr Revier und kam eine halbe Stunde später zurück mit drei Schüsseln, inhaltlich bestehend aus, wie anders, Spargel, Kartoffeln und Sauce. Daß das Gemüse gut schmecken würde, war mir klar, schließlich kaufte der befreundete Gourmet und Gourmand gleichermaßen den Asparagus nur dort ein. Aber bereits die Erdapfeln, auch die aus eigenem Anbau, verschafften mir ein außerordentliches, ein geradezu himmlisches Erlebnis des Geschmacks. Aber die Sauce hollandaise, die war nicht anders zu bezeichnen als mit einem lang anhaltenden Coitus, dessen interruptus erst dann erfolgte, als auch das allerletzte Restchen vom Teller geleckt war. Ja, mein Blindenhund ging ungeniert mit den Fingern in die Saucière, und als ich das freudige Lächeln der an den Ausschank lehnenden Frau Wirtin sah, vergaß auch ich all das, mit dem man mich im Elternhaus nahe der Todestrafe gelehrt hatte für den Fall von solchem comportement sans-gêne, das im deutschsprachigen Internet auch unter falscher Etikette kursiert. Wann auch immer ich zur entsprechenden (Jahres-)Zeit mich zu Besuch beim Freund befand, ich hatte Verlangen nach dieser eigentlich unmöglichen Umgebung. Auf jeden Fall hat es mich gelehrt, Äußerlichkeiten hin und wieder einfach zu ignorieren.

Das Negativbeispiel aus der Perspektive der sogenannten Verbraucher, die über die Macht der das Angebot regelnden Nachfrage verfügen, ist das eines Gasthauses im Südholsteinischen. Ein aus der Nachbarschaft Zugezogener hatte ein nahezu verrottetes Haus am Ortsrand gekauft, es über die Dauer eines Jahres mit leidenschaftlicher Inbrunst wieder aufgerichet, es gediegen handwerklich ausgestattet, um dort am Bach endlich einmal wirklich gute Küche anzubieten. Sogar einen hervorragenden, also gewiß nicht eben billigen Koch hatte er engagiert. In den Anfängen war es durchaus eine Lust, dort hinzugehen, auch mit dem Maître de plaisir über das zu plaudern, was an Besonderheiten oder auch einstigen, von Oma nicht mehr gelehrten, weil das vom Altenheim aus nicht mehr so funktioniert, Alltäglichkeiten in der Küche geschieht; ich gehöre durchaus zu denen, die beim Essen stundenlang über nichts anderes sprechen wollen als über das Essen. Es lief nicht, das Gasthaus. Selbst die Wildsülze, deren Säue der Wirt sogar persönlich erlegt hatte, auch die handgefangenen Fische fanden keine Gnade vor den Gaumen der Einheimischen, der Koch hatte längst reißaus genommen. Es war ihnen nicht einmal zu überkandidelt, es war ihnen schlicht alles zu teuer, da setzten sie sich lieber in den eigenhändig zubetonierten und grüngestrichenen Garten — Kneipensterben ist nicht nur eine Folge des Fernsehens und des sonstigen nachfolgenden Medienangebots — und ließen sich, um nicht selber kochen zu müssen, vom ortsansässig gewordenen «Inder» mit internationaler Küche versorgen. Über die Tatsache, daß sie dafür häufig mehr hinblättern mußten als auf den Tresen des bei weitem nicht so schmuddeligen und lieblosen Wirtes, machten sie sich keine weiteren Gedanken. Der hat sein gastliches Haus mittlerweile nur noch an Wochenden geöffnet und bietet, vor allem für die die kurvige Strecken der Umgebung liebenden Motorradfahrer aus Hamburg bis Kiel, gigantisch gefüllte Teller mit Currywurst und Fritten aus der Großpackung; früher schnitzte die sein Koch selber. Im Sommer gibt's als Nachtisch Eiscrème vom Billigheimer, allenfalls ein wenig aufgehübscht mit Früchten, aber nicht einmal vom Erdbeerbauern aus dem Ort, sondern aus der Dose.

Jetzt muß ich rasch erstmal los, opn Dörp gibt's noch die Mittagsruhe, um die notleidende pharmazeutische Industrie massenhaft zu unterstützen. Die Gelegenheit werde ich nutzen, den letzten Fleischer vor der Autobahn zu besuchen, der auch für unseren Biobauern im Nachbarort Kühe und Schweine ins Jenseits befördert, der also nicht gewillt ist, seiner Wurst deren Zusätze beizugeben.















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