Spielanalyse. Vorfeldbericht und Abtritt. Nachgetreten


Wie mir aus unerfindlichen Quellen, vermutlich aus den sizilianischen Gengeistern meines bastardisch überquellenden Kopfes, zugetragen wurde, war die deutsche Bundeskanzlerin bei Herrn Monti vorstellig geworden und hat ihm alle Rettungsschirme dieses globalisierten Europas versprochen für den Fall, daß er seinen Einfluß auf die Spieler seiner Mannschaft geltend machen würde; es würde ihm angesichts deren Bestechlichkeit sicherlich nicht allzu schwer gemacht werden. Sie wolle nicht nach Kiew reisen, um dann auch noch neben diesem verlogenen Arbeiterkind Janukowytsch sitzen zu müssen. Sie sei schließlich Bundeskanzlerin aller Europäer und habe das zu demonstrieren. Aus der lahmend satirischen Ecke meines von Picabia gesteuerten Rings kam dann noch der Zusatz, sie wolle sich für den gleichwohl unwahrscheinlichen Fall, daß der sozialkommunistische Mob ihres zweifellos geliebten, weil mittlerweile auch im Westen glühend blühenden Landes ihr bei der nächsten Wahl einen Knock out versetze, wenigstens die Möglichkeit offenhalten, als Hauptkommisarin die führende Rolle Europas zu übernehmen. Im Notfall sei sie auch mit dem europäischen Friedensnobelpreis nicht uneinverstanden.

Ich habe mir im Fernsehen ein Fußballspiel in gesamter Länge das letzte Mal angegeschaut, als derlei Beerdigungen noch nicht neudeutsch public viewing genannt wurden. Ich meine, es war 1974, und mich zu erinnern, es wäre spannend gewesen. Heutzutage scheint mir selbst ein Tatort kurzweiliger zu sein. Da ich andererseits nicht ganz so interesselos bin, wie ich bisweilen vorgebe, schalte ich, etwa bei quotiell erforderlichen Liebes- oder sozialpsychologischen Traurigkeitszenen, mich hin und wieder zu, um wenigstens den Spielstand zu erfahren. Das war auch gestern so. Beim ersten Mal las ich, aus deutscher Perspektive dargestellt: 0 zu 1. Dabei ertappte ich mich bei einem lautlachenden Jauchzer, den ich angesichts dieses Spiels bei mir nie auch nur geahnt hätte. Beim zweiten Zuschalten hieß es dann 0 zu 2. Kein Jubel mehr, die Gefühle unterdrückende Vernunft hatte mich wohl zurückgemäßigt, aber ein leicht breites Lächeln ließ sich dennoch nicht verhindern. Vor- und Nachberichte tue ich mir eigentlich nie an, da mir analytische Äußerungen wie die gestrige einer Führungspersonalie — Das ist aber auch eine abgezockte Truppe! Diese Italiener. — zu sehr mein Sprachverständnis irritieren, das daran ausgerichtet ist, daß diejenigen von Zockern abgezockt würden, die an Gewinnspielen teilnähmen. Gestern aber blieb ich dran. Ich wollte es immer und immer wieder sehen und auch die Klagelieder der Begründung hören, nach der mal wieder eine Schlacht gegen die übermächtige Statistik verloren wurde.

Nein. Ich habe nichts dagegen, daß eine deutsche Fußballmann- oder Frauschaft ein Spiel gewinnt. Es ist mir so egal wie Sieg oder Niederlage der Equipe Tricolore, der Quadra Azurra, der Kiwi oder anderer Nationalumwehten. Aber das damit immer wieder verbundene Gebrüll um den Stolz, der auch deutscherseits bei allzu vielen aufkommt, die auf diese Weise Familienersatz zu finden hoffen für beispielsweise die im Altenheim zurückgelassenen Omis und Opis oder weil sie sonst nichts haben, über das sie sich freuen könnten, der geht mir auf die Nerven. Und vor allem verletzt das Rundum-Geflagge mein formalästhetisches Empfinden. Ich hab's nämlich nicht so mit derartigen Sommermärchen. Mir kommt dazu eher Shakespeare in den Sinn. Ich bin schließlich (Kultur-)Pessimist. Mit ihm also warte ich leise zweifelnd für mich hin.
Im Frühling bin ich fern von Dir gewesen.
Als der April, mit heitrem Putz geschmückt,
Goß Geist der Jugend froh in alles Wesen,
Daß lacht' und hüpfte selbst Saturn entzückt.

Und doch ließ weder froher Vögel Singen
Noch bunter Blumen süßer Duft auch nur
Ein einzig Sommermärchen mir gelingen,
Mich jene pflücken auf der stolzen Flur:

Der Lilie weiß, es hat mich nicht geblendet;
Der Rose tiefes Roth, ich pries es nicht:
Das waren Wonnebilder nur, vollendet
Nach einem Muster – deinem Angesicht.

Mir schien es Winter noch, und da du ferne,
Spielt ich, als wär's Dein Geist, mit diesen gerne.

Wiliam Shakerspeare, Sonett 98, in der Übersetzung von Karl Kraus, 1882


 
Fr, 29.06.2012 |  link | (1433) | 2 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Ertuechtigungen


prieditis   (30.06.12, 20:59)   (link)  
Ich finde, daß die deutsche Fußballnationalmannschaft das ganz großartig gemacht hat.
Da verlieren die mal einfach so und retten damit Europa und nebenbei vermeiden sie eine peinliche politische Kalamität.
Die Frau Bundeskanzlerin muss nicht nach Kiew! Toll!
Das haben die vor zwei Jahren ähnlich famos gelöst, indem sie den Niederländern die Chance zur Revanche für 1974 nahmen. Ha! (Kniepemänneken)


jean stubenzweig   (01.07.12, 11:42)   (link)  
Fußball habe mit Politik
nichts zu tun? Da soll noch einer einmal behaupten.

Sie bieten sich an für den Fall der Wahl eines neuen Bundestrainers. Zumindest eines der Nachtaktiker. Ich erlaube mir das Urteil, nachdem ich gestern beim Durchschalten in ein Gespräch unter sechs Augen auf Usedom — das allein ist ein Politikum — hineingeraten war und ein paar Minuten zwei Torwartlegenden zugehört habe. Bis dahin dachte ich, ich allein gebärdete mich wie ein uraltväterlicher Großvater. Sie hätten zwar Fehler um Fehler gemacht, die ja noch arg jungen Kicker, meinten die beiden. Ich habe da irgendwie herausgehört, sie hätten (der Nation gegenüber?) nicht gerade ihre Pflicht erfüllt. Und modern-kreativ denken könnten die allesamt auch nicht. Als sie beide, Toni und, voran Wortführer und -gestalter Oliver, noch in den Kampf gezogen wären, hätte man mehr Willen zum Sieg gezeigt. Der Begriff Spiel kam nicht zur Sprache.

Schönen Dank für den gelungenen Paß.















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Jean Stubenzweig motzt hier seit 5808 Tagen, seit dem Wonne-Mai 2008. Letzte Aktualisierung: 22.04.2022, 10:42



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