«Lapsi linguae»

Fremdwörter sind Glückssache, sagt der Volksmund, und bekanntlich hat der Volksmund ja meistens recht. Er hat sogar desto mehr recht, je demokratischer wir werden. Deshalb mußte eine Reform der Rechtschreibung durchgeführt werden, damit auch jeder Idiot Schoför schreiben kann. Idiot kommt übrigens aus dem Griechischen und meint ursprünglich den Privatmann, der sich nicht am öffentlichen Leben beteiligt, folglich den gewöhnlichen Menschen, den Laien, den Nichtkönner, den Stümper. Klaus Jarchow hübscht ihn ein wenig auf: In seinem Kommentar zum letztjährigen vorweihnachtlichen, nicht so ganz unidiotischen Ausfall von Bernd Graff nennt er ihn: der «eigensinnig Wissende». Aber überlassen wir das den Sprachwissenschaftlern.

«Ein deutscher Poet», schrieb Johann Christoph Gottsched 1730, «bleibt also bei seiner reinen Muttersprache, und behänget seine Gedichte mit keinen gestohlnen Lumpen der Ausländer.» Napoleon hat einige solcher Lumpen in unserer Sprache hinterlassen, man denke an Schorle oder Fisimatenten, gar nicht zu reden vom Bureau oder vom Trottoir. Was wird daraus nur werden? Büro kennt man schon lange, Bürgersteig hat sich in bester französisch-revolutionärer Manier auch schon langsam durchgesetzt — aber wer sagt schon noch Schose (oder, korrekt, Chose): «Ganz ohne Weiber geht die Schose (Chose) nicht!» — heißt's in Emmerich Kálmáns Operette vulgo Musical Csárdásfürstin. Wer weiß noch, was damit gemeint ist, wenn die Sprache darnieder geht? «Wo ist der Ariadnefaden, der uns aus der Scylla dieses Augiasstalles herausleitet?» fragte zu recht der Kriegsberichterstatter Herr Wippchen alias Julius Stettenheim und suchte nach einem «Modus effendi» der Russen im Krieg gegen die Türken.

Das fanden die im 19. Jahrhundert noch lustig (Achtung: Klage über den Verfall der Sitten beziehungsweise der Sprache!), heute lacht kaum noch einer, wenn auch vielleicht aus anderen Gründen. Trotzdem: Es ist schon ziemlich lange her, als ein Lokalredakteur der Süddeutschen Zeitung (des Herrn Dr. Graff) über «lapsi linguae» schrieb. Das klingt irgendwie komisch, noch komischer allerdings klingt der richtige Plural, lapsus mit langem u. Dann sollte man's vielleicht lassen, auch auf die Gefahr hin, sich selbst ‹ungebildet› vorzukommen. «Es ist die Höflichkeit Prousts», schrieb Theodor W. Adorno, «dem Leser die Beschämung zu ersparen, sich für gescheiter zu halten als den Autor.» Solche Höflichkeit haben nicht mehr viele. Herr Joffe gehörte auch mal zur Süddeutschen Zeitung.

Man weiß, daß Gustave Flaubert für seinen Roman Bouvard und Pécuchet über 1.500 Bücher verschiedenster Gebiete studierte — und das alles nur für eine, wie er selbst es bezeichnete, «Apologie der menschlichen Plattheit». Daraus läßt sich folgern, daß es eines großen Aufwands bedarf, um die Dummheit zu verstehen. Der Umkehrschluß jedoch lautet, wieder mit Adorno: «Noch der armseligste Mensch ist fähig, die Schwächen des bedeutendsten, noch der dümmste, die Denkfehler des klügsten zu erkennen.»

Von der geplanten Fortsetzung zu Bouvard und Pécuchet ist unter anderem das Wörterbuch der übernommenen Ideen übrig geblieben, das Flaubert bezeichnete als die «historische Glorifizierung all dessen, was allgemein als richtig gilt». Dort steht, da es ja eigentlich um den Ge- bzw. Mißbrauch von Fremdwörtern gehen sollte, also, da steht unter dem Stichwort Infinitesimal: «Man weiß nicht, was das ist, hat aber irgendwas mit Homöopathie zu tun.» Oder unter Jansenismus: «Man weiß nicht, was das ist, aber es ist sehr chic, davon zu sprechen.»

Mehr braucht es nicht. Wozu soll man soundsoviele Beispiele falschen Gebrauchs von Fremdwörtern aufführen, wenn in diesen beiden Beispielen von Flaubert alle anderen drinstecken? Julian Barnes bezeichnet das Wörterbuch als «ein Werk fast reinster Ironie». Noch ein Beispiel, weil's so schön ist. Da steht unter Latein: «Natürliche Sprache des Menschen. — Verdirbt den Stil. — Ist nur nützlich, um die Inschriften an öffentlichen Brunnen zu lesen. — Aufgepaßt bei lateinischen Zitaten, sie bergen immer etwas Schlüpfriges. Cum grano salis sollte man einige Zitate beherrschen.» Es hieße: ein Körnchen Salz geben in eine Sprachsuppe, die ohnehin zunehmend fader schmeckt, da sie mit immer weniger Inhaltsstoffen auskommen muß.

Entsprechend wird auch mit Sprichwörtern, mit deren Bedeutungen umgegangen. Man lese, um nur einen Fall herauszugreifen, die gängige Kunstkritik: Sie läßt sich leicht auf obige Grundsätze beschränken. Mehr is' nich. Flauberts Prinzip hat an Gültigkeit nichts, aber auch gar nichts verloren. Fast beliebig kann man andere und sich selbst ertappen. Lieber andere. So steht in einem in der Einleitung zu einem Interview mit Lucio Amelio: «‹Neapel sehen und dann sterben› — das Bonmot des Bildungsbürgertums wird für den Kunstförderer Amelio traurige Wirklichkeit. Lucio Amelio ist an Aids erkrankt.» Darüber muß man nicht, kann man aber nachdenken. Irgendwie ist es — im Bild — ja noch einigermaßen verständlich. Doch wer heutzutage Kunstkritisches lesen mag, orientiert sich besser an den oben gezeigten Ausschnitten von Wörterbüchern.

Doch wozu das alles, wenn nach einer sogenannten Reform der Rechtschreibung der deutschen Sprache die Fälle davonschwimmen, selbst in öffentlich-rechtlichen «Anstalten» kein Sprachpfleger (den gab's, beispielsweise, im Bayerischen Rundfunk tatsächlich mal) mehr fettrot anstreicht, in Zeitungs- und Buchverlagen kein Korrektor mehr eingreift, wenn die Informations- und damit auch Sprachvermittler (vulgo Journalisten) den zuhörenden und lesenden Massen was vom gleichen schwafelnden Politiker erzählen, wenn es sich um denselben handelt? Wozu das alles, wenn selbst in Zeitungen und Zeitschriften, die sich in der «guten, alten Zeit» Bildungsblätter nannten (und wohl gerne weiterhin so nennen würden, hätten sie nicht einen gefühlten Rest an Erdung), Chefredakteure «pro anno» mehr verdienen als eine für Bildung zuständige Ministerin per annum verdient hätte (machte sie ihre Arbeit nicht so höflinkisch)?

Es existieren Internet-Seiten, deren Gründer sie expressis verbis einer Wiederaufforstung, zumindest aber einer Bewahrung des Deutschen gewidmet haben. Doch auch die lassen den Sprachzug das eine ums andere Mal entgleisen. So steht manch ein Mensch guten Willens in der Wüste, die dieser sprachliche Klimawandel verursacht hat. Es geht der Sprache wie der Küche: Je mehr deren ‹Künste› auf allen Kanälen artistisch gepriesen werden, um so weniger weiß man um deren Substanzen. Und schiebt sich während der Klotze — ganz arg, was einem teilweise aus den bildungsbeauftragten Öffentlich-Rechtlichen entgegendröhnt — Fahd-Fuhd zwischen die Kiehmen — wo man doch einfach kein Zeit hat für son Gram.


Mit ikr, Laubacher Feuilleton 15.1995, hier aktualisiert
 
Fr, 27.06.2008 |  link | (3117) | 3 K | Ihr Kommentar | abgelegt: lingua franca


jean stubenzweig   (31.03.11, 07:18)   (link)  
Debrullje
Anfänglich meinte ich mich verhört zu haben. Doch mittlerweile schien es mir mehrfach schmerzhaft ins Gehör gefahren zu sein, seit gestern bin ich sicher. Die Sprecherin einer Verbraucherschutzorganisation, die sich um Schüleraustausch mit anderen Ländern sorgt, sprach davon, man solle sich an ihre Institution wenden, wenn man in die Bedrullje geraten sei. Ich gehe davon aus, sie wie die anderen, von denen ich diese seltsamen Sprechgeräusche vernahm, meinte Bredouille, nicht Bedrouille. Das ist französisch und meint unter anderem, in eine mißliche Lage geraten zu sein. Ich hoffe das Beste für den weiteren Bildungsaustausch.


nnier   (31.03.11, 11:29)   (link)  
Ich vermute, dass das etwas mit der Patrullje zu tun hat - elende Konsonantenhaufen das alles. (Schöner Text da oben!)


jean stubenzweig   (31.03.11, 17:15)   (link)  
Die Sprachpatrullje
wäre, gäbe es sie (noch), längst Arrjer-gard oder mit abben Köppen hinterherhinkendes Feldlazarett in Krieg mit der Sprache. Die kreatiefe Bildungsinstitution öffentlich-rechtliche Anstalt wird dafür immer brilljanter. – Woher kommt eigentlich diese besonders von Akademikern genutzte Brillianz? Ist das die preußische, also balinische Eindeutschung des Französischen? Wie auch die Galljon, die immer öfter mit Doppel-l geschrieben – weil gesprochen wird. Da sie vermutlich aus Gallien kommt? Andererseits ist die Verwechslung von anscheinend und scheinbar nicht unbedingt romanisch verwurzelt. Aber das sind ja meistens promovierte Germanisten, die solches in Dokumentationen unterbringen.

Der oben verlinkte Graff-Text aus der Süddeutschen ist, neben einigen anderen zum Thema, nicht mehr erreichbar. Um zu vermitteln, um was es in etwa dabei ging, füge ich Erklärendes aus Telepolis an.















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