Anbahnungen

Per Anhalter ins Paradies, Fliegend über die Berge, Anhalters Bahnhof, Grabungsvolle Hymnen, Anhalters goldener Käfig. Der Reise fünfter Teil.

Flandrische Löwen, unter ihnen ein Berhardiner, auf den ich noch näher einzugehen gedenke und mindestens so groß wie ein Leitleu, vermittelten mir ihre grundpatriotische Haltung. Die ruhigste stimmliche Bewegung kam von der ältesten Tochter, etwa so, wie die deutschen Fußballnationalspieler vor den Spielen der siebziger Jahre gegen die Niederlande ihre Hymne sangen. Deren unverkennbare Mutter hingegen, das ward deutlich, hatte vernehmlich die erste Stimme in diesem Chor. Ihr Lächeln während des Gesangs, es war zu dieser Zeit noch schwierig auszumachen für mich, ob es dem Besuch oder den Gedanken an das Vaterland Belgien oder der Lebensfreude im allgemeinen galt. Eine gewisse Gelöstheit, das getraue ich mich so lange Zeit danach frei zu assoziieren, daß tatsächlich möglicherweise mal wieder ein bißchen Leben in die Bude kam. Sie war es auch, die herzhaft auf mich zuschritt, mich um ein Haar in die Arme nahm, es aber doch bei einer herzlichen händischen Begrüßung beließ. Sie drehte sich herum mit Blick auf ihre vielen Kinder und stellte mir jedes einzelne vernehmlich vor, immer wieder ein wenig freudig erregt gickernd. Die kleineren saßen auf irgendwelchen Tretmobilen der etwas größeren und die ganz kleinen, etwas anders pigmentierten auf ihnen drauf. Ihre älteste Tochter kam zum Schluß dran. Als ob sie zu früh geboren gewesen wäre. Vielleicht war's ja so, und sie hatte ihr nie so recht verziehen, ein Kühlfaktor gewesen zu sein in der jungen Ehe, die vor allem einem galt: dem Bau und dem Verkauf von Eisschränken, wie man sie damals durchaus noch nannte. Die Jungfrau nahm mich handweich und ungerührt in Empfang. Wie jemanden, den sie gegen ihren Willen heiraten solle. Auf jeden Fall kam kein Hauch eines leicht erregten Rouge in das langgestreckte und eigentlich aparte Bleich der Prinzessin. Wäre ich nicht so erschöpft und gleichermaßen fasziniert gewesen, ich hätte leicht umdrehen und mir vor dem Bahnhof einen PKW-Trip suchen können für den Weg zurück zum Blauen Reiter.

Einer fränkischen Horde gleich mit einem römischen Gefangenen in ihrer Mitte verließen wir den kleinstädtischen Bahnhof. Jonkfrouw Mutter schnatterte unentwegt stilvoll auf mich ein, als ob sich ein Ventil über jahrzehntelangem Schweigen gegenüber der Welt gelöst hätte. Ich nickte müde und dabei ständig schniefend. Sofort nahm sie meine Erkältung wahr. Alsbald, glitt sie kurzzeitig in ihren mütterlichen Part zurück, sowie wir uns im Haus befänden, gäbe es warme Milch mit Honig und ein kuscheliges Bett samt Kamin dazu. Letzteres war mir willkommen, aber daß mir alleine der Gedanke an warme Milch Übelkeit verursacht, verschwieg ich zunächst einmal. Ein paar Schritte nur noch seien es. Das traf zu, soweit es um das Eingangstor zum Park ging. Doch der Weg durch diesen Laubwald mit Bäumen, die vermutlich Chlodwig, spätestens aber die Burgunder in vegetarischer Phase hintenraus gepflanzt hatten, wollte nicht enden, dieses gepflegte englische Gartenparadies mit zentraler Bebauung, das ich trotz mangelnder Energie sicherlich genossen hätte, wäre da nicht dieser assimilierte Immigrant vom Sankt Bernhard gewesen, der mich ständig umkreiste und der es einmal trotz seiner enormen Höhe schaffte, sich zwischen meinen Beinen durchzuzwängen; wahrscheinlich wollte er mir andeuten: Ein Haar mehr, und ich würde den Ritt auf einem belgischen Höllenhund kennenlernen. Nicht ängstigen solle ich mich, meinte die Rudelführerin, er tue nichts, er passe lediglich auf die Kinder auf. Und die anderen fünf oder sechs oder mehr — vermutlich bekam jedes Kind zur Geburt ein eigenes Knuddeltierchen, demnach waren es acht — kleineren Wuchses, die hielten sich brav an die Anweisungen von Prinz Bernhard, dem Leitlöwen. Hätte ich damals geahnt, was einige Jahre später auf Belgien zukommen sollte an Schauerlichkeiten und das mit diesem unzureichend informierten Instinktgeschöpf in Verbindung gebracht, mir wären auf der Stelle Flügel gewachsen, und ich wäre in die Lüfte entstiegen und zurückgeflogen in der Voralpen Land. Die ärgste Irritation bewirkte unser Kinderschützer bei mir, indem er mich, anders als sein ununterbrochen kläffendes Gefolge, bis auf auf ein dauertönendes Knurren aus jeder erdenklichen Bewegung heraus anglotzte. Es sollte der Beginn einer dauerhaften Beziehung werden.

Angekommen und hineingegangen über das Hauptportal, das, wie ich später erfahren sollte, eigentlich nie benutzt wurde, bugsierte mich die Dame des Hauses durch die zwar immens hohe, aber überraschend zurückhaltend gestaltete, sich wohl vor dem regionalen Protestantismus verbeugende neugotische Eingangshalle unter der Kassettendecke in einen auch nicht eben kleinen Nebenraum und schob ihre Tochter hinterher. Die saß dann mir eher teilnahmslos gegenüber, frug brav dies und das und ob es mir gefiele und teilte mir mit, daß ihr Vater sicher gleich kommen würde, er freue sich sehr auf mich, eigens für mich habe er sich früher freigemacht am heutigen Tag. Kaum daß sie es gesagt hatte, ging ein Ruck durch sie, später sollte ich dieses Kiesknirschen der Pneus auch wahrnehmen, sie stand auf, verließ den Raum, und an ihrer Stelle betrat der Angekündigte ihn. Ein auf Anhieb ungemein sympathischer, gut aussehender, wohlgewandteter und gewander Einsneunziger, für mich eindeutig altadeliger Hausherr mit der typischen Haltung fortschrittlichen Bürgertums, begrüßte mich distanziert, aber den Abstand durch natürliche Offenheit wettmachend, bat mich, wieder Platz nehmen. Ob ich rauche, fragte er, wartete die Antwort gar nicht ab, stand auf, ging zu einem Schrank und nahm einen Korb mit fünf oder sechs Sorten Zigaretten heraus. Er sah meinen nicht ganz so erfreuten Blick auf die dezent angeordnete Unordnung gefilterten Tabaks und schob sogleich die Frage hinterher, ob ich eine bestimmte Marke bevorzuge? Selbstverständlich würde er sie mir morgen mitbringen. Anzunehmenderweise war ich der erste Mensch, der in diesem Raum, anderswo im Haus ohnehin nie, rauchen würde. Am nächsten Tag dann filterlose Zigaretten, zwar welche à la Régie Française in Luxembourg für Resteuropa hergestellte, dann jedoch sogar die eigens aus dem Nachbarland herantransportierten Richtigen.

Von diesem durch Abhängung lediglich etwa vier Meter hohen blauen Salon aus, er mag auch grün tapissiert gewesen sein, so genau erinnere ich mich nicht, auf jeden Fall sanft-, pastellfarben rythmisch, dort, wo fortan die abendlichen Gespräche stattfinden würden, schaute ich von meiner vermutlich nicht unbedingt zufälligen damastenen Sitzposition aus nach rechts auf einen Turm. Mein Gesprächspartner sah, was meine Aufmerksamkeit erregte. Nicht bedrängen wolle er mich, doch es sei nötig, das zu fragen, da, verstehe ich's jetzt mal rückwirkend so, angerichtet werden müsse: Ob ich einen guten, also tiefen Schlaf habe? Das lenkte mich von meiner Aussicht ab, von der ich, nach dem Meer an zweiter Stelle, nie genug kriegen konnte: von Türmen und Zinnen. Er sah meine Irritation. Hätte ich einen leichteren Schlaf, dann wäre das höhere Gemäuer insofern etwas ungünstig, als es oberhalb des Turmschlafzimmers doch etwas geräumiger zuginge, da dort oben die Eulen und weiteres Getier vermutlich eingezogen seien, bevor das Kasteel fertiggestellt wurde. So könne ich gerne eines der zentral gelegeneren Zimmer in der zweiten oder auch der dritten Etage beziehen, wobei letztere doch eines leicht erheblicheren Aufwandes bedürfe, da sie nicht allzuoft Gäste im Haus hätten und sie nicht in dem Maße benutzten wie die anderen. Ob er, stotterte ich an ihn hin, damit sagen wolle, ich könnte dorthin, in diesem Turm am Ende gar, mein vom vielen mißlungenen Anhalten so müde gewordenes Haupt betten?


Von meinem schleiereulenbewachten Unruheschlaf und baldigem Umzug ins etwas stillere Innere erzähle ich das nächste Mal.

Die gezeigten sowie verlinkten Abbildungen stellen lediglich Beispiele dar, die Ähnlichkeiten vermitteln sollen; sie stehen in keinem Fall in Beziehung zum Drehort der Geschichte.

Die Photographie stammt von wauter de tuinkabouter und ist lizenziert unter CC.



Per Anhalter ins Paradies, Fliegend über die Berge, Anhalters Bahnhof, Grabungsvolle Hymnen, Anhalters goldener Käfig, Anbahnungen, Unter Eulen, Die Behütete, Blumenkohl und Pannekoeken, Adeliges Tennis, Nationalgericht, Das Süße und seine Fährnisse, Fluchtgedanken, Gnadenmahl oder Reiche Stunden. Der Reise vierzehnte Folge.
 
Di, 24.02.2009 |  link | (3641) | 3 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Belgischer Adel


apostasia   (24.02.09, 16:16)   (link)  
«Typische Haltung fortschrittlichen Bügertums»,
schreiben Sie. Ist es nicht gerade der alte Adel, der die Bourgoisie überholt hat in den liberaleren Verhaltensweisen? Während letztere zunehmend in einen Konservativismus zurückfällt, der mit Bewahren eigentlich weniger zu tun hat, sondern eher mit Rückschritt.


jean stubenzweig   (24.02.09, 18:06)   (link)  
Ich bin kein Fachmann für blaublütige Gestüte.
Zwar habe ich einige kennengelernt, meist waren es gestandene Gäule, nur wenige tänzelten in irgendwelchen Startboxen herum. Das Hineinriechen in diese Ställe war allerdings beruflich bedingt, wenn auch nicht als Zuträger für die Klatschspalten. Deshalb würde ich das im wesentlichen auch bestätigen; wobei mir allerdings auch schon aufgeschlossene und offene Bürger vor den Spieß gelaufen sind.

Im beschriebenen Fall ist der altadlige Herr jedoch einer, der nicht mal aus dem Bürgertum kommt, sondern nach meinem Wissen aus der sogenannten unteren Gesellschaftsschicht. Das hatte ich so notiert, wenn auch in einem der vorausgegangenen Kapitel. Ich weiß nicht, ob er bei seiner Frau in die Haltungslehre gegangen ist, was ich nicht annehme, denn eine solche Ausrichtung, wie ich sie bei ihm kennengelernt habe, kriegt man vermutlich selbst in der besten Butlerschule nicht gelehrt. Wer weiß, vielleicht ist er ja ein Bankert edlens Geschlechts – und weiß es nicht. Er hat's mir jedenfalls nicht erzählt. Im Gegenteil, er hat sich als Arbeiterkind bezeichnet, und das ohne jede Koketterie. Zu Ohren kam mir damals auch, er sei ein außerordentlich sozial denkender und handelnder Chef. Ich hoffe für alle, daß es stimmt(e).


apostasia   (26.02.09, 13:42)   (link)  
Übersehen hatte ich Ihren Hinweis
auf den beschriebenen Schloßherrn. Das bitte ich zu entschuldigen. Doch nun haben Sie, pardon, die Gelegenheit genutzt, ihn noch zu verdeutlichen.

Bei freier Denkgestaltung läßt sich doch einiges an Anhaltspunkten herausfiltern. Gerne läse ich mehr.















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