Bild-Abfall

Ich habe früher sehr gerne photographiert. Zwanzig, dreißig, vielleicht gar vierzig Jahre lang. Bis mir eines Tages diese herumumirrenden Menschen, diese (vom Autor leider gelöschten) tout tristes mit ihren Spannoskopen vor den Bäuchen oder den ständig verdeckten und damit eingeschränkt sehfähigen Augen derartig auf die Nerven gingen, daß ich meinte, es unterlassen zu müssen, zumal man ja den idealen Bildspeicher in sich trägt: das, was man gemeinhin Gehirn nennt. Es war einfach zu erschreckend, mir diese fliegenartigen Re-Aktionen ansehen zu müssen: Sobald sie das «entdeckten», was ein paar Meter weiter am Kiosk, im Milch- oder Zeitungsladen oder im Café zu hunderten in den Verkaufsständern angeboten wurde, rissen sie ihre ungemein teuren, bisweilen kleinwagenteuren Kameras hoch, um das zu tun, was die Skiläufer mit ihren eigentlich für Rennläufer gedachten Brettern tun: im Stemmbogen den Idiotenhügel hinunterrutschen. Und zwar immer und immer wieder denselben. Millionen Fliegen können nicht irren. Sie knipsten und knipsen alles, worauf sich die Art-Genossen bereits gestürzt hatten: das Hamburger oder Münchner Rathaus, die Gaudí-Architektur in Barcelona, das große Loch in New York, die Hafentürme in La Rochelle, das Château auf If, die Calanques, jede einzelne, bis nach Cassis und wieder zurück, die Brücken in Venedig, die daraufhin noch mehr seufzten. Sie photographierten und photographieren, wie sie sich vorwärts, besser: rückwärts beweg(t)en, immer schön auf dem Trampelpfad bleiben, den ihnen die Touristenbüros oder Kunst- und Kulturagenturen in ihren aufwendig nichtssagenden Prospekten beziehungsweise Internetzen getreten hatten. Bloß keinen Jota abweichen. Nichts sehen (und photographieren), das abweicht von einer Norm, die ausnahmsweise mal nicht bürokratisch verordnet wurde. Eine vergammelte Blume, ein zertretener Zweig hat nicht «schön» zu sein. Ein überquellender Mülleimer, der Dreck, auf dem sie stehen, ist Angelegenheit des Müllabfuhr-Beauftragten. Es ist wie im skandinavischen bis romanischen, im westfranzösischen bis ostrussischen Fernsehen: immer nur die vielen «schönen» Menschen, die endlos weiten, garantiert unberührten Landschaften. Schiefe Dächer oder verfallene Häuser oder kaputte Menschen nur dann, wenn sie unter ‹apart› zu rubrizieren sind.

Milan Kundera fällt mir dazu ein:
«Hinter allen europäischen Glaubensrichtungen, den religiösen wie den politischen, steht das erste Kapitel der Genesis, aus dem hervorgeht, daß die Welt so erschaffen wurde, wie sie sein sollte, daß das Sein gut und es daher richtig sei, daß der Mensch sich mehre. Nennen wir diesen grundlegenden Glauben das kategorische Einverständnis mit dem Sein. Wurde noch vor kurzer Zeit das Wort Scheiße in Büchern durch Pünktchen ersetzt, so geschah das nicht aus moralischen Gründen. Sie wollen doch nicht etwa behaupten, Scheiße sei unmoralisch! Die Mißbilligung der Scheiße ist metaphysischer Natur. Der Moment der Defäkation ist der tägliche Beweis für die Unannehmbarkeit der Schöpfung. Entweder oder: entweder ist die Scheiße annehmbar (dann schließen Sie sich also nicht auf der Toilette ein!) oder aber wir sind als unannehmbare Wesen geschaffen worden.

Daraus geht hervor, daß das ästhetische Ideal des kategorischen Einverständnisses mit dem Sein eine Welt ist, in der die Scheiße verneint wird und alle so tun, als existierte sie nicht. Dieses ästhetische Ideal heißt
Kitsch.»*
Ob der wohl ein Problem hat? Ja, ich habe eines. Als ich vor ein paar Jahren die städtische Großwohnung aufgab beziehungsweise im Wissen eines in der Folge um zwei Drittel reduzierten und dann auch noch geographisch konträr verteilten (Wohn-)Raumes, gingen hunderte von Photographien, allesamt erstellt bis zur Abbildungs-Abstinenz und in Vergessenheit geraten, samt Negativen in den Müll. Ich benötigte sie nicht mehr, es befand sich ja alles auf der organischen Festplatte. Doch nun weiß ich: Man soll nie etwas wegwerfen, auch kein mißratenes Bild! Selbst mit einer krummen Photographie ließe sich eventuell noch eine gerade, weil erläuternde Seite bauen.

Die Stunden sind nicht mehr zu addieren, die ich mittlerweile damit verbracht habe, in diesem weltweiten, geradezu gigantischen Bildangebot etwas zu finden, das in etwa geeignet wäre, bestimmte Themen anschaulich(er) zu machen, Texte, meinetwegen, zu illustrieren. Alleine drei Tage habe ich beispielsweise benötigt, um die Zersiedelung der Dörfer dargestellt zu finden. Kaum etwas war zu finden. Die Tristesse der Kleinstädte allüberall, produziert in den Amtsstuben, wo wird sie gezeigt? Nirgendwo die (nicht nur gewerblichen) Dreckgürtel, die nahezu jede französische historische Stadt umgeben. Immer nur das Edle und Erhabene. Es ist sinnlos. Es gibt allenfalls mal Schräges oder Schrilles, auch durchaus Komisches, vor allem aber all das, was in die Lade subjektiver Schönheit (diese Tautologie muß hier sein) paßt — von dem die photographierende Menschheit meint, es müsse unbedingt abgelichtet werden. Tausend-, ja millionenfach das Immergleiche. Ohne jeden Zweifel sind Photographien darunter, die zum Wettbewerbssieger geeignet sind. Aber nahezu alle sterben in Schönheit. Sie sind «ästhetisch hochwertig». Doch es ist eine Ästhetik, die so sinnentleert ist wie das Ornament, das als Bedeutungsträger seit ewigen Zeiten seine Funktion verloren hat (und nach dem sich die Menschheit dennoch zu sehnen scheint, indem es sich über den Hintern oder auf die zarte Schulter nadeln läßt). Formalästhetik! Nur noch Form. Neoneoneo-Klassizismus: innen hohl. Inhalte werden nicht ernsthaft «in Betracht» gezogen.

Ich photographie also wieder, wenn auch nur manchmal. Wenn ich nachhause in den Süden reise, mag ich mich mit der doch recht voluminösen Digital-Apparatur nicht belasten, die ich mir dann doch irgendwann (gebraucht) gekauft habe, über ein Bildchen produzierendes Telephon will ich nicht verfügen, und meine Minox-Filme entwickelt mir niemand mehr, es sei denn zum Preis einer neuen Kamera. Photographieren, um langwierige Genehmigungsprozeduren zu umgehen, nicht Gefahr zu laufen, mich mit unterbeschäftigten oder von unangenehmen Energien angetriebenen Juristen auseinandersetzen zu müssen (eben weil ich kreative Leistung zu schätzen weiß und deshalb das Urheberrecht achte; ich bin schon bemüht, ausschließlich freigegebene Bilder zu verlinken). Kaum jemand hilft mir dabei, nach Möglichkeit auch das abzulichten, das andere nicht festhalten — oder aber es nicht sehen (wollen) oder für nicht veröffentlichungswürdig halten, weil es «häßlich» ist. Der neue Mensch fordert seinen Tribut: ästhetische, plastische Chirurgie — Schönheit.


* Milan Kundera: Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins, aus dem Tschechischen übersetzt von Susanna Roth, München 1984, p 237; französisch: L’insoutenable légerté de l’être, Paris 1984
 
Mi, 20.05.2009 |  link | (4584) | 18 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Ansichten


hanno erdwein   (20.05.09, 08:21)   (link)  
Das "kreative" Fotografieren
entspricht dem Skizzieren und Malen früherer Jahrhunderte. Das platte Draufhalten fürs Angeberarchiv hat sicher keinen Wert. Damit wird der Eiweißspeicher umgangen. Hab mir ehedem, als das noch ging, mit einer Agfa-Box aus "Friedenszeiten" reizvolle Motive gesucht und sie festgehalten. Schwarzweiß. Jetzt ruhen die Bilder im Schuhkarton und können nur mental abgerufen werden. Immerhin!


damenwahl   (20.05.09, 17:44)   (link)  
Oh oh oh, Sie sprechen mir aus der Seele! Jahrelang habe ich mich gegen die Digitalomanie gesperrt, bis meine Film-Kompaktkamera vor zwei Jahren nicht mehr wollte, nach fünfzehn Jahren treuer Dienste. Nach langem Ringen und weil ich mein Blog auch bebildern möchte, gelegentlich zumindest, jetzt endlich wieder eine anständige Kamera erworben. Die Dame von Welt kann das spiegelreflektierende schwarze Monster ja in koffergroßen Handtaschen verschwinden lassen, trotzdem stört mich der Brocken gelegentlich - aber den Preis muß ich wohl zahlen. Und den korrekten Umgang mit ungeahnten neuen Möglichkeiten erlerne ich gerade.

In den letzten Jahren bin ich auf Reisen oft gut damit gefahren, die Fotos von Freunden zu übernehmen, aber: deren Knipserei der schönen Postkarten-Motive war mir immer zu wenig. Gerade Bilder, die ich aussagekräftig fand - von Armutsvierteln, zerzausten Eseln vor Karren, Müll auf der Straße, ekligen Sechsbeinern - hielten andere für unwert, auf Chip gebannt zu werden. Dabei ist das doch die eigentlich individuelle, subjektive Erinnerung! Jetzt kann ich also endlich wieder, wie ich möchte. Scheue mich aber, die Fotos aus der brasilianischen Favela online zu stellen, weil es voyeuristisch anmuten könnte.


jean stubenzweig   (21.05.09, 00:29)   (link)  
Da haben wir's.
Nun gut, da bin ich nicht alleine. Aber damit war ja auch nicht zu rechnen.

Gehen Sie mit Ihren Bildern doch zu einem der (kostenfreien) Dienste. Viele mögen flickr nicht, da er «Zensur ausübt» (Nackphotographien etc.). Aber ich habe seit zehn Jahren ein (Geschäfts-)Konto beim Eigentümer, da bin ich eben dorthin, weil der ohnehin alle meine Daten hatte. Zu ipernity, französisch hin oder her, wechseln wollte ich dann doch nicht, da die mit dem US-Datenmonster zusammenarbeiten – die Gründe sind hier genannt. Ich nutze diesen Dienst allerdings nicht als Präsentationsinstrument meiner außergewöhnlichen photographischen Klasse, sondern nur als Dokumentations-Server, das heißt, ich stelle (mittlerweile, seit Blogger.de) nur noch Bilder hinein, die ich irgendwann in Form eines Links veröffentlichen will bzw. das getan habe. Alles andere lagert auf meinen Rechnern, von wo aus ich bei Bedarf hinüberhebe.

Dort wirkten die Photographien der Favelas weniger «voyeuristisch». Allerdings kann ich das als Argument nicht gelten lassen, da Sie schließlich dort waren und sich zudem (kritisch) dazu geäußert haben. Ohne Text, ja, da würde ich gegebenenfalls mit Ihnen übereinstimmen, gibt es doch nicht allzuviele Menschen, die sich solche «Wohn»-, überhaupt solche Lebensumstände nicht vorstellen können, gegen die Hartz IV Luxus sind (was nicht heißen soll, daß ich damit einverstanden bin). Was jedoch einige machen, zumindest habe ich das bei flickr gesehen: sie schreiben ein paar erklärende Worte zu einzelnen Bildern; das erklärt oder entschärft. Aber grundsätzlich bin ich der Meinung, daß Sie Ihre Favela-Eindrücke durchaus auf Ihrer Seite vorstellen sollten.

Bei dieser Gelegenheit: Menschen wie ich schätzen sich glücklich, auf Bildquellen zurückgreifen zu können – die Gründe dafür stehen oben. Und da müßten die Bilder veröffentlicht und freigegeben sein, etwa unter creative commons; das ist jederzeit veränder- bzw. widerrufbar. Und empfehlen muß ich dabei flickr, da man sehr viel leichter als anderswo erkennen kann, was unter CC steht und was nicht, zum Beispiel hier. Die Sucherei nach meinen «Ansichten» ist dort allerdings unendlich und mühsam, da allzuviele meinen, sie müßten aber auch jede noch so mißratene Bildfolge da reinschmeißen wie in eine Müllkippe. Dieser digitale Massenwahnsinn hat schon erheblich zum Niedergang des genaueren Hinschauens beigetragen. Kost' ja nix. – Nicht verschwiegen sein soll: Ich bin dabei allerdings auf die eine oder andere Perle gestoßen. Dabei sind es häufig die Herausragenden, die – das ist eine Erfahrung, die sich mit der aus meinem Berufsleben deckt – ihre Arbeiten freigeben.


tropfkerze   (21.05.09, 15:48)   (link)  
Die Problematik der Scheiße
Scheiße, interessantes Thema!

Mit der Scheiße als Idee hat sich Proklos In Parmenidem herumgeschlagen, hier etwas vornehmer unter dem Stichwort "Dreck und Haar" (In Parm 832). Das Problem des Haars als Idee geht ja zurück auf den Platonischen Dialog Parmenides, 130c-d, wo der junge Sokrates vom alten Eleaten auf dieses Problem aufmerksam gemacht wird. Interessanterweise antwortet bereits Plato (aus dem Mund des Parmenides), dass man kein Ding gering achten und nicht auf die Meinung der Menschen in solchen Angelegenheiten achten sollte (130e). Proklos dagegen, wohl im Gefolge einer Kritik an Amelius (Schüler des Numenius und Kritiker Plotins), führt die nach-plotinische Tradition weiter und spricht dem Dreck die Möglichkeit ab, eine Form zu besitzen. Sein Argument: Schmutz / Scheiße ist eine Art des Übels, doch eine Idee als Ausfluss des Guten kann niemals selbst Ursache eines Übels sein, wie auch die Sonne nicht verantwortlich ist für den Schatten. Ist aber die Teilhabe an der Idee immer selbst auch die Teilhabe am Guten, kann das Übel (Scheiße) auch nicht Ausfluss einer Idee sein.

Ich weiß, dass Sie mich am liebsten für einen solchen Kommentar erschießen würden, aber ich trage ja eine Bleiweste^^


jean stubenzweig   (22.05.09, 02:11)   (link)  
Woher wollen Sie
wissen, daß ich Sie wegen eines solchen Kommentars am liebsten erschießen würde? Wie kommen Sie denn darauf?! Im Gegenteil. Da gibt's doch was zum Grübeln.

Nämlich zum Beispiel darüber, wie deutlich es wird, was Tucholsky mit Es gibt keinen Neuschnee gemeint (und auch geschrieben) hat: alles ist schon einmal dagewesen. Wissen wir, worauf Kunderas Assoziationen gründen? Weiß ich, über wen oder was sich etwas in mich eingeschlichen hat, das ich dann aufschreibe, als wären es meine ureigensten Gedanken? Eines weiß ich allerdings mit Sicherheit: copy and paste ist es nicht. Nur gedacht ist es eben irgendwann schonmal. Einmal, zweimal und so weiter und so fort.

Und über Ihre Vorlage denke ich jetzt erstmal nach. Wahrscheinlich werde ich's irgendwann nicht mehr wissen, woher ich's habe ...


jean stubenzweig   (22.05.09, 03:12)   (link)  
Recht gebe ich Ihnen.
Es wäre schade, Pola Key (ich weiß nicht, wohin Ihre beiden Kommentare geraten sind! sie sind einfach weg!) wüßte jeder, daß genau das, was er jetzt aufschreiben will, bereits einmal geschrieben worden ist. Dann würde er es (möglicherweise) sein lassen. Das hieße, es könnte eine weitere Gedankenfacette verlorengehen. Somit sehe ich Ihre Worte als eine Ergänzung oder Weiterführung von Tucholskys Erkenntnis.

Andererseits sollte manch einer sich darüber im klaren sein oder weiß es auch, daß er eben gerade im Begriff ist, abzuschreiben, möglicherweise, um zu Ruhm oder sonstwas in dieser Richtung zu gelangen. Dann werden zwar Abend- und/oder Morgenland nicht untergehen, ich mich aber ärgern, da ich Geld für ein Buch ausgegeben habe, dessen eventuell weitaus bessere Vorlage unbeachtet im Ramsch gelandet ist ...


jean stubenzweig   (22.05.09, 06:07)   (link)  
Liebe Pola Key,
aus unerfindlichen Gründen sind Ihre beiden Kommentare verschwunden; ich habe keine Ahnung, was da passiert ist. Ob Sie nochmal ...? Mir wäre sehr daran gelegen.


g.   (22.05.09, 09:56)   (link)  
ich fürchte die Kommentare wurden von Pola Key selbst gelöscht. Aus welchen Gründen auch immer. Schade drum.


tropfkerze   (22.05.09, 10:35)   (link)  
OK, also nicht erschießen. Ich entwickle eben auch immer meine Gedanken in die Richtung, in der sei einmal steckengeblieben sind.

Schade, dass die beiden Kommentare verschwunden sind, ich vermute, sie hatten irgendwie mit meinem Kommentar zu tun, vielleicht mit Altem oder Neuem oder neuen Gedanken - wie eben jenem Tucholskyschen Neuschnee. Da war ich wohl zu spät.

Für mich gilt sowieso, was ein großer Philosoph gesagt hat, dass alle Philosophie nichts anderes als eine Fußnote zu Platon ist. Der hatte eben schon alles vorgedacht und wir tun nichts anderes, als unser Denken daran abzuarbeiten.


jean stubenzweig   (22.05.09, 13:32)   (link)  
Alle verschwundenen Kommentare
hingen offensichtlich an den von Pola Key gelöschten dran. Sie wußte sicher nicht, daß beim Löschen anderes mit in den Lokus der Weltgeschichte runterspült werden kann, wenn es einen direkten Zusammenhang hat. Ja, es ist schade, und es tut auch mir leid. Aber sie hat ja bereits verkündet: «Da Mardochai erfuhr alles, was geschehen war, zerriß er seine Kleider und legte einen Sack an und Asche und ging hinaus mitten in die Stadt und schrie laut und kläglich.» (Ester 4,1). Jetzt darf sie duschen gehen und wieder bunt durch Polen hüpfen, nicht nur mit deutschen Touristen.

Was die Äußerung von North Whitehead betrifft, Tropfkerze: auch das ließe sich erweitern, nach hinten fortsetzen. Es ist wohl davon auszugehen, daß bereits vor Platon (nach)gedacht wurde. Also – nicht so «hinterfragt», wie man sich heutzutage am Servicepoint der Bahn vorsichtshalber ein zweites Mal erkundigt, ob der Bus nach Alt-Schretstaken auch wirklich nicht fährt ...

Bei der Gelegenheit: Hans Christoph Buch fiel mir ein. Der verweist auf Karl Gutzkow und dessen Roman Uriel Acosta (1846). Der läßt dort Rabbi Ben Akiba sagen: «Alles schon dagewesen.» Wer weiß, was Tucholsky alles gelesen (und weiter- oder umgedacht) hat. Buch selber erweitert das sowie die (hier eigentliche) Bildthematik in seinem Roman Der Herbst des großen Kommunikators (1986):

«Die Redundanz der Wahrnehmung entspringt der Repetition der Bilder. [...] Das Reisen (ebenso wie das Essen, Trinken, Lesen, Lieben) beruht auf der Illusion, daß das nächste Land, das nächste Beefsteak, der nächste Drink, der nächste Roman oder die nächste Frau anders sein wird als alle vorangegangenen; die lebenslange Suche nach dem ultimativen Fick, dem ultimativen Steak, das alle bisherigen übertrifft: gerade richtig, blutig, aber nicht zu sehr. Dabei vergessen wir, daß die Wahrheit des Puddings im Essen liegt, genauer gesagt: daß der Pudding immer schon aufgegessen ist. Die Zukunft ist die Vergangenheit, die sich als Gegenwart kostümiert: das eine Mal als Tragödie, das nächste Mal als Farce. Es kann nur schlimmer kommen als gehabt: mehr ist nicht drin.»

Und auch da sind wir schon wieder beim Nächsten: «Die Gegenwart aber, die in der Mitte liegt, ist so kurz und unfaßlich, daß sie keine Länge annimmt und nicht mehr zu sein scheint als die Verbindung des Vergangenen und Künftigen und außerdem auch so unbeständig, daß sie nie am selben Ort ist; und alles, was sie durchläuft, nimmt sie von der Zukunft weg und legt es der Vergangenheit zu.»

Wobei ich mir im unklaren darüber bin, ob das alles eine Fußnote zu Platon ist.


tropfkerze   (22.05.09, 20:52)   (link)  
Selbstverständlich wurde schon vor Platon gefragt, gedacht und behauptet. Ich vergesse alle die Großen, die großen Eleaten (zu denen ich mich in zwei Wochen geselle), sondern ich erinnere nur an einen: den alten Weisen. Sein Gefängnis habe ich letztes Jahr fotografiert, aber auch die berühmte Platonische Akademie. Da ich hier keine Bilder präsentieren kann, hier ein Link. Im Ernst, ich hatte mich auf einen der Steine der Akademie gestellt und ausgerufen:

Was ist das ewig Seiende, welches keine Entstehung hat, und was ist das Entstehende und Vergehende, in Wahrheit aber niemals Seiende? (Tim. 27d)

Zum Glück war ich allein - vielleicht hätten die Athener mich sonst in die Zwangsjacke gesteckt.^^

Ich bin der Herr Cosidetto, gestrandet an den Ufern.

Seltsam, ich habe mich nie nach dem "ultimativen Fick" oder Ähnlichem gesehnt. Ich bin stehen geblieben bei meinem ersten Freund, der mir alles gegeben hat, was meinem begrenzten Horizont möglich ist.

Was erwarte ich mehr?

Für mich gibt es nichts zu erinnern als dieses. Für mich gibt es keine Wiederholung.

Die Welt ist viel zu schön, dass Wiederholung möglich wäre.


prieditis   (22.05.09, 00:22)   (link)  
die Brücken in Venedig, die daraufhin noch mehr seufzten
HAHAHAHA... ich bin begeistert. Sonst hab ich eigentlich zu dem Thema nicht viel beizutragen, so richtig fotografieren kann ich nämlich nicht...


jean stubenzweig   (22.05.09, 02:39)   (link)  
Photographieren
kann ich auch nicht. Aber eben darüber seufzen. Wie eine trampelgepfadete Brücke eben.


pola key   (22.05.09, 10:14)   (link)  
Weil ich Feige bin.
Weil Platz,den ich auf Ihrer Seite nahm,mich selber überrascht hatte.Bitte um Verzeihung,ich kann zwar nicht Wort in Wort das Gleiche schreiben,weil nur Ähnliches um mich schwingt,aber bestimmt melde mich mit dem Thema,wenn nur
´´die Welle´´kommt,die etwa höher als die Angst steigt.
Schönen Tag wünsche ich Ihnen,schönen laut Ihren Vorstellungen.Danke,daß Sie bestehen.


pola key   (28.05.09, 02:40)   (link)  
Noch ein Schritt zurück....Sie schrieben über gleichen Gedanken,den die Menschen haben,und das Gleiche schreiben.
Natürlich.Es stimmt auch,wenn jeder wüßte,das Seine wurde
schon geschrieben....etc.Wenn man zu den alten Meister reicht,nicht nur Platon,Sokrates,auch die unverdient vergessenen wie Mennipos,Leukippos,Monimos-überlegt man
tatsählich,ob man überhaupt noch was schreiben solle,nicht nur
´´für jemanden´´,auch für sich.Nun jeder von uns ist jetzt und heute.Und wenn wir ähnlichen Gedanken haben (mir scheint ebenso oft,daß gerade gelesene Worte vorher meinen
Kopf besuchten),die Quelle stammt von uns,damit sind das unsere Worte-selbstverständlich vorausgesetzt,daß wir nicht
absichtlich frech abschreiben.Manchmal glaube ich zu wenig Wörter zu kennen,manchmal-im Gegenteil.Andersmal denke,
die anderen Wörter sollen abends,andere morgens benutzt werden,da unterschiedliches Schwingen um verschiedene Zeit gibt´s.Anderseits,wenn man merkt,daß für Einigen 100 Worte zu lernen eine enorme Leistung ist,möchte man anderen Weg zu diesen Menschen finden,weil sie vielleicht gerade nicht mit
dem Wort zu verstehen sind.Ja,es ist komische Satzkonstruktion,aber ich auch ab und zu gar nicht dem Wort offen bin.Ich möchte nur sagen,es stört mich überhaupt nicht,
wenn ich bei Ihnen lese,was mich an z.B.griechischen Philosophen erinnert,weil Sie hier und jetzt leben,damit ist Ihre Aussage direkt in meinem Raum,außerdem ist es von Ihnen gedacht,also Ihr Sichtpunkt dargestellt-damit bleibt mir
NEU.Was unwiederholbar ist,ist das Gefühl,von dem den Gedanken und Worte entstehen.Die Worte-ja,ähnlich einander,
aber die Situationen,Personen,Zeit,Ort und die Kunst,Wörter in
eigenem Bild zu malen-das gehört jedem individuell.
Eine von Quantenphysik Rechten sagt,die Objekten,die mal miteinander verbunden waren,wirken für sich einander egal wo sie sind oder wann sie existieren.In dem Fall alles,was wir
lesen,bleibt in uns in irgendeiner Form und es kann sich in einem Moment äußern.Ich würde nun dazu sagen,das Gefühl wäre eine Voraussetzung um mit diesen subatomaren Teilchen
verbunden zu sein.Ohne Gefühl ist das nur automatisches Kopieren.
Aber vielleicht irre ich,wie oft.
Abgesehen davon,ob Ihre Literatur unter irgendeinem Einfluß entsteht oder nicht-ich werde sie immer als Ihre Literatur
sehen.


jean stubenzweig   (28.05.09, 04:45)   (link)  
Polnisch lesen
zu können, das stelle ich mir jetzt als sehr angenehm oder auch vorteilhaft vor. Da sind Formulierungen enthalten, von denen ich vermute, daß sie in ihrer Poesie nur in Ihrer Sprache richtig wirken.

mir scheint ebenso oft, daß gerade gelesene Worte vorher meinen Kopf besuchten

Andersmal denke, die anderen Wörter sollen abends, andere morgens benutzt werden, da unterschiedliches Schwingen um verschiedene Zeit gibt's.

«... komische Satzkonstruktion ...» – ich hatte Ihnen geschrieben, daß es möglicherweise gerade das ist, das zur erhöhten Konzentration herausfordert. Auf jeden Fall hat es einen eigenartigen Reiz (wobei ich gestehe, mir beispielsweise Ihren obenstehenden Text um der besseren Lesbarkeit willen etwas sortiert zu haben): ich nehme eine andere Leseposition ein, ich komme mir vor, ich wäre noch Kind und schaute hinter das Blatt, die Seite, ob sich dahinter noch etwas befindet; die dritte Dimension vielleicht, die in Vergessenheit gerät beim gewohnten, alltäglichen Hin- oder Draufschauen. Aber Sie stellen sie auch selbst her:

Eine von Quantenphysik Rechten sagt, die Objekten, die mal miteinander verbunden waren, wirken für sich einander egal wo sie sind oder wann sie existieren. (Rechte von Regel = regula?)

Ich bin allerdings inhaltlich nicht weniger beeindruckt von Ihren Worten, von Ihrer klaren Position gegenüber dem Gewachsenen, das alleine uns erhält. Ihre deutliche Meinung – am besten auf Ihrer Seite nachzulesen – ehrt Sie. Und ich komme Ihnen immer näher. Polen ist gar nicht weit weg.


pola key   (28.05.09, 23:11)   (link)  
was ich hier schrieb,kam auch von Ihnen.
Ich konnte nicht draufkommen ohne Ihre Worte gelesen zu haben.Sie bilden einen Raum,in dem ich etwa mutiger atmen kann-mit Atem kommen die Worte.
Ich freue mich sehr,Sie nah zu sein.Manchmal bin selber weit
von mir.


pola key   (28.05.09, 23:13)   (link)  
natürlich Regel,polnisch Regula.Wieder Danke....















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