Warmer Novemberschauer

«[...] Es kann vieles sein. Und, ja, es ist auch viel. Viel gewesen, vor allem. Vergangenheit überall. Solange der Mensch lebt, produziert er Vergangenheit. Und je mehr Menschen auf der Erde leben, desto mehr Vergangenheit ist in der Welt. Eine mächtige Überproduktion. Man weiss nicht mehr wohin mit all der vielen Vergangenheit. Deponien, groß wie Kontinente, bedecken die Kontinente: VERGANGENHEIT! [...]»
Andreas Glumm: Herbst in Germanien
 
Do, 18.11.2010 |  link | (871) | 13 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Fundsachen


charon   (19.11.10, 01:13)   (link)  
Der Wald, der Herbst und die Vergangenheit
Das klingt ja wie ein Anselm-Kiefer-Themenpark. Ja, die Vergangenheit, die nicht vergehen will, ist ein echter Wachstumsmarkt. Es hat aber eine Weile gedauert bis der Markt die Pop- und damit Verkaufsqualitäten des Vergangenen entdeckt hat. An meiner Wohnung marschiert täglich eine Hundertschaft Neugieriger vorbei, geführt von einer trachtelnden Baujwarin, die denen, je nach gusto, etwas vom Salz, von den Hexen oder dem eingesessenen Führer erzählt. Der Alp wird zum Fetisch, aber was wären wir ohne ihn: eine Herde Schafe.

Es bleibt dabei, die Vergangenheit ist eben auch eine interessante Zeit, der Gegenwart und Zukunft allein quantitativ nicht das Wasser reichen können.


jean stubenzweig   (19.11.10, 10:46)   (link)  
Anselm-Kiefer-Themenpark,
das hat was, wenn auch nichts von dem, das mich im Wachtstumsmarkt Vergangenheit herumschwimmen ließe. Mir war der immer irgendwie zu schwer-, zu deutschbrüstig, und meine früheren Verdächtigungen ihm gegenüber sind nach wie vor nicht ausgeräumt. Er gehört zwar nicht unbedingt zu Ihrer trachtelnden Bajuwarin, dafür aber ist er Mitinitiator einer – Moderation! – seltsam anmutenden Vergangenheitszeichnung, die ebenfalls nicht unbedingt zu mehr Licht beiträgt (wenn ich Kryptiker so etwas überhaupt anführen darf). Wobei ich bis heute nicht sicher bin, ob ich ihm damit Unrecht tue. Denn auch dann, wenn man jemanden nicht mag, heißt das noch lange nicht, daß er deshalb ein Schlechter ist. Möglicherweise sollte ich mich manchmal doch Eduard Beaucamp anschließen, der in den Achtzigern mal geäußert hat, er gehe grundsätzlich nicht in Ateliers. Aber vielleicht bin ich einfach zu sehr vom anhaltenden Applaus aus der sogenannt falschen Ecke irritiert, der da so unzeitgemäß betrachtet sein könnte:
«[...] wir brauchen die Historie, aber wir brauchen sie anders, als sie der verwöhnte Müßiggänger im Garten des Wissens braucht, mag derselbe auch vornehm auf unsere derben und anmuthlosen Bedürfnisse und Nöthe herabsehen. Das heißt, wir brauchen sie zum Leben und zur That, nicht zur bequemen Abkehr vom Leben und von der That oder gar zur Beschönigung des selbstsüchtigen Lebens und der feigen und schlechten That. Nur soweit die Historie dem Leben dient, wollen wir ihr dienen: aber es giebt einen Grad, Historie zu treiben und eine Schätzung derselben, bei der das Leben verkümmert und entartet: ein Phänomen, welches an merkwürdigen Symptomen unserer Zeit sich zur Erfahrung zu bringen jetzt eben so nothwendig ist als es schmerzlich sein mag. [...]»
Das Ausgangszitat ist hier nachgedruckt, weil es sich in seiner komischen Melancholie von der allgemeinen November-Traurigkeit abhebt, und aber auch, weil Glumms Erinnerungen nie etwas Beschönigendes haben, worauf ich auch hingewiesen haben wollte – wenn man zur Erlangung dieser tieferen Erkenntnis allerdings sozusagen das ganze Buch lesen muß. Er gehört zwar nicht unbedingt zu meiner bevorzugten (literarischen) Welt, aber er gibt mir einen ehrlich auf mich wirkenden Einblick in eine andere, die mich ein wenig an – im positiven Sinn – frühere ruppertsche Lebensgeschichten, an Erinnerungsarbeit denken läßt: das Kramen auf dem Dachboden, das Auffinden und Präsentieren von Einzelteilen, das zu einem Gesamtbild beiträgt. Daß er mich dabei auch noch unterhält, ist nicht der unangenehmste Nebeneffekt.


jean stubenzweig   (19.11.10, 13:10)   (link)  
Auch tiefergelegte Witzchen
werden dadurch nicht rasanter. Hier finden Sie ebenfalls keine Go-Kart-Bahn für künftige Weltmeister der Intellektuellenschleifchen.

Gehen Sie bitte anderswo spielen. Sie haben ja einen eigenen Sandkasten.


charon   (19.11.10, 13:16)   (link)  
Im Anfang und am Ende gibt es für mich nur ein Thema von Relevanz: das Leiden des Menschen und seine Menschlichkeit, insofern war ihr Verweis auf Ruppert treffend. Dazwischen lasse ich mich auch gerne einmal von dynamischen Kulturwissenschaftlern entführen. Nicht aber für die "letzten Fragen".

"Einen an der Watsche haben", geht das überhaupt? Handelt es sich bei einer Watsche doch um eine Ohrfeige, die man auf die Waffel erhält. Wer's nicht glaubt, frage einen Experten oder lese hier nach.


jean stubenzweig   (19.11.10, 19:54)   (link)  
Richtig integriert sind Sie
(von Assimilation soll erst gar keine Rede sein) Neualtbayer oder -bayernschwabe offensichtlich nicht. Sonst wären Sie, der schließlich bereits in der neueren Geschichte nicht nur der trachtelnden Bajuwaren versiert ist, zuallererst auf diesen Klassiker gekommen – Ritual für trachtelsüchtige Millowitsch- oder Ohnesorgtheaterfreunde. Nun gut, die Sache mit dem Kirchenoberen kommt dem bereits nahe.


prieditis   (20.11.10, 00:21)   (link)  
Von Hölzken op Stöcksen
komme ich (nun wieder). Den Millowitsch habe ich sehr gemocht. Am liebsten mochte ich "Der Etappenhase". Nun gut, ein Schwank, mir egal. Aus dem Seichten stammt das Leben (Dieter Thoma)


jean stubenzweig   (20.11.10, 09:33)   (link)  
Unterhalten kann mich
so etwas eher weniger. Dazu fehlt mir der Humor, ich verstehe diesen Witz einfach nicht. Doch es wird wohl so sein: Ich habe einen «an der Watsche».

Diese Unterhaltungsprofessionellen – die modeln einen biologischen Vorgang, der eigentlich recht interessant sein könnte, dächte man nur mal darüber nach, zu einer lögisch klingenden Werbelosung um. Aber um das Denken zu verhindern, dafür kriegen sie auch monatlich soviel, wie die meisten seiner Zuschauer in zwei Jahren verdienen.


prieditis   (20.11.10, 13:18)   (link)  
an der W.
Höchstens im positiven Sinne. Für Humor gibt es bislang keine ISO 9000ff., wenn ich richtig informiert bin.

Bezüglich der Denkverhinderung - dazu gehören immer mindestens zwei. Aber es ist natürlich gut, daran zu rütteln, am Denkkasten, auch wenn der Erfolg meist nur am eigenen zu messen ist.


jean stubenzweig   (25.11.10, 19:26)   (link)  
Kulturwissenschaftler,
bester Charon, das fällt mir soeben ein, habe ich, meine ich, neulich leicht rademurmelnd irgendwie mit der DDR in Verbindung gebracht. Das war jedoch eine Begriffszielverfehlung. Das kritisierte oder angezweifelte Wörtchen war Kunstwissenschaftler.

Ich bin irgendwie leicht durcheinander, habe Wahrnehmungs-, Sehstörungen, hebe in letzter Zeit öfter was neben das Geleis. Entschuldigung.


sturmfrau   (19.11.10, 19:00)   (link)  
Es ist vielleicht auch immer eine Frage der Gewichtung, zu was im Endeffekt die Vergangenheit gerät, zur verkitschten Volkstümelei, zur tonnenschweren Altlast, zur bittersüßen Erinnerung...

Die innerste Eigenschaft der Vergangenheit - ihr Vergangensein - anzuerkennen, kann schon mal hilfreich sein, was die Gewichtung betrifft. So bleibt man nicht bis zu den Knien in ihr stecken und fällt der Unbeweglichkeit anheim. Dann ist das, was man zu sehen bekommt, tatsächlich eher ein Gesamtbild, eine Landkarte. Die kann man aber eben auch erst aus der Distanz wirklich gut erkennen.


jean stubenzweig   (20.11.10, 11:46)   (link)  
Letzterem schließe ich
mich an. Aber eine Distanz stellen auch andere für mich her, indem sie mir dabei behilflich sind, Umgebungen wahrzunehmen, Zusammenhänge zu erfassen. Wenn ich mich nicht dafür interessiere, was mich geprägt hat, bekomme ich auch keinen Abstand zu dem, was mich möglicherweise zeitweise oder vorübergehend aus dem Ruder der von Charon erwähnten Menschlichkeit hat laufen lassen. Nur über diese Erklärung gelange ich zu einer Kurskorrektur.


gonzosophie   (19.11.10, 20:04)   (link)  

Nun brauch ich gar nicht mehr Nietzsche zu zitieren, das hat schon jemand getan. Und das, wo ich doch in der Geschichtsphilosophie immer so gut zu Fuß zu sein behaupte. Naja. Mit Schiller lässt sich sagen, dass man mindestens die gesamte Weltgeschichte kennen müsste um auch nur diesen einen Augenblick, in dem wir uns gerade befinden, genau zu verstehen. Das ist uns natürlich unmöglich. Aber den Augenblick zu leben gelingt uns doch auch schon intuitiv ganz gut. Nur sollte man sich Gegenebenfalls daran erinnern (!), dass intuitives Handeln nicht immer und unbedingt das Beste ist.
Ich für meinen Teil lese gerade ein Buch mit dem schönen Titel: "Atlantikschlacht - Der Krieg zur See 1939 - 45". Solche Bücher werden heute gar nicht mehr geschrieben! (vergangene Vergangenheitsbeschäftigung)




jean stubenzweig   (20.11.10, 17:28)   (link)  
Mir bedeutet es viel,
zu erfahren, was Augenblicke prägt, genauer: geprägt hat. Das hindert mich nicht, die Momente mehr oder minder zu genießen, in die ich durch Intuition gerate, geraten bin. Das war auch bei mir nicht immer so. Zwar hat mich die Geschichte an sich grundsätzlich interessiert, aber herauszufinden, inwieweit ich ihr Partikel bin, dazu kam ich erst später, etwa vor zwanzig Jahren nahm das bei mir seinen Anfang, seit gut zehn Jahren will ich es ganz genau wissen. Und dabei bin ich zu erstaunlichen Erkenntnissen gelangt, die ganz eindeutig auf gesamtgesellschaftliche Entwicklungen, auf diesbezügliche Zusammenhänge verweisen. Hätte sich dies oder jenes nicht so oder so ereignet, ich wäre mit Sicherheit ein anderer geworden als der, der ich heute bin.

Nur Vergangenheit läßt mich verstehen, weshalb ich so geraten bin. Zu deren Erläuterung kann ein solches Buch (das ich nicht kenne) sicher durchaus beitragen. Warum schicken einige viele los, um anderen die Schädel einzuschlagen? Wenn ich nur daran denke, was in der Götzen oder der dann jeweils einzigen Götter – und seien es die späteren namens Vaterländer – an Metzeleien stattgefunden hat, schaudert es mich.















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