Chume, chum geselle min

Der Geselle läßt sich nicht lange bitten und verschwindet, nachgerade dem Alten Testament Folge leistend, mit der drallen Weißnäherin hinterm Busch. Die genüßliche Aufforderung mittelalterlicher Liedermacher entstammt den Carmina Burana, einer Sammlung wilder, geiler und zärtlicher Sauf-, Freß- und Liebeshymnen, die um 1800 in dem oberbayerischen Kloster Benediktbeuren gefunden und von Carl Orff neu vertont wurden.* Und der wollte die Beurener Lieder, als sein 81ster Geburtstag mit dem 650sten seines Heimatortes Dießen am Ammersee zusammenfiel, im dortigen Kloster aufführen. Doch die zunächst erteilte Genehmigung des Augsburger Generalvikariats wurde auf einen Protest der Pfarrgemeinde hin flugs wieder zurückgezogen. Die Frankfurter Rundschau kommentierte lakonisch: «Was in einem Kloster gefunden wurde, darf noch lange nicht daselbst aufgeführt werden.» Was Liedermacher dichten, muß also nicht unbedingt politisch sein, um Anstoß zu erregen. Die Carmina Burana gelten als Vorläufer der Studentenlieder. Und nachdem der Numerus Clausus die Studenten von der Straße wieder hinein in die Verrbindungslokale zurückgefegt hat, ist das Gaudeamus igitur wieder hochaktuell. Doch nicht nur die Akademiker in spe tanzen und saufen nach der alten Melodei. Mittelalterliche Laute sind heute allgemein wieder gerfagt. Gruppen wie Elster Silberflug oder Ougenweide scheinen den Interpreten der Politlyrik im Sinn von Väterchen Franz die Schau gestohlen zu haben.

Franz-Josef Degenhardt, 1972 in Hamburg in der CC-Photographie von Heinrich Klaffs, auf dessen Seite ich alleine deshalb gerne verweise, weil sie die Siebziger hervorragend dokumentiert — und da ist Musik drin.

Den Vater von Väterchen Franz namens Josef Degenhardt ficht die überschwappende Nouvelle Vague des Alten Lieds allerdings nicht an. Er, der 1963 die Pforte zum ersten deutschen Liedermacher-Festival auf Burg Waldeck aufstieß, verkauft nach Auskunft seines Vertreibers mehr Platten denn je. Knut Kiesewetter, der mit Gesängen wie Komm aus den Federn, Liebste vor zehn Jahren zehn Jahre zu früh auf den Markt kam und heute politisch konkreter textet, veräußert damit immerhin pro Scheibe dreißig- bis vierzigtausend Exemplare. Es gibt zwar das Fest auf Burg Waldeck seit 1975 nicht mehr, dafür aber liederliche Festivitäten in Mainz, Ingelheim, Nürnberg, Essen und viele andere mehr.

Dennoch ist die Szenerie der garstigen politischen Liedermacher der sechziger Jahre ganz offensichtlich Geschichte. Anders läßt es sich nicht erklären, daß Hannes Wader sich dem Zeitgeist entsprechend mit Ostfriesischem unverständlich macht, die Alt-Barden sich eine Rüstung in Form der gewerkschaftlichen AG Song angelegt haben, die unakademisch mit der Dokumentation Wie wird es weitergehen? resümiert, dafür der Mainzer Josef Maria Franzen mit seiner Dissertation über Liedschreiber die Vergangenheit auf eventuelle Mißtöne hin abklopft.

Es ist die tiefinnerliche Vergangenheit selbst, die wieder en vogue ist. Das Wer bin ich eigentlich? von André Heller und die netten Lieder eines Reinhard (links des Rheins eher als Frédéric bekannt) Mey, wie das niedliche vom Wecker im Kühlschrank, verbreiten sich epidemisch in Rundfunkanstalten und Kleinkunstbühnen. Die Plattenindustrie schließt sich der allgemeinen Experimentierunlust an und investiert lieber in eine «Heckparade» der Pseudolyriker. Die Inflation hat auch vor den Liedermachern nicht Halt gemacht — die Unternehmen kennen schon nicht einmal mehr die Umsätze aller ihrer neuen Sangesmenschen.

Auch der Witz in den Texten scheint eliminiert. Kaum noch Ulrich Roski, kaum noch Blödeleien wie die von Schobert und Black. Die Platte Liederspenstig des Münchners Jörn Pfennig mit wirklich pfiffigen Texten wurde nach zwei Jahren eingestampft — der Biß eines François Villon, dem großen Vorbild vieler Lieddichter, ist dahin. Die vielzitierte neue Innerlichkeit hat auch den Benn-Liebhaber Konstantin Wecker ergriffen, der von «süßen Giften der Einsamkeit» erzählt, «die nachts die Straße runterrinnen».

Und wenn mal einer wie der Wiener Georg Danzer mit seinen Texten so aus dem Leben schöpft, wie es Villon und die Mönche und Studiosi des 13. Jahrhunderts aus dem Kloster Benediktbeuern vorgemacht haben, dann machen es die ratlos (?) Verantwortlichen der Rundfunkanstalten der Kirche nach: sie verbieten. Zum Beispiel einen Titel von Danzers Platte Unter die Haut. Er ging fünfzig Prozent derart unter die Haut, daß er nicht mehr gespielt werden darf: «War da etwa Haschisch in dem Schokoladenei?».

* Sie wurden in der seinerzeit sensationellen Inszenierung von Jean-Pierre Ponelle aus dem Jahr 1975 vom Bayerischen Rundfunk und, seinerzeit ein absolutes Novum, zeitgleich im zweiten Programm des Hörfunks — in Stereo! — ausgestrahlt.


Flohmarkt: Savoir-vivre, 1978

 
Fr, 17.12.2010 |  link | (3290) | 9 K | Ihr Kommentar | abgelegt: La Musica


daniel buchta   (17.12.10, 18:30)   (link)  
Liedermacher-Forum


jagothello   (17.12.10, 19:29)   (link)  
Kasperl oder Genie?
ich hätte gerne mal you-tube-mäßig verlinkt aber es findet sich da nichts recht vernünftiges zum bayerischen Lakoniker Georg Ringswandl, der nun schon vor 20 Jahren seinen Oberarzt-Kittel gegen die Narrenkappe eingetauscht hat. Was aber gar nichts heißt, denn das oder der ist großes Musik- Theater. Seine derzeitige Punk-Phase, die er, wie es scheint, durchlebt, muss man nicht mögen aber "Vogelwild" (Hörproben bei iTunes) ist einfach hinreißend.


jean stubenzweig   (18.12.10, 09:32)   (link)  
Den Ringsgwandl Georg
mochte ich vom Beginn seines öffentlichen Auftretens an, auch wenn ich ihn mit Sicherheit anfänglich nicht richtig verstanden habe. Es war also mehr Instinkt, das (Mit-)Gefühl für das Surreale in ihm, das mich angesprochen hat. Längst bin ich sicher. Ein nichts als hampelnder Kasper, der bringt mir nicht das, was ich unter guter Unterhaltung verstehe, hab ich's doch eher nicht so mit Volksbelustigung, gerade im Sinn heutiger «Comedians», und selbst Apo-Anarchos wie Jango Edwards oder der stillere Eisi Gulp rissen mich nicht so mit. Ringsgwandl war meines Erachtens bissiger poetisch. Aber Genius, mit solchen Auszeichnungen halte ich mich lieber zurück. Ein Künstler ist er ohne Zweifel.

Allerdings muß ich gestehen, von einer «Punk-Phase» nichts gewußt zu haben, da ich seinen Weg in letzter Zeit nicht verfolgt habe. Ich vermute ohnehin, daß das bei ihm alleine nach Gehör nicht so recht flutscht, da das Bild bei ihm untrennbar dazuzugehören scheint. Ich weiß es also nicht, was da mit ihm und dem Punk sein könnte. – Was ich aber zu wissen meine: daß er den Beruf des (Krankenhaus-)Arztes nicht vor zwanzig Jahren, sondern erst in jüngerer Zeit endgültig drangegeben haben soll. Aber festlegen mag ich mich auch dabei jetzt nicht.

Daß er mir auch noch als Mensch sympathisch ist, gehört zu den angenehmen Nebeneffekten, die die Künste bisweilen bieten. Überhaupt zählt er zu meinen positiveren Erinnerungen an Bayern, an bairische Menschen, im besonderen im Hinblick auf München.


jagothello   (18.12.10, 11:32)   (link)  
Hoffnung von größerem Format
Ringswandl befand sich zumindest 1992 noch auf Identitätssuche und nannte eines seiner Lieder "Kasperl oder Genie?". Ich weiß nicht, inwieweit die Frage heute entschieden ist, vielleicht ist´s irgendwas dazwischen- eine Hoffnung von größerem Format -auch das eine Liedzeile- aber bestimmt. Wie Ihr Beitrag zeigt in einem durchaus bunten, agilen Biotop.


jean stubenzweig   (18.12.10, 15:50)   (link)  
Erlauben Sie mir
die kleine Anmerkung: Ringsgwandl heißt der Dokter Schorsch; beim ersten Mal hielt ich es für einen Vergeßtipper.

Ja, und jetzt erinnere ich mich auch an den Titel «Kasperl oder Genie». Vor einigen Wochen sah ich auf BR alpha ein Gespräch mit ihm, aus dem mir hervorzugehen schien, daß er sich zumindest fürs Dasein als Künstler entschieden hat. Was dabei herauskommt, weiß man nie, jedenfalls nicht als ernstzunehmender, also nicht unentwegt und ausnahmslos an Hitlisten denkender Artist. Buntes und agiles Biotop, so sehe ich das auch. – wohltuend am Rand dieses ganzen monokulturellen Getöses.


seemuse   (18.12.10, 11:24)   (link)  
heinrich walcher
machte aus der not eine tugend, oder sich einfach einen jux und packte Brisantes in ein schlagernaives tonkleidchen mit vordergründig kindlichnaiven text....aber "gummizwerg" hatte es insich. zuerst schaffte es das lied - weil ja so lieb - sofort in die charts und dann....öha!!was ist d a s denn für ein text!?!....verschwand es genausoschnell wieder daraus. wie übrigens die gesamte "austropopp-szene" ausm öffentlichrechtlichen radio.

http://de.wikipedia.org/wiki/%C3%96sterreichische_Liedermacher


jean stubenzweig   (18.12.10, 21:03)   (link)  
Fideles Austria
Nun ja, als das (für mein Gehör) losging so Anfang der Siebziger mit dem Austriaken-Gesang, war ich ich schon genervt. Aber vermutlich lag's am einzigen Sänger, der den Ober-Greiner-Chor bildete in der Kneipe, die ich des öfteren aufsuchte und die nur Vorläufer gehöriger Umweltverschmutzungen (von denen mir das «fröhliche» Schnucki heute noch die Ohren schmerzt, wohl, weil es eine Zeitlang offenbar nicht anderes zu spielen gab im Radio = Kneipe) zu kennen meinte, worauf ich mich diesem Glauben unterworfen sah. Ich fühlte mich eher anderen Österreichern = Wienern (Aktionisten) zugeneigt. Später sollte ich dann allerdings herausfinden, daß es in felix Austria noch andere singende Menschen zu geben schien. Fortan begann ich mich durchaus zu amüsieren – wenn auch nie über den Heller André, der mir immer zu artifiziell daherkam. Aber anderen habe ich immer wieder ganz gerne zugehört, vor allem den revoluzzerisch trällernden. Den Namen Heinrich Walcher aber, das muß ich gestehen, lese ich im Zusammenhang mit lästerlichen Liedern zu ersten Mal. – Ach, das Internet – eine sich minütlich erweiternde Encyclopédie, ou dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers, par une société de gens de lettres.


sethos   (18.12.10, 18:20)   (link)  
Von Ougenweide und Elster Silberflug aus haben diese alten Lieder schon längst wieder eine ganze eigene Szene heranreifen lassen: Mittelaltermusik von authentisch bis richtig heavy abgemischt.

Die alte Vagantenlyrik ist auch jenseits irgendwelcher rückwärts gewandter Studenten quietschlebendig. Ich kann die Vagantenbeichte gleich nach drei verschiedenen Melodien vor mich hinsummen, während ich so meinen verschiedenen Tätigkeiten nachgehe...


jean stubenzweig   (18.12.10, 19:01)   (link)  
Das überrascht mich nicht.
Ich habe auch nichts dagegen einzuwenden, wenn es auch nicht die Weisen sind, die ich summe oder trällere. Aber zu dieser Zeit waren es eindeutige Ankündigungen der Agonie einer (wenn auch ohnehin kurzen) Epoche.















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