Grenzüberschreitung

Ich halte zweihundert Meter nach dem Grenzübertritt an. Direkt an der ersten Rechtsbiegung liegt links eine kleine Bäckerei mit Café. Dort nehme ich immer meinen ersten französischen. Er schmeckt zwar nicht wie solcher, sondern eher wie gefilterte deutsche Kaufhausmusik. Aber man hat sich eben angepaßt. Und ich mich auch. Und ich — oui, cher Léo Ferré, ich paraphrasiere Beethoven und dich gewalttätig, ... es muß sein! — fühle mich verpflichtet, als den ersten Schritt ins Land immer den der Konsumtion zu beschreiten. Hier ging sie schließlich los, die Einführung ins Paradies Kaufrausch. In die andere Richtung fahre ich in der Regel, soweit die Liter reichen. Aber ich bin nunmal offenbar der größte Patriot, den dieses Land jemals hatte. Vermutlich will man mir deshalb die dreifarbige Rosette so schnell verpassen. Wenn’s denn überhaupt stimmt. Oder, denke ich — in Blickrichtung meiner bezaubernden Gattin — mal so: Wenn sie mir die Einbürgerung mittlerweile nicht bereits wieder entzogen haben wegen Mißachtung der staatsbürgerlichen Pflicht der Paßabholung. Es ist ja wohl auch noch nicht geklärt. Weiß man’s? Hütern öffentlicher Aufgaben ist solches grundsätzlich zuzutrauen. In jedem Land. Wir finden sofort einen Parkplatz. Eine halbe Stunde früher hätte es ungünstiger ausgesehen. Denn da wuselt in Frankreich nunmal alles herum, um das Baguette zum Mittagessen zu kaufen. Und auch, wenn nur ein paar Meter rückwärts im pfälzischen Wirtshaus die Leute vor ihren putzeimergroßen Biergläsern sitzen und zum Schwartemagen Roggenkörner vertilgen — hier ißt man bereits das wunderbare Stangenweißbrot, das es dreimal täglich frisch gibt. Es geht mir wie immer — ich atme durch. Was eine solche politische Grenze dann letztlich doch an physischer Befreiung zu verursachen vermag. Ich lehne meinen glücklichen Kopf an die zarte Schulter neben mir. Sie kommt mir augenblicklich entgegen und erweitert sich zu einer sanften Halsbeuge.

Sie hüpft lachend aus der Ente, die jetzt wieder Döschwoh heißen darf. Sie springt hinüber ins Café. Ich schließe ab. Aus Gewohnheit. Auch wenn es an diesem Fahrzeug eigentlich nichts abzuschließen gibt. Der Vermietleiher öffnet es mit dem Fingernagel. Zweihundert Meter weiter nach hinten wird man dennoch bestraft, wenn man nicht abschließt. Noch ein paar Stunden, und ich werde es mir ebenso wieder abgewöhnt haben wie die andauernde Blinkerei beim Spurwechsel. Obwohl sich auch hierbei bereits der preußische Einfluß in Europa bemerkbar macht. Wie beim TÜV. Auch wenn er hier nicht «Technischer Überwachungs Verein» heißt, sondern weitaus eleganter Contrôle technique, so ist es doch dieselbe Tortur für Fahrzeug wie Besitzer. Auf diese Weise hat Frankreich etwa seit 1995 in erheblichem Maße den Verkauf von Neuwagen vorangetrieben. Die offizielle Begründung war die Herstellung der Sicherheit im Straßenverkehr. Jeder konnte seine verrottete, einstig fahrfähige Laube in der Tasche zum Händler tragen und hat, je nach Qualität der den Rost zusammenhaltenden Schrauben, einige hundert bis zu einigen tausend Francs dafür bekommen. Mit dem allerdings unerfreulichen Ergebnis, daß sehr viele Franzosen auf Golf und Mercedes umgestiegen sind. Auf der Îl de Ré habe ich den ersten Mercedes 500 mit Dieselmotor gesehen. Hier wird, wenn es irgend geht, Gazole gefahren. Es ist immer noch weitaus günstiger. Wie lange noch? Und seit Jahren beginnt auch dieser Begriff sich auf die Preistafeln der Tankstellen zurückzuziehen. Auf den Plätzen der Gebrauchtwagenhändler steht alles voll mit den Schildern auf den Autos — Diesel. Was soll’s. Der 2 CV aus Regensburg und bald aus Marseille fährt ohnehin Super. Sans plomp. Das hat schon so manchen Zeitgenossen in den Unglauben gestoßen. Und keiner dieser vom Glauben Abfallenden denkt daran, daß Aral in den sechziger Jahren mit der Bezeichnung bleifrei geworben hat. Auch nicht die Älteren. Sie lassen sich gerne den aber auch wirklich allerältesten Hut als neueste Kreation verkaufen. Ich trotte in Richtung meiner bereits im Café sitzenden Geliebten. Vorsichtshalber nehme ich das feine rucksäckige Lederstück mit. Es könnte ja einer vorbeikommen, der weiß, daß man in Frankreich für einen 2 CV nicht einmal eine Nagelfeile benötigte. Außerdem ist das Portable darin. Und das wurde jetzt benötigt. Dem alten Leben mußte abtelephoniert werden.

Bonjour, grüße ich landsmännisch klar.

Bonjour Monsieur, lautet freundlich die Entgegnung.

Ich fühle mich geschmeichelt, in meiner Mutter Sprache angesprochen zu werden. Also unterlasse ich es tunlichst, irgendetwas zu antworten. Ich will mich nicht sofort als unkultivierter, unter Einfluß der Bocherie Aufgewachsener zu erkennen geben. Denn nun bin ich, darf ich sein. Ich bin endlich angekommen auf der anderen Seite der Grenze.


Hier fuhren Nebenstreckenliebhaber früher mit dem Automobil durch.
 
Sa, 24.12.2011 |  link | (2772) | 6 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Unterwegs


einemaria   (25.12.11, 02:14)   (link)  
Bei Ihrer Ente scheint ja kein Ersatzteil ausgewechselt worden zu sein.


jean stubenzweig   (25.12.11, 12:27)   (link)  
Noch nicht einmal
dreißig ist die schließlich, während man mir bereits vor Jahrzehnten ein H-Zeichen in die Stirn gebrannt hat. Mich halten mittlerweile Metallteile zusammen oder, je nach Perspektive, ingang, während die Ente auch in hundert Jahren nicht auf die Idee käme, sich mittels tierischen Teilen klapperfrei zu halten. Erst dann, wenn sie anfängt, keinerlei Nebentöne mehr abzugeben, denke ich darüber nach, mit ihr zum Tierarzt zu gehen.


terra40   (25.12.11, 18:38)   (link)  
Entenlob
So ist es: kein schlechtes Wort ueber die Ente! In meiner Studentenzeit bin ich einmal in meiner milchweissen Ente (2CV4) mit siebzig gegen die niedergelassenen Schlagbaeume des Grenzuebergangs gefahren. (Meine Gedanken waren wohl weit weg.)Der Schlagbaum schoss ueber die Motorhaube gegen die Frontscheibe und dann uebers leinen Dach nach hinten. Vieles war dahin und mein Gesicht voller Glasscherben. Aber die Ente lief noch und brachte mich sicher nach Hause. So dass ich jetzt diesen Bericht schreiben kann.
Gruss, T.


jean stubenzweig   (26.12.11, 12:59)   (link)  
Ein schlechtes Wort
über die Ente? Von mir? Ich werde noch ein Verfechter der Philosophie der zwei Pferde sein, wenn sie im Mutterland allesamt (aus)geschlachtet und als hochpolierte Denkmale dessen, was von Deutschlands oder der Niederlande et cetera so gerne besserverdienenden oder auch intellektuellen Berufstöchtern und -söhnen unter savoir vivre verstanden wird, exportiert sein werden. Meine Liebe zu diesem Getier, das übrigens über den Umweg der fünfziger und sechziger Jahre zu seinem deutschen Namen gekommen sein dürfte: Das häßliche Entlein. Den dynamischen Motorjournalisten war keine bessere Spöttel-Metapher eingefallen und sahen sich gezwungen, eine Anleihe bei Hans Christian Andersen zu nehmen, eine, die lieb und nett via Märchen nach unten nivelliert. Hätte es Mitte der neunziger Jahre die französische Abwrackprämie, die also nicht von der Uckermärkerin erfunden wurde, nicht gegeben, sie wäre tot, die Ente. Aber sie lebt, allem voran als Exportartikel nach Deutschland. Ein paar unentwegte Einheimische haben sich aufs Trittbrett geschwungen, fahren sie mittlerweile gar selbst, wenn auch eher seltener, als Hochglanzprodukt, lieber verkaufen sie sie teuer in die Nachbarschaft.

Seit zwanzig Jahren bin ich mit dem Autochen in den Süden unterwegs, anfangs noch mit dem der Gefährtin. Um 1995 wollte ich wegen Überfüllung der Straßen überhaupt nicht mehr Autofahren. Da ich jedoch nicht ganz auf die Beweglichkeit verzichten wollte und konnte, da ich viel in abgelegenen Gebieten unterwegs war (viele Künstler haben Sitz auf dem Land), stieg ich um vom leicht sperrigen Zuffenhausener auf 2CV — und bin dann doch wieder viel gefahren, wenn auch mit viel Zeit und überwiegend auf Landstraßen, habe seither auch privat vor allem Südeuropa damit bereist und schöne und auch komische Erlebnisse damit gehabt (ein bißchen was ist in Entenausflüge nachzulesen). Meine jetzige, die ich seit etwa zwölf Jahre fahre (Baujahr 1985), hat mich nie im Stich gelassen. Alle zwei Jahre technische Untersuchung, das war's. Halt, kürzlich hat sie einen neuen Auspuff bekommen. Den ersten nach Übernahme. Ich mache daran nichts, das könnte und wollte ich gar nicht. Die wird nichtmal gewaschen. Da glänzt und glitzert nichts. Ihre Zierde sind ihre Beulen. Ich belasse sie bei ihrer (französischen) Bestimmung: Nutzfahrzeug zum Transportieren von Eiern, Kartoffeln und Wein. Für Bauern vom Bauern zum Bauern. Und wenn mal was sein sollte, dann kommt mein Automobilgeriatrist. Der ist ein Autobauer. Der dreht zur Not auch seine lockeren beziehungsweise kaputten Schrauben selber.

Also, es besteht kein Anlaß für schlechte Worte. Im Gegenteil: nur Entenlob. Und nichts anderes war die obige Randbemerkung, die sich zudem ein wenig ironisch auf die eigenartige Selbstgenügsamkeit bezog. Alles riceiceld, alles echt oder, wie es heutzutage heißt, authentisch. Kein fremdes, artuntypisches Material darin, wie mittlerweile in mir solches aus Metall und Kunststoff.

Hier die einstige Liebeslaube der anfänglichen neunziger Jahre (erzählt in Entenausflüge), am Rand des Flughafens Fuhlsbüttel, von dem aus sie zu den Kanarischen Inseln abhob, wo sie heute noch friedlich als Weintransporteuse lebt. In Deutschlands Süden war es ihr immer zu kalt, weshalb sie sich ungern in Betriebstemperatur versetzte. Meine hingegen springt immer sofort an. Allerdings hat sie im Norden auch einen Unterstand. Im Süden braucht sie keinen. Und Salz liegt dort nicht auf den Straßen, sondern allenfalls auf den Tellern.


charon   (27.12.11, 02:23)   (link)  
Mittlerweile, zum eigenen größten Bedauern, ein seltener Gast, bin ich geradezu gerührt etwas über die Grenze zu lesen, die ich mit gutem Gewissen auch als "meine" Grenze bezeichnen möchte. Doch ist mir weniger die Grenze denn die Grenzüberschreitung in beide Richtungen ans Herz gewachsen.

Die einen ließen sich, beginnend wohl vor vierzig, vielleicht sogar knapp fünfzig Jahren, empor ziehen und speisten à la carte in der Poêle d´Or, um von dort nach bestandener Lehrzeit nach Illhäusern weiter zu pilgern. -- Ist es nicht eigentümlich europäisch, dass Häberlin in Deutschland eine wahrscheinlich sehr viel größere Anhängerschaft hat als im Frankenreich? Immerhin hat er uns das Essen beigebracht -- Die anderen aßen "beim Gilbert" ihre ersten Schnecken Froschschenkel und anderes Kriechzeug, bestaunten die Patisserien, die Käse- und die Austerntheke im Supermarché (und fragten sich, ob man die Schale mitessen könne) oder kauften auch einfach nur en gros beim Tabac Fetsch (zu meinen aktiven Zeiten drei Franken die Schachtel). Liebe geht durchaus durch den Magen und auf die Lunge.

Umgekehrt schaffte man beim Daimler und fuhr irgendwann auch einmal einen solchen, kaufte Elektronik, schweres Werkzeug à la Bosch beim Boche wie auch Dachziegel (damals noch durchgängig rot) fürs Eigenheim. Die Grenzbeamten auf beiden Seiten drückten die Augen zu -- der Franzose ließ den Fahrer mit dem Austauschmotor im Kofferraum passieren und verzichtete auf Erhebung der Luxussteuer und der Deutsche winkte die fahrenden Rotweinfahnen anstandslos durch, nicht selten, weil auch er sich später noch ein Viertele, gerne auch sechs in die Kanne gießen würde.

Heute, ich war zuletzt vor einem halben Jahr dort, begrüßen Aldi, Kik, Lidl und Netto als Wahrzeichen deutscher Austerität den Fremden, der ja eigentlich schon immer unser gewesen war, auf der anderen Seite ist Super zum Hyper mutiert und hat sich nebenan noch ein Match gesellt. Der Tabac hat auf Nippes umgestellt -- aus reiner Nostalgie kaufte ich mir diesen Sommer eine Stange für 60 Euro und war wohl der einzige aus dem Stamm der Sparsamen, der es fertig gebracht hat, eine Ware zu importieren, die er zu Hause deutlich günstiger hätte erstehen können -- und der Charme des alten Drecksloches Lauterbourg ist einer Unser-Dorf-soll-schöner-werden-Ästhetik gewichen. Die nicht ganz so schöne Siedlung für die Schwarzfüße und andere Kinder Afrikas wurde bei der Renovierung leider vergessen.

Doch, o tempora, o mores! Die linksrheinische autoroute 35 wurde bis nach Lauterbourg fertig gestellt, weiter nördlich hingegen verzichtete man aus Gründen des Umweltschutzes auf den vertraglich zugesicherten Weiterbau.

Doch eines, lieber Stubenzweig, muß ich kritisieren: Zeigen Sie mir den Pfälzer, also einen echten, mein' ich, der Roggenbrot frißt und literweise Bier aus großen Humpen trinkt. Das ist etwas für Pferde und muß von Norddeutschen (ausnahmsweise nicht Bayern) eingeführt worden sein. Weck und Schoppe Schorle und die anderen Schweinereien, wenn schon.


jean stubenzweig   (27.12.11, 16:27)   (link)  
Schimpfen Sie mit mir,
sie haben ja recht. Als jemand, der sich immer gerne in der (Süd-)Pfalz aufgehalten hat und der auch die Lebensgefühle der Einheimischen aufgrund (s)eines außergewöhnlichen Guide durch Gaststätten und andere Institutionen des Wohlbedarfs einigermaßen kennen sollte, stellte es eine Unverschämtheit dar, ihnen Roggenbrot und putzeimerweise Bier unterzufüttern. Ich habe auch immer Weck und Schoppe Schorle hingestellt bekommen. Ich bitte also die lieben Pälzer um Vergebbung.

Aber dieses Lauterburg beziehungsweise sein Wirtshaus, in das hineinzugehen ich einmal gezwungen war, das assoziierte Roggen und Humpen. Vielleicht saßen ja von der Autobahngrenze abgekommene Reisende zur Costa Blanca darin. Auf jeden Fall bin ich grenzüberschreitend nach Lauterbourg geflüchtet. Dort habe ich dann, trotz höherer Preise (inclusive Kraftfahrzeugsteuer!), auch immer Super Sans Plomp getankt und manchmal auch Kleinigkeiten gekauft, die ein paar Kilometer weiter um ein Drittel weniger kosteten. Aber es war eben meine Art, Verbundenheit dem Ort gegenüber zu zeigen, der mich auf jeder Fahrt nach unten zum ersten Mal durchatmen ließ. Immer war alles vollgeparkt mit Autos, die deutsche Kennzeichen trugen. Deren Fahrer und Beifahrer sind vielleicht die, die ein bißchen von Häberlin gehört und gelesen haben und von daher ahnten, wie gut Essen einem tun kann. Gekauft haben sie überwiegend Konserven, die selbst im Supermarché von um einiges höherer Qualität waren. Den meisten dürfte es aber vorwiegend aufs Preiswerte angekommen sein; das sind auch Kriterien für das Preis-Leistungs-Verhältnis. Denn sie fuhren auch ihre mittelklassigen Mercedesse in die grenzregionale französische Werkstatt, weil die um einiges kostengünstiger, ach was, billiger war als die deutsche. Die großvolumigeren, häufig mit Stuttgarter oder Baden-Badener Kennzeichen, standen bei Haeberlin vor der Tür. Aber wahrscheinlich haben auch die die mehrgängigen Geschäftsessen genutzt, um ihre Voitures warten zu lassen. Die entstandenen Restaurationskosten mußten ja wieder ausgeglichen werden. In der von mir aus beruflichen Gründen des öfteren besuchten Kantine des Südwestfunks habe ich oftmals Elsässer getroffen. Sie sind aber nicht alleine wegen der zweifellos guten, den Anforderungen der Region geschmacklich angepaßten Küche mittags rübergemacht, sondern weil in ihren von Deutschen niedergesoffenen Dörfern zwischen Barr und Colmar die Preise ins nicht mehr Bezahlbare gestiegen waren. Vielleicht aber auch, weil sie vor diesen hugenottisch anmutenden, innen aber immer noch katholisch-adlig völlenden Tempeln wider die Ärmerenspeisung keinen Parkplatz gefunden haben.

Ich war lange nicht mehr dort. Nach France reiste ich immer landstraßig über Lauterburg/Lauterbourg ein, wenn ich von München aus fuhr. Seit ich vom Bayerischen ins Holsteinische übergesiedelt war, nahm ich meistens das Flugzeug in mein Zuhause in den Süden. Zwischenzeitlich ging das sogar direkt von Lübeck-Blankensee aus nach Marseille. Als dem irischen Billigluftheimer nach einem guten Jahr die Subvention zu wenig, der Profit zu gering geworden war, stellte er die Linie wieder ein. Nun muß ich wieder via Hamburg und Nizza. Mit dem irrischen Subventionspiraten über Pisa luftzuhüpfen und dann mit der Bahn weiterzufahren, ist mir auch keine Erleichterung, ab Nice reicht mir schon. Wie auch immer, Lauterburg/Lauterbourg liegt eben nicht mehr auf Linie. Nun ja, das Stadttörchen, durch das man hindurchfahren konnte beziehungsweise in dem man von einem freundlichen Douanier begutachtet und manchmal des Passeport wegen angehalten wurde, was zu Grenzgedanken führen konnte, hat man bereits Anfang der Neunziger verbarrikadiert. Dann fuhr man eben ein paar Meter weiter am Zollhäuschen vorbei, in das später verkäufliche Blümchen einzogen, wie in der stillgelegten Tankstelle: statt Pizza. Hin und wieder sah ich leicht versteckt deutsche Grenzer, später in Bundespolizisten umbenannt, in einem VW-Bus sitzen und Frauchens Filterkaffee aus der Thermoskanne trinkend. Französische waren weit und breit keine zu sehen. Die saßen wahrscheinlich alle in Port Bou und sicherten gen Katalonien und diesen Benjamin-Geist ab, der illegal zurückeinwandern könnte; die Spanier machten vermutlich Dauersiesta.

Mir waren kleine Grenzübergänge immer sympathischer. Lauterburg/Lauterbourg war einer davon. Selten wurde man länger aufgehalten als an großen, wie es quasi nebenan ja, von Ihnen erwähnt, auch einen, gab und gibt. Aber die Anfänge der Unser-Dorf-soll-schöner-werden-Ästhetik habe ich noch mitbekommen. Wobei ich erhebliche Zweifel daran habe, daß es die Einheimischen sind, die alleine dafür Schuld tragen, denn, bei aller Sympathie für das Deutsche, ein wenig französischer sind sie mittlerweile dann doch, wenn sie auch so gerne Straßen fegen wie die schwäbischen Nachbarn, aber dieses sich ständige Herausputzen und überall Geranien vor den lieblichen Fensterchen, das sind Avancen an den rollenden Fremdenverkehrsrubel. Dieses gesamte Elsaß, aus dem ich mütterlicherseits auch noch stamme — was ich aber erst später erfahren habe, weil meine Mutter allenfalls eine Lorraine sein wollte und deshalb Saverne einfach nach Lothringen verlegt hatte, aber sie war schließlich rasch nach Metz übergesiedelt —, diese Alsace ist derart deutschtouristisch verkommen, daß es mich gruselt und ich immer nur schnell durchwill. In Richtung Süden beginnt für mich Frankreich ab Belfort. Hin und wieder bin ich auch westlich der Voges gefahren, um dieses deutsche Elend nicht sehen zu müssen, dieses Fachwerkdenken, diese kleinfränkische Rotenburg ob der Tauber-Mentalität, die sie letztlich dann doch irgendwie zu führen scheint — die Elsässer (die Schwarzfüße von ihrer politischen Dunkelfärbung her möglicherweise noch ein bißchen weniger mögen als die Restfranzosen; ach was, niemand mag dreckige Füße).

Aber die Palz, die erhalt's! Da ist es tatsächlich gemütlich. Das bilde ich mir jedenfalls ein. Wahrscheinlich, weil ich diese geballten und überall immergleichen Seligkeitsorte des Fremdenverkehrs vermeide. Das ist dann meine Art, Kitschier zu sein. Ich umfahre einfach den Begriff Scheiße. Da muß ich wieder mal an diese Kundera-Passage erinnern:
Wurde noch vor kurzer Zeit das Wort Scheiße in Büchern durch Pünktchen ersetzt, so geschah das nicht aus moralischen Gründen. Sie wollen doch nicht etwa behaupten, Scheiße sei unmoralisch! Die Mißbilligung der Scheiße ist metaphysischer Natur. Der Moment der Defäkation ist der tägliche Beweis für die Unannehmbarkeit der Schöpfung. Entweder oder: entweder ist die Scheiße annehmbar (dann schließen Sie sich also nicht auf der Toilette ein!) oder aber wir sind als unannehmbare Wesen geschaffen worden.

Daraus geht hervor, daß das ästhetische Ideal des kategorischen Einverständnisses mit dem Sein eine Welt ist, in der die Scheiße verneint wird und alle so tun, als existierte sie nicht. Dieses ästhetische Ideal heißt Kitsch.»
Womit ich wieder zurück bei Muß es sein? beziehungsweise meiner Besinnungsfindung wäre.















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