Krieg der Welten. Nationale Sozialisation.

Ich bin, wie sicherlich viele andere auch, gewissermaßen abgestumpft. Es mag daran liegen, daß ich zu den ewigen Langsamdenkern gehöre, für die in einer sich immerfort modernisierenden Gesellschaft kaum Platz ist. Zwar bin ich immer irgendwie bemüht, die Ereignisse dieser Welt zu vertiefen und auf diese Weise differenziert zu betrachten, indem ich möglichst viele Einzelheiten heranziehe, die über die Oberflächlichkeit, bisweilen auch vorgefilterte Berichterstattung hinausgeht. Aber oftmals scheine ich angesichts der Masse der Vorkommnisse zu scheitern. So geschieht es immer öfter, daß ich mich in meiner zusehends verhärtenden Unbeweglichkeit und wohl auch altersbedingt auf Sicherheit bedacht auf das konzentriere, von dem ich meine, ohnehin etwas mehr davon zu ahnen. Daraus mag dann eben manchmal kalter Kaffee entstehen.

Aus diesem meinem Zustand des Sedierten herausgerissen hat mich allerdings das Ereignis in Norwegen. Es geschah ebenfalls mit der mir obligaten Verzögerung, aber anders gewichtend als bei der Ungeheuerlichkeit dieses 11. Septembers vor elf Jahren, als ich nach einem lebensrichtungsverändernden Ereignis in einer lang, bis heute anhaltenden Phase der Rekonvaleszenz gemütlich im Lehnstuhl sitzend am Bildschirm zuschaute, wie ein Flugzeug in einen Wolkenkratzer raste und darin explodierte. Ich war sicher, hier müßte es sich um eines dieser fiktiven Realitätsvor- oder Nachstellungen handeln, mit denen wohl Orson Welles in Krieg der Welten 1938 angefangen hatte und die mittlerweile als beliebtes dramaturgisches Mittel nicht nur bei Privatfernsehsendern Konjunktur zu haben scheinen. Auch nachdem ich es ein fünfzehntes oder neununddreißigstes oder hundertstes Mal gesehen hatte, war ich mir nicht sicher, ob hier nicht doch ein paar ganz gewiefte Programmgestalter an der Schraube zur Einschaltquote gedreht hätten. Mittlerweile scheine ich tatsächlich an der Station angelangt zu sein, die Nonfiktionalität anzuerkennen. Beim Vorkommnis in Oslo und der niedlichen Fjordinsel vor einem dreiviertel Jahr hielt meine Begriffsstutzigkeit nicht so lange an. Vielleicht liegt es daran, daß meine Synapsen noch immer ein wenig von einst skandinavischen Heimatgefühlen durchpulst werden und ich nach meinen wenigen Besuchen im Nordwesten dem Völkchen so etwas wie familiar bestimmte Sympathie entgegenbringe, die in einer kulturellen Eigenständigkeit wurzeln könnte, die möglicherweise nur noch Randerscheinungen der großen Welt zu erbringen in der Lage sind. Andererseits mag es sein, daß ich ein aus grundsätzlicher Opposition heraus arg schlichter Befürworter von Minderheiten bin. Ich drücke den Färöer-Inseln sogar beim Fußballspiel gegen Les Bleus die Daumen, obwohl Frankreich meines Wissens nie versucht hat, diese paar Eilande zu kolonialisieren.

Sozusagen nachhaltig erschüttert bin ich von der Tatsache, daß da ein einzelner einfach mal eben fast hundert Menschen dahinraffen kann, ohne daß die Polizei eingreift. In Frankreich wäre das nicht passiert, vermutlich noch weniger in Deutschland, jedenfalls nicht mehr nach dem Anschlag während der olympischen Spiele in München, als die Sicherheitshüter noch wirrer durcheinanderrannten als die vor einem knappen Jahr auf Utøya. Aber das ist wohl das Opfer, den die vom Frieden Bewegten zu erbringen haben. Und selbst wenn das norwegische Parlament reagiert hätte wie vermutlich das deutsche mit einer erheblichen Verschärfung der Gesetze, die Sicherheit wäre dadurch kaum erhöht worden. Wer wäre wirklich in der Lage, die auf diese Weise zu garantieren? Der Wirklichkeit des Wahnsinns, ob nun genetisch bedingt oder durch Sozialisation, ist nicht beizukommen. Man bleibt also friedlich bedacht da oben am nordwestlichen Rand des Weltgeschehens.

In dessen alter, europäischer Mitte bewegt das Sicherheitsbestreben weitaus weniger. Selbst ein erhöhter Glaube an die Macht des Staates, der Staat selbst ist nicht in der Lage, Morde zu verhindern, obwohl er das eigentlich können müßte. 1972, so wurde mir kürzlich öffentlich-rechtlich zugetragen, saß eine Eingreiftruppe auf gepackten Gewehr- und wahrscheinlich auch Granatenkoffern, um den palästinensischen Attentätern Einhalt zu gebieten. Sie kam nicht zum Zug, da deren Existenz ein Geheimnis bleiben sollte. Denn er war für beziehungsweise von einem geheimen deutschen Dienst geschaffen worden, um im Angriffsfall durch die Russen diese quasi hinterrücks niederzukämpfen. Nun gut, das war kalter Krieg. Heute ist das kalter Kaffee. Aber ist es das auch angesichts eines heutigen Verfassungsschutzes und wer weiß wie vielen schnellen Arbeits- oder Einsatzgruppen, die nicht in der Lage sind, eine Ansammlung von Verbrechern daran zu hindern, andere Menschen umzubringen und weiterhin menschenverachtende Botschaften via Konzertveranstaltungen und ähnlichem zu verbreiten?

Mir erscheint das als eine gegenteilige nationale Sozialisation. In Norwegen übersieht man, soweit meine Informationen dazu ausreichen, keineswegs die Problematik, die durch völlig irrwegig zusammengeschusterte historische Details zustandekommen können, gebündelt zu einem hochexplosiven Paket. Dennoch bleibt man gelassen, man setzt auf eine weitere, verbesserte Demokratisierung. Daran ändert auch nichts ein Laienrichter, der sich als ein nicht minder Verblendeter, letztendlich genauso als Radikaliist erweist. Der Rechtsstaat reicht dem Angeklagten zur Eröffnung der Schlacht die Hand und erteilt einem Platzverweis, der wie der vor Gericht Stehende zum Mord aufruft. Ich bezweifle, daß in Deutschland ein solcher Vorgang in ein paar Minuten abgewickelt worden wäre, auch, daß innerhalb eines so relativ kurzen Zeitraumes dieser Prozeß zustandegekommen wäre. Weit über zehn Jahre liegt es zurück, daß eine sich offenbar nach einer einst überaus volksbeliebten Motorradmarke nennenden Gruppierung angefangen hat zu morden. Deren Anfänge reichen noch weiter zurück, meines Erachtens nicht nur in die neunziger Jahre, sondern sie dürfte viel tiefer in einer Mentalität wurzeln, die bei weitem nicht alleine bei den Ossis zu suchen ist. Dennoch wird man nicht fündig.

Ich mag nicht teilnehmen an einer deutschen Diskussion darüber, ob einem Breivik ein Portal für sein irres Weltbild geboten, ihm zugehört werden soll. Es existiert längst, auch im besten Deutschland aller Zeiten hat es seine Rénaissance erfahren. Aber machen wir's doch wie bei Radio Hirn will Arbeit. Dort, in der der wertfreiheitlichen Aufklärung verpflichteten öffentlich-rechtlichen Anstalt mit auffälliger Portalöffnung für diesen EINEN lassen sie einfach einen im Knast missionierenden Priester sprechen, der da in aufgekratzer Sanftmut meinen darf: Der Herr wird's schon richten, in etwa: ER wird alle (re-)sozialisieren und integrieren. Lasset uns glauben. Ob buddhistisch, christlich, jüdisch, muslimisch oder wie dieser angeklagte national-norwegische Kämpfer mit seiner Anti-Global-Ismus-Religion. Das rettet die Welt. Friede sei mit ihr.
 
Di, 17.04.2012 |  link | (1131) | 0 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Gesellschaftsspiele















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