Ein gastronomisches Erlebnis

mag solch ein Pomp and Circumstances für manche durchaus sein, dieses höher, am höchsten. Daß es dabei überwiegend um die höchsten Gewinne der jener Wirte geht, die keine dieser Schmarotzer mehr zuzulassen gewillt sind, die sich stundenlang an einem ärmlichen Glas Bier oder an einer Tasse Kaffee festklammern, scheint immer weniger Menschen zu berühren. Das Volk wünscht zusehends Zirkusartistik der gehobenen Art. Selbst in der Masse wollen sich diese geistigen Lieschens und Fritzchens ihre Sonderheit belegt wissen. «Normale» Volksversammlungen ließen sich in den geschichtlichen Blickpunkt rücken, etwa Dorffeste wie Kirmes oder ursprünglich Kermesse, während der das fröhliche Gemeinwohl im Vordergrund stand, bei dem nebenbei auch mit Stahlkugeln auf zuvor ausgetrunkene Flaschen geworfen werden durfte. Doch solche dürftigen Festivitäten haben offenbar endgültig ausgedient. Es möge das besondere Spectaculum sein, wie etwa in speziellen, nur durch Reservierung besetzbaren Zelten auf der Wiesn. Es muß der vielzitierte Sozialneid sein, der mir aus meinem überhitzten Gehirn auf die Tastatur tropft.

Mir fallen beispielsweise die Weißen Feste in Paris ein. Damit meine ich weniger eine Nachbildung der legendären Faschingsveranstaltungen in München als vielmehr ein auch bekleidungstechnisch uniformer Ausweis der Besserverdienenden oder solcher, die's gerne wären, also diejenigen, die samt ihrem UMP-Oberkaspar gerade eine ordentliche Abfuhr erteilt bekommen haben im Land, dessen Jeunesse sich seit Jahren, Jahrzehnten immer wieder auf der Place de la Concorde, der Terrasse des Palais de Chaillot oder dem Innenhof des einst höfischen Louvre und zum zwanzigsten Jahrestag entlang der Champs-Élysées zusammensetzt, der einst von großbürgerlicher Eleganz geprägten und vermutlich mittlerweile größten und damit ärgsten Tourismusmeile Europas, oder zuletzt auf der Place des Voges. Sie hat die Grenzen des Bois de Boulogne überschritten und ist, vermutlich im schwarzen BMW-Cabriolet, mittlerweile bis Berlin und gar nach Osnabrück gelangt. Dort machen sie sich holzbänkisch veredelt breit, um auf ihren besonderen Geschmack nicht nur in Speis und Trank hinzuweisen, weiter östlich von Versailles vermutlich bei Currywurst. Ich nehme an, daß diese ungewöhnlich spontanen Verabredungen zu diesem flashigen Mob, unter dem ich Ewiggestriger, den Volkslexikalisten zustimmend, immer noch die «aufgewiegelte Volksmenge, eine Masse aus Personen des einfachen Volkes bzw. eine sich zusammenrottende Menschenmenge mit überwiegend niedrigem Bildungs- und Sozialniveau (abwertend auch gemeines Volk, Pöbel, Plebs, Gesindel, Pulk, Schar genannt)» verstehe, ausschließlich per EiPhone und/oder gleichmarkigem Pad et cetera zulässig sind, da der ausgesuchte Geschmack, mit dem diese Massenindividualität einhergeht, ausgewiesen sein möchte. In den Achtzigern habe ich ihn sogar im Zentrum Dortmunds von Paris aus heranlüfteln sehen, diesen Kraftodel der Erben. Die nachgewachsenen Schranzen hier der dortigen Hochofenbarone haben sich auf schier unglaubliche Weise multipliziert. Es existiert mittlerweile offenbar eine unerschöpfliche Masse, die zu vereinigen sich gedenkt. Zwar ist jeder zugelassen, doch das seit der europäischen, in Deutschland radikaler als anderswo umgesetzten Bildungsoffensive titels Bachelor zunehmend abnehmende Völkische möchte, sobald man sich mittendrin in der Noblesse oblige befindet, das konsequenterweise auch in meiner Bestsellerliste ganz weit oben steht, fast bis an das Phänomen anderer Verblendungen hinreichend, dann doch irgendwie auch wieder unter sich bleiben, ohne Pöbel, Plebs, Gesindel, Pulk, gemeines Volk und Schar. In einer solchen ist selbst der kleinste Zwitscherer ein Star.

Aber wirklich gemein möchte niemand mehr sein. Umgangssprachlich ist das Gemein-Sein längst zum Synonym für die kleine Böswilligkeit geraten, zur Anschuldigung aus wohl auch der verbalen Perspektive des Unterstands, hervorgegangen aus niederer Bildung. Niederwild durften zur Hochzeit des Adels nur diejenigen jagen, die sich an der untersten Stufe der blaublütigen Gemeinschaft befanden. Das Hochwild gehörte den Oberen des Standes. Das sind diejenigen, die auf den grünen Hügel, den Olymp des Gesamtkunstwerks eilen, unter ihnen einige wenige nicht so blauen Blutes, die dafür den Schal des Feuilletons am Wehen halten. Die beschreiben als chronistische Bewahrer Weg und Fortgang der Hochkultur.

«Kunst, Kultur und Schönheit eine Abfuhr erteilen!» eröffnet (Dank an die Kopfschüttlerin) der Tagespiegel sein Torte, Tip, Tingeltangel. Es sei «laut Prinzipal Holger Klotzbach, 61, das erklärte Anfangskonzept der Bar jeder Vernunft» gewesen. Ein letztes Aufbäumen der Blattkritik noch: «Aber — und jetzt grinst er — so ganz habe das dann doch nicht geklappt.» Und dann verschwindet jeder Einwand hinter nostalgischer, also verklärender Erinnerung. Man mag wohl keine (Anzeigen-)Kunden vergraulen. Es darf jedoch auch angenommen werden, daß die Redaktion diesem theatralischen Gemisch insgesamt unvoreingenommen gegenübersteht. Auch die wird schließlich immer jünger und erteilt sach- und fachgemäß nicht mehr dem eine Abfuhr, was sich einst abhob von denen da oben auf ihrem Hochsitz. Schließlich sitzt man selber obenauf.

Kultur ist nach meinem Oberlehrer Brockhaus zwar unverändert die Gesamtheit der Lebensäußerungen eines Volkes. Aber das deutsche will nunmal keinen Porsche fahrenden und auch noch gerne gut essenden Sozialisten, es will überhaupt keinen Sozialismus in der Demokratie, wie sich das bei diesen Nachbarn, die genau wie die anderen Südländer dahinfaulen, abzuzeichnen scheint. Solche Leute können nicht mit Geld umgehen, das ist sattsam bekannt. Die bibelnäheren Hugenotten, letztlich neuzeitliche Schöpfer der alles erlösenden Märkte, werden schon wissen, warum sie von dort abgehauen sind. Man will's und soll's nunmal einfach besser haben als die Alten vor den Achtundsechzigern. Die hatten schon ihre Toskana mit ihrem Wein, Spaghetti und überhaupt diesem Armenfraß. Sollen die doch zurückkehren an ihren Wirthaustisch, in den erlebnislosen Biergarten, zu ihrem Hier können Familien Kaffee kochen. Das neue, das junge Volk aber will ein mehrgängiges Menu, auf jeden Fall Champagner und Hummer, wie diese Franzosen, nur eben anders: perlenschäumenden Rebenwein von der englischen Insel und Kamtschatkakrabben. Daß Stalin die eingesetzt hat, um das arme Volk zu ernähren, macht die Angelegenheit nur pikanter. Das unterseeische Geschlibber und ihre Froschschenkel sollen die Franzmänner und deren Weiber selber schlucken. Das ist nämlich Tierquälerei.

Nun gut, nur einfach so zu essen beim Zusammensitzen, das ist ein schon langweilig. Zuhause läuft schließlich während des Abendmahls auch die (global-)europäische Alltagsästhetik der Fußballheroen mit, deren besten sich mit Tütensuppen und Kartoffelchips wohl ernähren. Ein wenig Abwechslung möchte also schon sein, sei es der Kitzel durch einen hochfliegenden Artisten ohne Trapez oder mittels ein paar im Labor gezüchteten weißen Mäuse, die man formvollendet sexy Tango tanzen gelehrt hat, bei artgerechter Haltung selbstverständlich. Die Argentinier haben es ja auch aus der Armseligkeit dieser Zeit geschafft. Die tanzen den sogar mittlerweile selber.

Ach, mir schwinden die Wortkräfte. Ich bin wohl auch zu alt für derartige geistige Ertüchtigungen. Es scheint vorteilhafter, zurückzukehren an meinen Platz im zirkusfreien Altenheim:


 
Di, 19.06.2012 |  link | (2116) | 0 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Geschmackssache















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Jean Stubenzweig motzt hier seit 5808 Tagen, seit dem Wonne-Mai 2008. Letzte Aktualisierung: 22.04.2022, 10:42



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